Theorie und Praxis
Architekturtheorie muss noch viel konsequenter ihr Bild vom Menschen, um dessen Wohnen, Entwerfen und Bauen es geht, stärken. Das dies nicht ausreichend geschieht, so meine These, liegt daran, dass sie nicht radikal genug nach dem forscht, was Theorie ist. Offensichtlich geht es doch jeder Theorie um das Beibringen eines Wissens. Der Philosoph Hans Jonas unterscheidet das „theoretische“ vom „praktischen“ Wissen.3 Die theoretischen Wissenschaften im klassischen Sinn befassen sich mit den unveränderlichen und ewigen Dingen. Solche Dinge können nur „angeschaut“, nicht indes einem Tun oder einer Bearbeitung unterworfen werden. Dem gegenüber zielen die praktischen Wissenschaften nicht auf „Theorie“, vielmehr sind sie „Kunst“. Dieser heute nur mehr dem philosophisch-philologischen Gespräch vertraute Begriff von „Kunst“ (techné) meint das Wissen, wie etwas Veränderliches planvoll verändert werden kann, nämlich im Sinne der Künste eines Handwerks, zu denen Aristoteles beispielsweise auch die Künste des Arztes, Flötenspielers und des Baumeisters zählte. Alles praktische Wissen basiert auf Erfahrung. Welche Verbindungen bestehen nun zwischen beiden Wissensformen, der theoretischen und der praktischen? „Die Leitung, welche die Theorie hinsichtlich der Künste übernehmen kann, besteht nicht im Fördern ihrer Erfindung und Ersinnen ihrer Methoden, sondern im Erleuchten ihres Benutzers (...) mit der Weisheit, jene Künste weislich, d.h. im richtigen Maße und zu richtigen Zwecken zu benutzen.“4 Derjenige, der für die Herstellung von etwas zu sorgen hat, wird also auf Erwartungen und Ziele aufmerksam gemacht, die zunächst außerhalb seines „praktischen“ Horizonts liegen.
„Theorie“ in diesem Verständnis, so stellen wir mit Jonas fest, wird von den Künsten in Gebrauch genommen, damit deren eigenes Werk überhaupt gelingen kann. Welchen Spielraum, der ja offensichtlich zwischen Gelingen und Scheitern liegt, legt der Einsatz von Theorie nahe? Er rückt die Frage des Gebrauchs der hergestellten Dinge entschieden ins Licht. Jonas fragt: „Wozu findet Gebrauch statt? Der letzte Zweck allen Gebrauchs ist derselbe wie der Zweck aller Tätigkeit, und dieser ist zweifach: Erhaltung des Lebens und Verbesserung des Lebens, d.h. Förderung des guten Lebens.“5 Das Wissen, auf welches bei der Klärung des Gebrauchs verwiesen wird, ist also nicht ein technologisches oder Herstellungs-Wissen, und das Gebiet, von dem Erkenntnisse dieser Art erwartet werden dürfen, ist nicht das Terrain einer Ingenieurwissenschaft. Technik und Ingenieurwissenschaften können (und wollen) die Frage nach dem Wozu ihrer Hervorbringen nicht selbst beantworten. Denn die Frage nach dem Wozu ist eine Frage nach dem „Wert“ einer Leistung für ein Gemeinwesen bzw. seine Mitglieder. Insofern und so lange sich die Technik selbst als „wertfrei“ begreift, bleibt ihr diese Dimension des „Guten“, des „Glücken“ des Lebens, überhaupt des Welthaften, verschlossen.
Diese Dimension des menschlichen Handelns hat weder Vitruv gekannt, noch diskutiert sie die zeitgenössische Architekturtheorie. Unsere Aufgabe als Lehrende der Architekturtheorie wird es sein, den Architekten in den Mittelpunkt dieses Welt-Verhältnis zu stellen: er ist darin verstrickt. Denn er muss um die Zwecke des Gebrauchs von Architektur ebenso wissen wie um die fachgerechten Regeln der Herstellung eines Gebäudes. Seine Berufspraxis besteht nämlich nicht allein im technischen Verfügen über Naturprozesse und in der Anwendung von empirisch erzeugten Wissensformen, sondern ebenso in deren praktisch-situativen Bezügen und Interpretationen. Wahrnehmen, Deuten, Interpretieren verstehen sich leider nicht „von selbst“. Der Architekt hat mit bedeutenden architekturrelevanten Wissensbeständen zu tun, die selbst nichts darüber aussagen, wie ihr Inhalt kritisch bezüglich des Umsetzens in die Praxis zu beurteilen ist. Zwar geht etwa das ingenieurwissenschaftlich erzeugte Wissen auf regelrechte Kenntnisse einer Disziplin zurück, jedoch „ein reflektiertes Bewusstsein von dem praktisch Notwendigen“6 liegt nicht in Selbstverständnis und Horizont dieses Wissens.
3 Hans Jonas, Das Prinzip Leben, Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Franfurt am Main 1994, S. 314
4 A.a.O.
5 A.a.O., S. 316
6 Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“. Frankfurt/Main 1981, S. 111. Habermas hat diese Anforderungen an das Können des Praktikers „Orientierung im Handeln“ genannt. Er schreibt: „Das Verfügenkönnen, das die empirischen Wissenschaften ermöglichen, ist mit der Potenz aufgeklärten Handelns nicht zu verwechseln. Ist aber deshalb Wissenschaft überhaupt von dieser Aufgabe einer Orientierung im Handeln dispensiert?“