Zur Aktualität der Architekturtheorie
Architektur-Theorie findet heute ihre Motivation gerade darin, dass sich inzwischen eine empirische „Wissenschaft von der Architektur“ vor allem in technologischer Hinsicht etabliert hat, die sich in ihrem wissenschaftlichen Treiben ungebunden an lebensweltliche Bedeutsamkeiten und Verpflichtungen begreift. Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen historischen Prozess der Autonomisierung einer technisierten Baufachwissenschaft zu rekonstruieren. Statt dessen will ich darauf hinweisen, dass Theorie und Wissenschaft nicht schon immer zusammen gehörten, denn „Wissenschaft“ im Sinne des Verfügens über ein entsprechendes Fachwissen lässt sich sehr wohl als Einsicht, über die ein Meister verfügt, der sich auf die Dinge seines Handwerks versteht, begreifen. So lange ein „technisches Können“ lebensweltlich integriert bleibt, liegt eigentlich kein Grund vor, warum „Wissenschaft“ nicht mit der praktischen Welt des Notwendigen und Wünschenswerten verbunden bleiben könnte. Darauf zielt wohl auch Heideggers vormodernes Beispiel vom Schwarzwaldhof, das auf eine Zeit hinweist, als die Welt des Bauens und Wohnens noch „in Ordnung“ war. Erst wenn Wissenschaft und Technisierung sich in lebensweltlich abgeschottete Sektoren ausdifferenzieren, sich vom unmittelbaren situativen Anwenden und von der praxisnahen Beobachtung ihrer Folgen emanzipieren, wird Theorie benötigt, um den Übergang der unabhängig gewonnenen allgemeinen Kenntnisse und Wissensbestände in die besondere Welt des praktischen und schaffenden Lebens kritisch zu begleiten. Als Theorie bleibt sie sich selbst und ihren eigenen Ansprüchen an Redlichkeit und Wahrheitsfindung verpflichtet. Indem aber Theorie bewusst und gezielt ihrerseits zum Beispiel als methodisch kontrollierte hermeneutische Wissenschaft vom Wohnen oder von der pragmatischen Ästhetik des Ausdrucks ausgestaltet wird, nimmt sie die Form der auch das praktische Dasein leitenden Einsicht an: Sie ist Wissen der Gründe, Ursachen und Folgen der Dinge. Da sie aber zum Beispiel als Wohnwissenschaft und Ausdrucksforschung mit den Prinzipien der Architekturtheorie vertraut ist, kann sie immer über die Vermehrung und Verwertbarkeit des wissenschaftlich erzeugten Wissens hinausfragen: Welches pragmatische (Lebens-)Ziel soll dessen Anwendung fördern? Das Vermögen, entsprechende Fragen stellen und beantworten zu können, werde ich Orientierungswissen nennen.
Jürgen Mittelstraß hat zwischen einem Verfügungs- und einem Orientierungswissen unterschieden. Während ersteres das technische Können des Menschen und ebendiesen Zugriff auf unsere Welt steigert und auf immer weitere Bereiche ausdehnt, stellt das Orientierungswissen dem Menschen die dazu notwendigen Begründungen und Zielperspektiven bereit. Keine Frage: das Verfügungswissen ist am Fortschritt ausgerichtet und darin positiv; aus diesem Grund benötigt es einen Orientierungsrahmen an seiner Seite, damit die Einwirkungen auf unsere Lebensformen mit ihren pragmatischen Sinnhorizonten bedacht werden: „Es [das Verfügungswissen, A.H.] beantwortet Fragen nach dem, was wir tun können, aber nicht Fragen nach dem, was wir tun sollen. Also muss zum positiven Wissen ein handlungsorientierendes Wissen, eben das Orientierungswissen hinzutreten, das diese Aufgabe übernimmt.“7 Der zentrale Schritt ist schon gemacht, wenn wir ganz selbstverständlich dazu kommen, beide Wissensformen zu unterscheiden und deren jeweilige, weil unterschiedliche Bedeutung uns klar machen. Wissensformen liegen ja nicht in oder an den Dingen, mit denen wir umgehen, selbst vor. Vielmehr müssen wir diese Unterscheidung schon in unserer Sicht auf die Dinge praktizieren. Konsequenterweise muss also schon in unserem Umgangskönnen jene Orientierung an wünschenswerten, vernünftigen und begründbaren Zwecken und Zielen verankert sein, damit unser Tun verantwortbar ist. Orientierungen vollziehen sich praktisch als bestimmtes Orientierungskönnen im Einzelfall. Nur zu wissen, um was es je geht, reicht nicht aus. „Orientierung ist allemal etwas Konkretes, nichts Abstraktes, etwas, das man kann, das man tut, nicht etwas, das man weiß (…).“8 Dabei bleibt jedoch auch festzustellen, dass ein belehrendes Beibringen von Orientierungswissen kaum von Erfolg geprägt sein kann. Insofern Orientierungen immer Selbst-Orientierungen sind, beinhalten sie das Vermögen einer Person, ihren Aktivitäten eine Richtung zu geben.9 Es ist aber nicht wirklich möglich, jemand anderen zum Beispiel durch eine Belehrung zu orientieren. Man kann andere Menschen nicht mit Mitteln der Expertenberatung oder durch wissensbasierte Vermittlung von einschlägigen Kenntnissen so in seinem Handeln orientieren, wie man ein Kirchengebäude nach Osten ausrichtet. Jeder erwachsene Mensch muss selbst entscheiden, welchen Weg sein Leben nehmen soll, muss sich selbst orientieren. Man kann so viel Orientierungswissen in die Welt setzen, wie man will, worauf es aber allein ankommt, ist, dass die Adressaten dieses Wissens die genanten Ziele auch als ihre eigenen Zwecke setzen. Nur wer diese Orientierungen für sein Handeln auch als maßgeblich erachtet, verfügt über das entsprechende Wissen. Es ist nur dann effektiv, wenn Menschen es als für ihre Handlungsleitung anerkennen. Der Zusammenhang von Verfügungs- und Orientierungswissen präzisiert sich nun folgendermaßen: Damit ein Verfügungswissen über Richtungen tatsächlich in einer bestimmten Situation den Handelnden orientiert, muss es in die konkrete Perspektive des Orientierungssubjekts überführt sein. Architekturtheorie darf darauf hoffen, dass sie ihre Adressaten zu Einsichten führt, die sie bei ihrem Handeln richtunggebend leiten. Die „theoretische“ Frage nach der Architektur lässt sich allgemein als Frage nach dem Werden von künstlich Hergestelltem auffassen. Wie aber, so lautet am Ende meine Kernfrage, muss dieses Werden von künstlich Hergestelltem untersucht werden, damit in der Antwort auch das „Wozu“ und „Worumwillen“ dieses Werdens thematisiert ist? Denn gerade das Ansprechen von Zwecken und Zielen unseres Tuns zeichnet unsere „Orientierung im Handeln“ aus. 10
7 Jürgen Mittelstraß, Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, in: G.Kühne-Bertram, H.-U. Lessing, V. Steenblock: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, Würzburg 2003, S. 35-49, hier S. 41
8 A.a.O., S. 42
9 Vgl. Andreas Luckner, Klugheit, New York/Berlin 2005
10 Vgl. dazu ausführlich: Achim Hahn, Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen. Wien 2008