Rückblick Kolloquium "Transformationen"
Das Kolloquium startet am 22. April 2015 mit zwei Vorträgen. Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz von der Universität Wrocław wird zum Thema „Erinnerung im Stadtraum“ sprechen und Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg von der TU Dresden widmet sich der „Transformationen in Dresden“. Jeden Mittwoch im Sommersemester wird von 18:30 bis 20:00 Uhr im BZW, Raum A 253 weiter über das Thema Transformation referiert und diskutiert. Die Gespräche finden in deutscher oder englischer Sprache statt:
- 22. April 2015: Auftaktveranstaltung mit Prof. Krzysztof Ruchniewicz und Prof. Karl-Siegbert Rehber
- 29. April 2015: Gemeinsam für den Grenzraum – über Projekte und Sprachbarrieren
- 13. Mai 2015: Spaces of Beauty
- 20. Mai 2015: Smart Cities
- 3. Juni 2015: Woran und wie in Wrocław (nicht) erinnert wird
- 10. Juni 2015: Umstrittene Erinnerungen in Denkmälern und Filmen
- 17. Juni 2015: Die biologischen Effekte der Transformation in Polen
- 24. Juni 2015: Transformationen im Film
- 1. Juli 2015: Dynamo Dresden und Śląsk Wrocław nach der Wende. Fans und andere Imagefragen
- 8. Juli 2015: Verfassungsidee und Verfassungsgebung in Polen nach 1989
Auftaktveranstaltung mit Prof. Krzysztof Ruchniewicz und Prof. Karl-Siegbert Rehberg
Ein deutsch-polnisches Kolloquium, organisiert vom Internationalen Büro am Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften, widmet sich in diesem Semester den Transformationen in Dresden und Wrocław seit 1989. In der Auftaktveranstaltung diskutierten der Historiker Prof. Krzysztof Ruchniewicz vom Willy-Brandt-Zentrum der Universität Wrocław und der Soziologie Prof. Karl-Siegbert Rehberg aus Dresden über Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Städte beim Umgang mit ihrer jüngeren Vergangenheit. Moderiert und eingeleitet wurde der Abend von Prof. Christian Prunitsch, Dekan der Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften.
Beide Städte mussten sich nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges neu erfinden. In Breslau, nun Wrocław, war zudem nahezu die gesamte Bevölkerung ausgetauscht worden. „Die Dresdner bauten nach 1945 ihre eigene Stadt wieder auf, die Menschen in Wrocław eine, die ihnen zutiefst fremd war“, so Krzysztof Ruchniewicz. „Erst seit dem Oderhochwasser 1997 gibt es in Wrocław so etwas wie eine gemeinsame Identität. Durch die Renovierungsanstrengungen ist es wirklich unsere Stadt geworden - wenn auch die Zeit vor 1945 nicht unsere Vergangenheit ist.“ Seit der Wende wird die deutsche Geschichte der Stadt aber neu entdeckt und von vielen als Bereicherung empfunden.
Beide Wissenschaftler räumten mit immer wieder gerne erzählten Mythen auf. Karl-Siegbert Rehberg sprach dabei die Singularität der Dresdner Kriegszerstörungen und den Mythos der „unschuldigen Stadt“ an: „Der Vergleich mit Breslau zeigt ja schon, dass andere Städte mindestens genauso, wenn nicht mehr zerstört waren.“ Krzysztof Ruchniewicz widerlegte die Erzählung von Wrocław als dem „neuen Lemberg“. Durch die Westverschiebung der Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Lemberg nicht mehr zu Polen. „Allerdings zogen lediglich sieben Prozent der ehemaligen Lemberger nach Wrocław.“
Am Ende des Abends ging es dann doch noch um die Gegenwart: Vor einigen Wochen wurde die letzte direkte Bahnverbindung zwischen Dresden und Wrocław eingestellt, was die Universitätspartnerschaft und auch das Kolloquium vor gänzlich ungeahnte Probleme stellt. Aber die nach Jahrzehnten der Städtepartnerschaft intensiven persönlichen Kontakte zahlen sich hier aus: Eine deutsch-polnische Bürgerinitiative setzt sich für eine Rückkehr der Verbindung ein.
Gemeinsam für den Grenzraum – über Projekte und Sprachbarrieren
Das deutsch-polnischen Kolloquium „Transformationen“ widmete sich am 29. April 2015 dem deutsch-polnischen Grenzraum. Der Soziologe Dr. Radosław Buraczyński und der Raumplaner Dr. Robert Knippschild (beide aus Dresden) stellten ihre jeweiligen Forschungsprojekte vor und gaben einen Einblick in die deutsch-polnische Zusammenarbeit im Grenzraum Sachsen/Niederschlesien.
„Eine integrierte, grenzüberschreitende Region ist nur möglich, wenn wir sprachliche und kulturelle Barrieren abschaffen“, so Radosław Buraczyński. Ein von ihm mit geleitetes Projekt der TU Dresden und der Universität Zielona Góra hat zu dieser Frage Pionierarbeit geleistet: Zum ersten Mal wurden Kenntnisse und Lernbereitschaft der jeweiligen Nachbarsprache im Grenzraum empirisch untersucht. Dabei zeigte sich, dass weitaus mehr Polinnen und Polen Deutsch beherrschten als andersherum. Die Bereitschaft, die jeweils andere Sprache zu lernen, ist aber auf beiden Seiten der Grenze hoch. Während polnische Schüler Deutsch meist als zweite Fremdsprache wählen, ist dies umgekehrt in Deutschland bzw. im Grenzraum bei weitem nicht der Fall. Allerdings nehmen die Schülerzahlen für Polnisch an deutschen Schulen seit Jahren zu. Die Sprache des Nachbarn zu lernen hängt vor allem vom Status der jeweiligen Sprache ab, der, so die Erkenntnis des Projekts, durchaus hoch ist: Vor allem die polnischen Befragten schätzten Deutschkenntnisse als wichtig für die Entwicklung ihrer Region ein.
Auch Robert Knippschilds Untersuchungen bestätigten im Großen und Ganzen dieses Bild. „Die Raumplanung sieht Grenzräume eigentlich als benachteiligt an. Wir wollten wissen, ob das auch für die Region hier stimmt“, stellte er das Projekt „Lebensqualität im Grenzraum“ vor. Dabei zeigte sich, dass die meisten Befragten auf beiden Seiten der Grenze ihre Lebenszufriedenheit und die Grenznähe positiv bewerteten. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit könnte jedoch noch ausgebaut werden: Bisher wird die Grenze vor allem zum Einkaufen überquert, nur wenige haben ihren Arbeits- oder Ausbildungsplatz auf der anderen Seite. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, wurde in den Jahren seit 2009 mit dem Projekt „Gemeinsam für den Grenzraum“ vor allem die Verwaltungszusammenarbeit gestärkt. In verschiedenen deutsch-polnischen Arbeitsgruppen, z.B. zu Stadtentwicklung, Verkehr und Arbeitsmarkt, sollen auch in den nächsten Jahren weitere Projekte verfolgt werden.
Beide Referenten konnten über Erfolge auf dem Weg zu einer grenzüberschreitenden Region berichten, sie wiesen aber auch auf bestehende Herausforderungen hin: „Der Integrationsprozess ist kein Selbstläufer – man muss dafür aktiv etwas tun“, so Knippschild am Ende seines Vortrags.
Zu Gast im deutsch-polnischen Kolloquium „Transformationen“ am 13. Mai 2015 war Adam Chmielewski, Professor für politische Philosophie und Gesellschaftsphilosophie an der Universität Wrocław. Sein Vortrag entsprang nur indirekt seiner universitären Tätigkeit. Vielmehr ging es um das Konzept für Wrocławs Bewerbung um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2016, an dessen Erarbeitung Adam Chmielewski in den Jahren 2010-2012 federführend beteiligt war. Wrocław konnte sich mit dem Konzept gegen die Bewerbungen anderer polnischer Großstädte wie Gdansk, Warschau, Lublin und Katowice durchsetzen.
Kern des Konzepts ist der Slogan „spaces of beauty“, der auf Chmielewskis theoretischen Überlegungen zu den verschiedenen Räumen des menschlichen Lebens aufbaut: Nicht die Dichotomie öffentliche/politische versus private Räume ist für ihn bestimmend, vielmehr unterscheidet er grundsätzlich fünf verschiedene Räume (privat, natürlich, intim, cyberspace, öffentlich), die durch menschliche Interaktionen konstituiert sind und als gut oder schlecht wahrgenommene Handlungen auslösen. Alle Räume haben eine politische und ästhetische Dimension. In der Zeit als Kulturhauptstadt sollen in Wrocław, so das Konzept, Räume des Schönen geschaffen werden, die die BewohnerInnen ihre durch moderne Technologien verursachte „Interpassivität“ überwinden und sie dazu anregen sollen, ihre Stadt kreativ mitzugestalten.
Neben neuen „spaces of beauty“, die auch große Bauprojekte wie das Musikforum umfassen, geht es unter dem Slogan „reclaiming beauty“ auch um die (Wieder)Aneignung von Kulturdenkmälern in der Region, die oftmals eine deutsche Vergangenheit besitzen. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit Multikulturalität in Vergangenheit und Zukunft vonnöten: „Nach der NS-Vernichtungspolitik und den Grenzverschiebungen 1945 sind wir Polen eine der ethnisch homogensten Nationen der Welt. Gleichzeitig haben wir eine multikulturelle Vergangenheit und wir leben in einer Epoche höchster Mobilität: Menschen wandern nach Polen eine, viele PolInnen emigrieren auf Zeit oder für immer in andere Länder Europas oder Nordamerikas. Höchste Zeit, dass wir über multiple Identitäten jenseits von nationaler „Eindeutigkeiten“ sprechen.“
Daran sollen vor allem auch Menschen teilhaben, die bisher aus finanziellen und strukturellen Gründen vom kulturellen Leben ausgeschlossen sind: Angehörige von Minderheiten, junge Menschen, Arbeitslose, RentnerInnen, kinderreiche Familien. Mehr als 100 Projekte und Events bringt das Kulturhauptstadtsjahr 2016 für Wrocław. Ob das ambitionierte Konzept in die Tat umgesetzt wird? Überzeugen Sie sich doch einfach selbst bei einem Besuch!
Wie werden Dresden und Wrocław in 20 Jahren aussehen? Der Dresdner Professor für Wissensarchitektur Jörg Rainer Noennig und der Breslauer Doktorand der Sozialwissenschaften Mateusz Ryba beschäftigten sich in ihren Vorträgen am 20. Mai 2015 im deutsch-polnischen Kolloquium mit genau dieser Frage. In Diskussionen um die Stadt der Zukunft nahm in den letzten Jahren das der Informationstechnologie entlehnte Schlagwort „Smart City“ häufig einen prominenten Raum ein: Die Stadt der Zukunft wird durch die Integration von Informationstechnologie selbst „denken“, soll aber auch ökologisch nachhaltig und partizipativ sein.
Jörg Rainer Noennig mahnte zunächst zur Skepsis: „Bei Planungen in die Zukunft ist immer Vorsicht geboten!“ Außerdem ginge es bei Smart-City-Szenarien häufig schlicht darum, der IT-Industrie neue Absatzmärkte zu verschaffen. Die Wissensarchitekten der TU Dresden sprächen deshalb lieber von „knowledge cities“. Und anstatt mit aus statistischen Daten generierten Fore-Casting-Szenarien (analog zum Wetterbericht) betrachtet man zukünftige Entwicklungen in Dresden lieber aus der Back-Casting-Perspektive: „Wir stellen uns ein ideales Szenario oder ein worst-case-Szenario vor und fragen dann: Welche Schritte gibt es auf dem Weg zu diesem Zustand?“ Städte wirken wie Verstärker: Positiv Beispiele sind die italienischen Städte der Renaissance, in denen sich Wissen ballte und zu Veränderungen in ganz Europa führte. Negative finden sich heutzutage in vielen Städten durch kumulierende Umweltprobleme oder erhöhte Kriminalität. Back-Casting-Szenarien könnten dabei helfen, urbane Spannungen bereits wahrzunehmen, bevor es zum Konflikt kommt.
Wie weit der Weg zu einer Smart City ist, stellte Mateusz Ryba in seinem Vortrag dar. „Smart City“ machte er an sechs Dimensionen fest: smart economy, smart mobility, smart environment, smart people, smart living und smart governance. Auf allen Feldern lassen sich für Wrocław durchaus positive Veränderungen konstatieren, auch wenn es bisher, trotz Konzepten wie „Wrocław 2020“, keine konsistente Entwicklungsstrategie für die gesamte Stadt gebe. Positiv hob er das kreative Potential der vielen jungen und gut ausgebildeten EinwohnerInnen von Wrocław sowie die Einführung eines partizipativen Budgets hervor. Die BürgerInnen können basisdemokratisch über die Verwendung von einem Teil der städtischen Gelder entscheiden. Viel zu tun gebe es dagegen noch bei ÖPNV und Fahrradverkehr, bei der Luftqualität und der Bereitstellung von gut angebundenem und bezahlbarem Wohnraum.
Woran und wie in Wrocław (nicht) erinnert wird
Woran wird in Wrocław erinnert? Woran nicht? Diese Frage stellten sich am 3. Juni 2015 zwei Vorträge im deutsch-polnischen Kolloquium „Transformationen“. Dr. Piotr Przybyła vom Willy-Brandt-Zentrum der Universität Wrocław gab dabei einen Überblick über politische Dispositive und Normen des Gedächtnisses in Polen vor, der Kulturwissenschaftler Albert Miściorak machte dagegen in seinem Vortrag die Landschaft von Breslauer Vorortsiedlungen als „unbewusstes Stadtgedächtnis“ aus und förderte so Erinnerungen zutage, die im offiziellen Gedächtnis wenig Raum finden.
„Der Zweite Weltkrieg ist die höchste Instanz des polnischen Gedächtnisses“, so der polnische Soziologe Lech Nijakowski 2007. Narrative der Heroisierung von Leid und Niederlagen spielen dabei eine wichtige Rolle. Aber wie soll man in Wrocław an den Zweiten Weltkrieg erinnern? „Will man eher lokal erinnern? Aber die Opfer dort sind keine Polen. Oder erinnert man in einem gesamtpolnischen Modus? Dann geht aber das Lokale verloren“, machte Piotr Przybyła das zentrale Problem von Wrocławs (und dem anderer westpolnischer Regionen) Umgang mit der Vergangenheit deutlich: Wie mit der deutschen Vergangenheit umgehen? Hierbei stellt das Jahr 1989 eine deutliche Zäsur dar. Die sozialistischen Regierungen hatten versucht, deutsche Spuren zu beseitigen und an eine polnische Vergangenheit der Region im frühen Mittelalter anzuknüpfen, was teils nur schwer gelang. Dies änderte sich nach 1989, auch wenn es vorher schon Gegenströmungen zu dieser offiziellen Gedächtnispolitik gegeben hatte, etwa von Denkmalpflegern oder dem berühmten Brief der polnischen Bischöfe 1965. Heute ist die deutsche Vergangenheit im Stadtbild durchaus präsent, auch wenn die Erinnerung etwa an die Zwangsmigrationen nach 1945 durchaus weiter umstritten ist.
Albert Miściorak eröffnete in seinem Vortrag eine andere Perspektive auf das Thema Erinnerung: „Ich verstehe Gedächtnis nicht nur als durch menschliche Interaktion produziert, sondern auch die Landschaft als nonverbales Medium hervorgerufen.“ Die These seiner auf Interviews mit BewohnerInnen von Breslauer Vorortsiedlungen gestützten Dissertation: Durch die alltägliche Konfrontation mit Überresten deutscher Vergangenheit sei bei ihnen durchaus Wissen darüber vorhanden, auch wenn die meisten in Umfragen angäben, dass ihr historisches Gedächtnis nicht weiter zurückginge als bis 1945. „Dieses Wissen haben sie nicht aus der Sicht eines distanzierten Beobachters, sondern quasi durch den körperlichen Kontakt.“ Durch die häufig wenig behutsame Revitalisierung der Siedlungen ginge dieses Wissen allerdings zunehmend verloren.
Historische Identitätssuche in Filmen und Architektur
Beide Vorträge am 10. Juni widmeten sich auf sehr unterschiedliche Weise Fragen der Suche nach einer historischen Identität in beiden Städten.
Joanna Trajman vom Institut für Internationale Studien/Fachbereich Deutschlandstudien der Universität Wrocław nahm in ihrem Vortrag zwei Filme zu historischen Schlüsselereignissen der Dresdner bzw. Breslauer Stadtgeschichte unter die Lupe: „Dresden“ von 2006 und „80 Milionów (80 Millionen)“ von 2011. „Dresden“ zeigte zum ersten Mal in fiktionalisierter Form die Bombardements der Stadt am 13. Februar 1945 – ein politisch heikles Thema, schließlich steht Dresden wie keine andere Stadt für die Diskussion um deutsche Opfer in einem von Deutschland entfesselten, brutalen Krieg. Es sollte dann auch kein Film entstehen, der nationales Pathos bedient und politisch ausgenutzt werden könnte. Dennoch zeigt der Film, so Kajdanek, trotz aller Differenzierungsversuche eindeutig Briten als Täter und Deutsche als Opfer – und dies auch in Szeneninszenierungen, die sonst in der Filmsprache eindeutig mit dem Holocaust verbunden sind, etwa dem Blick durch eine Klappe in einer Tür. „Dresden“ wurde ein Quotenhit. Neben positiven Einschätzungen gab es auch Kritik, wie etwa von Arnulf Bahring, der den Film als Kitsch bezeichnete. Während „Dresden“ Deutschlands Rolle als friedlichem, demokratischen Weltstaat filmisch untermauern soll, so zeigt „80 Milionów“ Polen als Vorkämpfer für Freiheit und Veränderung. Der Film widmet sich mit den Mitteln von Action-Kino und Komödie der Geschichte der Solidarność in Wrocław und zeigt den Alltag in der Stadt zur Zeit des Kriegsrechts 1981-83. Eine zentrale Figur im Film ist ein alter Widerstandskämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg, der nun in der Solidarność aktiv ist. So konstruiert der Film ein Narrativ der Widerständigkeit über verschiedene Generationen, Traditionen und Werte hinweg. Wrocław, dessen polnische Geschichte erst 1945 beginnt, wird so in die polnische Tradition nationaler Aufstände integriert.
Die Dresdner Kunsthistorikerin Katarzyna Wieczorek stellte in einem Durchgang durch mehrere Jahrhunderte Architekturgeschichte die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Stadtbild und -identität. Wrocław und Dresden sind sich grundsätzlich ähnlich: Beide Städte gehen auf slawische Gründungen zurück, wurden in der Renaissance stark beschädigt, erlebten im Barock eine Blütezeit und wuchsen im 19. Jahrhundert zu industriell geprägten Großstädten heran. Beide Städte waren stark von historistischen Bauten des 19. Jahrhunderts (in Breslau v.a. Neorenaissance, in Dresden Neobarock) geprägt, hatten ihre „Hochhausdebatten“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wurden 1945 – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – stark zerstört. Dennoch unterscheidet sich ihr Stadtbild und auch ihre Identitätssuche heute erheblich. Dies liege vor allem an der unterschiedlichen Entwicklung nach 1945: „Dresden war eine Stadt ohne Architektur, Wrocław eine Stadt ohne Menschen“, brachte Katarzyna Wieczorek es auf den Punkt. Auf der Suche nach einer neuen Identität wandte man sich in Dresden der barocken Tradition zu (vom Mittelalter waren kaum Spuren geblieben), in Wrocław besann man sich dagegen auf das Mittelalter und die sogenannte „Piastengothik“, was einen historischen Anspruch Polens auf die von den Deutschen übernommenen Westgebiete untermauern sollte. Beide Städte sind heute aber mindestens ebenso stark von sozialistischen Stadtumbauten geprägt – ein Erbe, mit dem sich sowohl Dresden als auch Wrocław immer noch schwer tun.
Die biologischen Effekte der Transformation in Polen
Seit 1966 misst die Breslauer Niederlassung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) in großangelegten Studien Größe und Gewicht von polnischen Schülern und Schülerinnen und befragt sie nach ihrem soziokulturellen Hintergrund. Der Grund: Größe und BMI spiegeln die wirtschaftliche und psychologische Verfasstheit von Gesellschaften wider. So lassen sich auch Folgen der Transformation erkennen. Aleksandra Gomuła und Natalia Nowak-Szczepańska, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Projekts, stellten im Kolloquium am 24. Juni die Ergebnisse der letzten Untersuchung von 2012 vor und verglichen sie mit den vorhergehenden Studien.
Die polnischen Schülerinnen und Schüler des Jahres 2012 sind größer und schwerer als ihre AltersgenossInnen zur Zeit der letzten Untersuchung im Sozialismus 1988. Zuwächse an Größe und Gewicht hatte es auch schon in den Jahren 1966-1978 gegeben, dort waren diese aber, so Aleksandra Gomuła, vor allem eine Folge des Nachholbedarfs nach dem Krieg und der kargen Nachkriegszeit. Ansonsten sei der Sozialismus eine Zeit permanenter Wirtschaftskrisen gewesen, was man auch an der Stagnation bei Körpergröße und Gewicht zwischen 1978 und 1988 sehen könne. Bis 2012 nahm beides zu, auch der Zeitpunkt der ersten Menstruation verlagerte sich nach vorne. Allerdings stieg die Zahl von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen dramatisch an. Ausnahme sind hier Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren, die sogar leichter sind als ihre Altersgenossinnen von 1988. Sie sind auch die einzige Gruppe, in der Untergewicht noch ein Thema ist. Dies sei wohl auf veränderte Schönheitsideale zurückzuführen.
Beobachtbar ist auch, so Natalia Nowak-Szczepańska in ihrem Vortrag zu „biological classlessness as a result of the political transformation“, dass die Abhängigkeit des BMI vom Bildungsstand der Eltern heute deutlich geringer ist, als noch vor der Transformation. Ebenso gleichen sich Stadt und Land immer mehr an. Gleich blieb dagegen die Korrelation zwischen Kinderzahl und Größe: je größer die Familie, desto kleiner die einzelnen Kinder.
Transformationen im Film: Film und Filmkultur in Wrocław nach 1989 und Dresden im „Tatort“ nach der Wende
Wie fangen Filme die Veränderungen in Dresden und Wrocław nach 1989 ein? Was können, was wollen sie zeigen? Diesen Fragen gingen am 24.6. die Breslauer Kulturwissenschaftlerin Dr. Agata Ciastoń und der Dresdner Professor für systematische Erziehungswissenschaften Olaf Sanders nach.
Wrocław hatte für den polnischen Film nach 1945 große Bedeutung. Dort befanden sich – auf dem Gelände der ehemaligen Breslauer Messe – die WFF-Studios (Wytwórnia Filmów Fabularnych), die zur Zeit des Sozialismus Filme international bekannter polnischer Regisseure wie Roman Polański, Agnieszka Holland oder Andrzej Wajda produzierten. Nach der Transformation wurden die Studios abgewickelt, nach einer Phase des Niedergangs in den neunziger Jahren entsteht mit Institutionen wie dem Festival Nowe Horyzonty und dem Niederschlesischen Filmzentrum (DCF) die Filmkultur wieder neu.
In Wrocław wurden viele Filme gedreht – die Stadt aber dabei nur selten thematisiert. Wenn, dann zeigten Filme aus den sechziger und frühen siebziger Jahren, wie „Epidemik“ oder „Leprosy“ (beide 1971), die Stadt als anonymes Heim des Bösen. „Die Charaktere kommen aus dem Nichts, haben keine Vergangenheit. Darin spiegelt sich Wrocławs Nachkriegsgeschichte wider“, so Agata Ciastoń. Dies ändert sich in den Filmen der Gierek-Ära („Anatomia Miłości“ (1972), „Wyjście Awaryjne“ (1982)), in denen Wrocław als wachsende, dynamische Stadt erscheint. Filme nach 1989 thematisieren Wrocławs Beitrag zur Transformation („80 Milionów“), die Veränderungen durch Feminismus und Kapitalismus, das Entstehen einer neuen Mittelklasse. Filme wie „Konsul“ (1989) und „Fundacja“ (2006) zeigen dabei durchaus auch deren negative Folgen, neue Filme wie „Nie opuszczaj mnie“ (2009) beschäftigen sich mit Gefühlen des Verlassenseins in der Postmoderne: Wrocław erscheint dort als dunkle, regnerische Stadt.
Anders als Wrocław ist Dresden keine Filmstadt. Die Stadt war aber in den 1990er Jahren Handlungsort der ersten ostdeutschen Ausgabe des „Tatorts“ und löste damit laut Olaf Sanders Duisburg als Tatort-Transformationsstadt ab. In seinem Vortrag macht Olaf Sanders zwei Transformationen in den Dresdner „Tatorten“ aus: Die äußere Transformation, die in den Filmen als Hintergrund aufscheint und die innere Transformation des Formats „Tatort“. Die Filme zeigen typische Elemente der Nachwendezeit: Baugeschehen und Kräne, Vorgesetzte aus Westdeutschland, Übernahme von Firmen. Auch in den Fällen wird oftmals DDR-Vergangenheit mit Nachwenderealität konfrontiert. Zum Thema wurde die äußere Transformation der Stadt allerdings selten explizit. Wie auch in anderen Tatorten rückten bestimmte Personenkonstellationen oder persönliche Probleme der Tatortkommissare zunehmend in den Mittelpunkt. Diese zweite Transformation, weg vom Lokalkolorit und klassischer Polizeiarbeit hin zu Filmen über soziale und vor allem psychologische Probleme, lässt sich ebenfalls am Dresdner Tatort nachzeichnen.
Dynamo Dresden und Śląsk Wrocław nach der Wende. Fans und andere Imagefragen
Dresden ohne Dynamo, Wrocław ohne Śląsk? – Für viele Menschen in beiden Städten undenkbar. Im deutsch-polnischen Kolloquium „Transformationen“ am 1. Juli 2015 ging es um Geschichte und Gegenwart beider Klubs. Dr. habil. Dariusz Wojtaszyn, Historiker am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschlandstudien der Universität Wrocław, gab zunächst einen Überblick über die Entstehungsgeschichte und die Rolle beider Klubs zur Zeit des Sozialismus. Die Geschichte von WKS Śląsk Wrocław beginnt im Jahre 1957. Gegründet als „Wojskowy Klub Sportowy“ (Armeesportklub), sollte der Fußballverein den polnischen Bewohnerinnen und Bewohnern der neuen Westgebiete bei der Identifikation mit ihrer neuen Heimat helfen. Dynamo Dresden war schon 1953 gegründet worden, nicht als Armeeklub, sondern als Fußballverein der Sicherheitsorgane der DDR. Obwohl es sowohl in der polnischen als auch der DDR-Bevölkerung erhebliche Vorbehalte gegenüber den Sicherheitskräften bzw. der Armee gab, wurden die Klubs von der lokalen Gesellschaft schnell als „ihre“ akzeptiert – selbst in den 1980er Jahren, als viele Anhängerinnen und Anhänger von Śląsk der Solidarność angehörten und im Dynamostadion Sprechgesänge gegen Staat und Regierung keine Seltenheit waren. Beide Vereine erlebten ihre „Goldenen Zeit“ in den 1970er Jahren, als sie sich fest in den ersten Ligen der jeweiligen Länder etablierten und Meistertitel errangen.
Die Jahre der Transformation waren hingegen für beide Klubs eine schwierige Zeit: Dynamo verlor zuerst seine wichtigsten Spieler an zahlungskräftige Vereine in Westdeutschland und 1995 wegen finanzieller Probleme gar die Lizenz für die erste und zweite Bundesliga; Śląsk Wrocław hatte nach dem Ausstieg des Hauptsponsors – der polnischen Armee – ebenfalls Geldprobleme. Erst nach der Übernahme durch die Stadt im Zuge des Stadionneubaus für die Europameisterschaft 2012 gelang es Śląsk Wrocław (WKS wurde 1997 in Wrocławski Klub Sportowy umgedeutet, also Breslauer Sportklub), sich wieder fest in der ersten polnischen Liga, der Ekstraklasa, zu etablieren.
Kai Schurig, Doktorand am Dresdner Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte, widmete sich in seinem Vortrag der Fankultur bei Dynamo – ein noch relativ neues Forschungsfeld. Die in Dresden – wie auch in Wrocław – starke Fanszene entstand in den 1980er Jahren, als Jugendliche den Stadionbesuch für sich entdeckten und begannen, heute typische Elemente der Fankultur wie Choreographien, Fahnen und Sprechgesänge zu etablieren. Den DDR-Sicherheitsorganen waren diese Gruppen ein Dorn im Auge, weshalb sie mit Repression antwortete und so Gewaltausbrüche noch verstärkte. In den 1990er Jahren wurde Gewalt im und vor allem um das Stadium zum Normalzustand, auch, weil in Dresden erst spät die Notwendigkeit einer sozialen Fanarbeit erkannt wurde. Hooligangruppen entstanden, in den frühen 2000er Jahren aber auch neue Fangruppierungen, die Ultras, die sich zum Teil sozial und politisch engagieren. Rassismus und Gewalt im Stadion werden seitdem auch durch den Verein thematisiert.
Verfassungsidee und Verfassungsgebung in Polen nach 1989
Nach der politischen Wende 1989 entstand in Polen ein neues Staatswesen. Bis dieses eine neue, eigene Verfassung bekam, dauerte es allerdings bis 1997 - volle acht Jahre. Maik Herold, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden, beleuchtete in seinem Vortrag den Verfassungsgebungsprozess nach 1989 und dessen historische Hintergründe.
Polen hat eine bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Verfassungsgeschichte. Die Verfassung vom 3. Mai 1791 gilt als die älteste in Europa. Im Laufe des 19. Jahrhunderts, als Polen als Staat nicht existierte, wurde sie zu einem Erinnerungsort für die nationale Unabhängigkeit. Die nationale Emanzipation in Polen war so stark mit der Verfassung verbunden. Gleichzeitig gab es im 19. und 20. Jahrhundert lange Perioden der (gefühlten oder tatsächlichen) Fremdherrschaft, wodurch sich Staat und Nation als zum Teil gegensätzliche Konzepte etablierten.
"Die Verfassungsfrage wurde in der Diskussion nach 1989 als Identitätsfrage verhandelt. Aber darüber, worin der Kern dieser polnischen Identität bestand, gab es keine Einigkeit", so Maik Herold. Zwei Interpretationen der polnischen Verfassungstradition standen sich unversöhnlich gegenüber: Das bürgerlich-liberale Lager sah in der Verfassung vom 3. Mai eine Tradition von Aufklärung und Toleranz. Diesem republikanischen Erbe sollte eine neue polnische Verfassung gerecht werden. Das national-katholische Lager hingegen betrachtete die Verfassung als ersten Ausdruck von Polen als kultureller und vor allem konfessioneller Einheit.
Die Zersplitterung der politischen Landschaft führte dazu, dass keines der beiden Lager eine eigene Mehrheit erreichte. Die Verfassungsgebung wurde zum Spielball der Tagespolitik. Erst mit der Änderung des Wahlrechts 1993 und dem Wahlsieg der postkommunistischen SLD änderte sich dies. Allerdings erlangte auch diese Regierung keine Zweidrittelmehrheit. Dennoch wurde die Erarbeitung einer neuen Verfassung wieder aufgenommen und im Mai 1997 in einem Referendum von der Bevölkerung knapp angenommen. "Bis heute gilt sie ihren Kritikern nicht als Gründungsdokument der Dritten Republik, sondern als politisches Projekt eines Lagers, das zufällig gerade eine Mehrheit hatte", so Maik Herold. Insgesamt sei die Verfassung aber mittlerweile als Grundlage staatlichen Handelns akzeptiert.