Abstracts der Vorträge
Hier finden Sie die Abstracts zu den Vorlesungen der Ringvorlesung "Mehrsprachigkeit. Chancen und Herausforderungen für Schule und Gesellschaft".
Dynamik und Komplexität in der Mehrsprachigkeitsforschung
Diese Vorlesung soll einen Einblick in neue Perspektiven der Mehrsprachigkeitsforschung liefern. Dabei geht es um Sensibilisierung für Mehrsprachigkeit in der Forschung und deren Anwendung im Kontext von mehrsprachigen Spracherwerbsmodellen und mehrsprachiger Identität. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf Prozesse und Produkte des mehrsprachigen Lernens gelegt. Im Gegensatz zu hinlänglich bekannten Spracherwerbsmodellen konzentriert sich die dynamische System- bzw. Komplexitätstheorie auf Veränderungen.
Um den Herausforderungen der neuen Formen von Diversität in Kindergarten, Schule und Gesellschaft besser begegnen zu können, sollte der Fokus nicht nur von einer monolingualen auf eine holistische mehrsprachige Perspektive gelenkt werden, sondern auch eine Sensibilisierung für Veränderungen des mehrsprachigen Subjekts und somit von multilingualer Identität erreicht werden. Das Dynamische Modell der Mehrsprachigkeit (Herdina & Jessner 2002) gilt als Pionierarbeit in dem seit kurzen diesem bereits eingeleiteten Perspektivenwechsel in der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung.
Mehrsprachigkeit und das neoliberale Sprachenregime
Ausgehend von der dieser Ringvorlesung zugrundeliegender Prämisse, dass Debatten über Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen opportunity und challenge angesiedelt sind, werde ich in meinem Beitrag herausarbeiten, inwiefern sich dies in Zeiten des Neoliberalismus bemerkbar macht. Zu diesem Zwecke werde ich, nach einer kurzen theoretischen Einführung zum Begriff des Neoliberalismus, aus kritisch soziolinguistischer Perspektive unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte skizzieren, in welchen neoliberale Sprachenregime implementiert wurden, und darauf eingehen, welche reelle und materielle Konsequenzen diese für Sprecher*innen, Lerner*innen, Lehrer*innen, Spracharbeiter*innen etc. nach sich ziehen (z.B. in Kontexten der Bildung, Arbeit/Arbeitslosigkeit, Integration, Entwicklungsarbeit). Nicht nur „Sprachen“ werden in diesem Spannungsfeld neu konfiguriert, sondern auch das Sprachenlernen, die Arbeit sowie die Akteure und ihr Selbst.
Praxisbeispiel Sprach- und Integrationsmittlung. Mehrsprachigkeit als Chance für Integrationsprozess und Arbeitsmarktintegration
Sprach- und Integrationsmittler/-innen (SprInt) sind kultursensible Dolmetschende und übernehmen eine Vermittlungsfunktion zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und den Regeldiensten. Durch fachspezifisches Dolmetschen und soziokulturelles Vermitteln überwinden sie Kommunikationsbarrieren und assistieren Fachkräften im Bildungs-, Gesundheits- und Sozial- oder Justizwesen bei der Integrationsarbeit. Sie sind somit ein wichtiger Integrationsmotor für Neuzugewanderte. Das Konzept der Sprach- und Integrationsmittlung nutzt die Mehrsprachigkeit von Migrant/-innen und qualifiziert diese zum/zur SprInt. Mit Hilfe von Fachwissen und den Methoden der Dolmetschinszenierung und Rollenbildung werden professionelle Dolmetschkräfte ausgebildet. Die SprInt-Qualifizierung und die Vermittlungsservices und SprInt-Pools bieten Migrant/-innen vom zweiten Arbeitsmarkt neue Anstellungsmöglichkeiten.
Achim Pohlmann, Geschäftsführender Vorstand der SprInt geG und Koordinator des bundesweiten SprInt-Netzwerks wird in seinem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung die Grundlagen der Sprach- und Integrationsmittlung als Praxisbeispiel für die Nutzung der Ressource individueller Mehrsprachigkeit vorstellen. Hierzu wird er die Entwicklung der Sprach- und Integrationsmittlung in Deutschland aufzeigen und die Relevanz für die Integrationslandschaft diskutieren.
Über das, was Schüler*innen wollen… - In vielen Sprachen lernen?!
Mit Blick auf die wachsende Zahl plurilingualer Schüler*innen wird man methodisch-didaktisch nicht nur danach schauen, wie Familien- und Herkunftssprachen in den Unterrichts- und Schulalltag einbezogen werden können, um die deutsche Bildungssprache zu fördern und stärken, sondern auch darüber nachdenken, wie der Unterricht in der deutschen Bildungssprache zur Grundlage werden kann, auf der die Plurilingualität der mittlerweile deutschen Schüler*innen erhalten und weiter ausgebaut werden kann. Vor dieser leitenden Frage, wie ein solcher Schritt in eine (Mehr-)Sprachigkeitsstärkung aller Schüler*innen aussehen kann, werde ich ein Konzept vorstellen, in der alle Schüler*innen stundenweise im Teamteaching neben Deutsch mit einer migrantischen Sprache unterrichtet werden. Dieses Konzept, „Koordinierte Alphabetisierung im Anfangsunterricht“ (KOALA) bzw. „Koordiniertes Lernen“ (KOLE), bedient sich der bestehenden Plurilingualität der Schüler*innen, um die Lerninhalte für mehrere Sprachen zugänglich zu machen und um die Sprachbewusstheit aller Schüler*innen zu steigern.
Über Mythen und Mehrwerte von Sprachenerwerb und Mehrsprachigkeit
Die Mehrsprachigkeitsforschung hat sich in den vergangenen Jahren von einer Bestimmung von Mehrsprachigkeit als die Muttersprachlern ähnliche Beherrschung mindestens zweier Sprachen hin zu einer dynamischeren und vielfältigeren Betrachtung des Phänomens entwickelt. Unmittelbare Bedeutung für dynamische und ökologische Modelle von Mehrsprachigkeit haben seitdem vor allem funktionale Klassifizierungen mehrsprachiger Kompetenzen in Abhängigkeit vom Lern-, Arbeits- oder Erwerbsumfeld, von den kommunikativen Zielen und von der gewählten Sprachenfolge. Damit kann die unterschiedliche Ausprägung mehrsprachlicher Kompetenzen vor allem in Abhängigkeit von der kommunikativen Absicht und Reichweite (Zweck, Ziele) und damit zum Teil auch unabhängig vom strukturellen Einfluss der Sprachen dargestellt werden. Die Dominanz einer Sprache lässt sich demzufolge funktional begründen, betrifft aber – anders als dies die früheren globalen Klassifizierungen getan haben – unter Umständen nur bestimmte Fertigkeitsbereiche, ist temporär und schließt auch Sprachenwechsel und Attritionserscheinungen ein. Der Vortrag erläutert, was unter dynamischen und ökologischen Modellen von Mehrsprachigkeit zu verstehen ist, wie Spracherwerb überhaupt zielgerichtet von statten geht, welche Rolle lingua-kulturelle Aspekte dabei spielen und wie Forschung und Unterricht ihre Konzepte von Sprache und Kommunikation und von Sprachunterricht anpassen müssen, wenn es tatsächlich um die Optimierung von Spracherwerb geht.
Mehr als sprachsensibel: mehrsprachigkeitsorientierte und sprachensensible Ansätze für den Unterricht im Kontext von Mehrsprachigkeit
In dieser Einheit befassen wir uns mit Unterrichtskonzepten und didaktischen Ansätzen, die über den Fokus auf eine Sprache hinausgehen und die Verwendung mehrerer Sprachen und Sprechweisen vorsehen. Dabei geht es um Sprachunterricht im engeren (z.B. Fremdsprachenunterricht) wie auch im weiteren Sinne („Jeder Unterricht ist auch Sprachunterricht“). Gerahmt wird die Auseinandersetzung mit pluralen Ansätzen von sprachenbezogenen Dokumenten wie dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (insbesondere Kompendium November 2017) und Dokumenten mit sprachenpolitischen Implikationen, wie der Erklärung der Menschenrechte oder den Richtlinien für inklusive Bildung (UNESCO). Folgende Konzepte werden hinsichtlich ihrer Ziele, Zielgruppen und der Auswirkungen auf die Unterrichtspraxis diskutiert: Tertiärsprachendidaktik, Interkomprehension, Eveil aux langues, interkulturelles Lernen, Translanguaging.
Wissenschaft – Wissenschaftssprache – wissenschaftliche Mehrsprachigkeit
Wissenschaftssprache ist diejenige Sprachform, mit der Wissenschaft betrieben wird. Wie bereits Konrad Ehlich (1993, 1995) gezeigt hat, sind die sprachlichen Mittel, die diese Sprachform ausmachen, erstaunlich unauffälliger Natur – was ihre Aneignung durch mutter- wie nicht muttersprachliche Studierende zu einem komplexen Prozess macht. Ausgehend von diesen Befunden soll zunächst gezeigt werden, dass Mittel der Wissenschaftssprache nicht ‚einfach da‘, sondern Resultat von Sprachausbau, von Arbeit an der Sprache sind, der seit Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft in einer mehrsprachigen Wissenschaftslandschaft erfolgt. Hieraus lassen sich die Konsequenzen ermitteln, die die gegenwärtige Anglisierung für die europäische Wissenschaft mit sich bringt.
Mutter Latein, ihre Töchter und alle anderen - Chancen und Perspektiven einer toten Sprache im mehrsprachigen Klassenzimmer
Beim Thema Mehrsprachigkeit im Unterricht denkt man nicht unbedingt zuerst an die bundesweit über 650.000 Schülerinnen und Schüler, die Latein erlernen. Dabei ist Mehrsprachigkeit ein dem Lateinunterricht inhärentes Thema: Schon die Antike ist eine plurilinguale Welt, in der die Amts- und Schulsprache Latein das verbindende Element ist, ähnliches gilt für das (lateinische!) Mittelalter und die frühe Neuzeit. Auch jenseits der Tradition der völkerverbindenden Gelehrtensprache sind in der Vermittlung des Lateinischen schon früh mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze sichtbar: Seit den curricularen Diskussionen der 1960er und 70er Jahren sind Sprachvergleich und Sprachreflexion in den Lehrplänen fest verankerte Lernziele. Immer wieder werden Bezüge zu den romanischen Tochtersprachen und dem Englischen oder dem Deutschen hergestellt. Im Zuge der Diskussionen um migrationsbedingte Mehrsprachigkeit findet neuerdings eine grundlegende Aufarbeitung statt: Das Lateinische soll als Brückensprache, allen Schülerinnen und Schülern gleich nah und gleich fern, eine Diskussion um sprachliche und kulturelle Verschiedenheit auf neutralem Terrain ermöglichen. – Der Vortrag möchte einen Überblick geben sowohl über die „mehrsprachige“ Geschichte der lateinischen Sprache als auch über aktuelle lateindidaktische Arbeiten zu Implementierungsmöglichkeiten mehrsprachigkeits- und interkulturalitätsdidaktischer Konzepte in den Lateinunterricht.
Innere Mehrsprachigkeit, Sprachbewusstsein und sprachliche Identität
So wie Individuen und Gesellschaften bzw. Staaten sind auch Schulen grundsätzlich mehrsprachig. Dies schließt nicht nur die lebensweltliche und fremdsprachliche Mehrsprachigkeit, sondern vor allem auch die „innersprachliche Mehrsprachigkeit“ mit ein. In diesem Vortrag soll zum einen der Zusammenhang zwischen deutscher Sprache und Identität(en) in Österreich sowie zum anderen das Spannungsfeld von sprachlicher Variation im Deutschen und Sprachbewusstsein in den Blick genommen werden. Neben grundsätzlichen Begriffsklärungen werden themenrelevante Modellierungen der deutschen Sprache, institutionelle Rahmenbedingungen für die österreichische Identitätskonstruktion und vom Beispiel österreichischer Schulen ausgehend insbesondere das Ausmaß von Mehrsprachigkeit, mit dem Lehrkräfte generell zu tun haben, besprochen werden. Speziell auf den Unterrichtskontext bezogen, werden die Zusammenhänge von innerer Mehrsprachigkeit, Spracheinstellungen, Normvorstellungen und Auswirkungen auf die sprachliche Identität beleuchtet.
Herkunftssprachenunterricht auf dem Prüfstand – Wege zu einer koordinierten Gesamtsprachenbildung
Die Frage, wie das Potenzial von Herkunftssprachen als Bildungsressource im Regelunterricht genutzt werden kann, ist vor dem Hintergrund der internationalen Diskussion um eine Integration des Herkunftssprachenunterrichts (HSU) in durchgängige Sprachbildungsmodelle von hoher Relevanz. Der Vortrag beleuchtet zunächst, welche sprachideologischen Sedimente der Begriff Herkunftssprache transportiert und welche sprachpolitischen Rahmenbedingungen den Stellenwert des HSU (am Beispiel des Türkischen) in den schulischen Curricula insbesondere in Nordrhein-Westfalen bestimmen. Sodann werden Befunde aus dem BMBF-Forschungsprojekt „Schreiben im Fachunterricht unter Berücksichtigung des Türkischen (SchriFT)“ vorgestellt, die zeigen, dass textsortenbasiertes Schreiben ein Ankerpunkt für eine Koordination von HSU und Regelunterricht darstellen kann.
Mehrsprachigkeit (in) der Literatur: Literarische Mehrsprachigkeit als Chance und Herausforderung
Mehrsprachige Texte stellen in der Literatur, sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit, kein Randphänomen dar. Auch in dem üblicherweise als „deutschsprachige Literatur“ bezeichneten Korpus finden sich zahlreiche Beispiele für mehrsprachige Werke. Dabei kann sich literarische Mehrsprachigkeit sowohl auf die Verwendung verschiedener Sprachen, als auch verschiedener Sprachvarietäten (wie Dialekte oder Soziolekte) im Text beziehen. Literarische Mehrsprachigkeit hat unterschiedliche Funktionen, sie ermöglicht beispielsweise Perspektivenwechsel, kann Distanz schaffen, Brüche erzeugen und vieles mehr. In der Vorlesung werden Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit anhand mehrerer Beispiele präsentiert und zudem die Möglichkeiten und Herausforderungen, die sich dadurch auf Produktions- und Rezeptionsseite ergeben, diskutiert. Zudem wird das Potenzial mehrsprachiger literarischer Texte für den Spracherwerb und -unterricht anhand der Beispiele besprochen.
Die zitierten Texte sind, unter anderem: Yoko Tawda, Schwager in Bordeaux (2008); Tomer Gardi, broken german (2016).
Linguistic Landscape - mehrsprachige didaktische Ressourcen vor Ort?
Ziel des Vortrages ist es, auf das vielseitige und nahezu uneingeschränkt zur Verfügung stehende didaktische Potenzial des öffentliches Raumes aufmerksam zu machen, zu dessen wesentlichen Merkmalen Mehrsprachigkeit und Multimodalität gehören. Dafür werden zunächst die Begriff der Linguistic und Semiotic Landscape thematisiert sowie an verschiedenen Beispielen gezeigt, wie unterschiedlich die in ihnen präsenten ‚Sprache-Bild-Texte‘ (Hartmut Stöckl) ausfallen können und welches sprach- und kulturdidaktische Potenzial sie enthalten. Auf dieser Grundlage zeigt die Vortragende exemplarisch einige Möglichkeiten auf, wie die Ressourcen von Linguistic Landscapes – in Abhängigkeit von den Erfahrungen, Zielen und Interessen von Lernenden und Lehrenden – für fremdsprachliches und kulturaufmerksames Lernen an sog. außerschulischen Lernorten genutzt werden können. Dabei wird auch auf die Differenzierung zwischen Fremdsprachen- und Zweitsprachensettings eingegangen, die sich offenbar in diesem Kontext als sinnvoll erweist. Die gezeigten und diskutierten Beispiele stammen aus dem amtlich deutschsprachigen sowie aus dem nicht-deutschsprachigen öffentlichen Raum.