Feb 12, 2024
Nachruf auf Peter Kulka (1937 - 2024)
Am 5. Februar 2024 ist der Architekt und Hochschullehrer Peter Kulka, seit 2006 Ehrendoktor unserer Fakultät, im Alter von 86 Jahren verstorben. Er war einer der bekanntesten zeitgenössischen Architekten Deutschlands und bis zuletzt eine sehr prägende und präsente Persönlichkeit der Dresdner Architekturszene.
Peter Kulka wurde am 21. Juli 1937 in Dresden geboren und erlebte im Alter von sieben Jahren die Zerstörung der Stadt. Als Sohn eines Architekten (der Vater starb als Soldat 1944 im Krieg) gehörte er in der jungen DDR zur argwöhnisch beäugten bürgerlichen Schicht und musste sich den Hochschulzugang auf Umwegen, nämlich über eine Maurerlehre und eine in den Jahren 1954 bis 1958 absolvierte Ingenieurausbildung an den Bauschulen Görlitz und Gotha verdienen. Dem wie sein Vater zur Architektur drängenden jungen Mann mag dieses ideologisch bedingte Prozedere misslich und vielleicht auch unsinnig erschienen sein, aber dieser Ausbildungsweg hat ihm etwas vermittelt, das in einer gradlinigen akademischen Architektenlaufbahn oft zu kurz kommt: Ein Gespür für das konstruktiv Sinnvolle, eine profunde Kenntnis der Zusammenhänge zwischen Baumaterial und Formfindung, und ein ausgeprägtes Sensorium für die Bedeutung der Materialität, wenn es um die Wirkung eines Bauwerks geht.
Das eigentliche Architekturstudium absolvierte Peter Kulka dann nicht in Dresden, sondern an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee, wo die Lehre geprägt war durch den gebürtigen Bosnier Selman Selmanagić, einen Bauhaus-Absolventen und Schüler von Ludwig Mies van der Rohe, der 1946 auch in Hans Scharouns Berliner Planungskollektiv mitgearbeitet hatte. Die Entwurfslehre von Selmanagić fußte auf rational-großzügigen Konzepten, die noch nichts von der Nationalen Tradition und vom Sozialistischen Realismus ahnten, aber viel von der verbliebenen Aufbruchsstimmung des Bauhauses vermittelten. Es ist daher sicher nicht falsch, Peter Kulka als „Enkelschüler von Mies van der Rohe“ (Wolfgang Pehnt) zu bezeichnen.
Dem Studienabschluss 1964 folgte die Mitarbeit im Büro von Hermann Henselmann, eine der schillerndsten Figuren der DDR-Architekturgeschichte, der damals als Chefarchitekt des VEB Typenprojektierung in Ostberlin Musterprojekte für industriell typisierte Gesellschaftsbauten entwickelte. Diese Phase im Leben Peter Kulkas währte allerdings nur wenige Monate: 1965 floh er mit einem gefälschten Diplomatenpass aus der DDR und schaffte es auf dem Umweg über Prag und Wien nach Westberlin. Die Bekanntschaft mit Selmanagić verhalf ihm dort zu einer Anstellung im Büro von Hans Scharoun, wo er nach eigener Aussage vier Jahre lang als „Spezialist fürs Rechtwinklige“ tätig war.
1969, mit 32 Jahren, machte er sich selbstständig, und schon ein Jahr später folgte der erste Großauftrag: Als Partner einer fünfköpfigen Architektengemeinschaft (Herzog, Köpke, Kulka, Siepmann und Töpper), der er bis 1979 angehörte, plante und baute Peter Kulka die Universität Bielefeld, eines der Renommierprojekte der unter der Reformkanzlerschaft Willy Brandts ausgerufenen Bildungsoffensive. Es waren Jahre einer noch ungebrochenen Fortschrittseuphorie, die sich nicht zuletzt in baulichen Megastrukturen offenbarte. Verglichen mit anderen Hochschulneubauten der späten 1960er Jahre (z. B. Bochum, Dortmund, Duisburg-Essen, Marburg, Kaiserslautern, Regensburg oder Konstanz) setzten Kulka und seine gleichaltrigen Mitstreiter in Bielefeld den Gedanken der Megastruktur besonders konsequent um: Sie schufen eine 220 m lange, mit Läden und Gemeinschaftseinrichtungen ausgestattete überdachte Passage, an die sich die vielgeschossigen Fakultätsbauten, Labore und Hörsäle sowie die Bibliothek seitlich angliedern – ein ganzer Campus unter einem Dach, eine gigantische Raumstation der Bildung und Forschung, die am Stadtrand von Bielefeld angedockt hatte.
Das Großprojekt Universität Bielefeld beanspruchte Peter Kulka fast zehn Jahre lang und war die perfekte Empfehlung für seine Berufung auf den Lehrstuhl für Konstruktives Entwerfen an der RWTH Aachen, den er von 1986 bis 1992 innehatte. Daneben verwirklichte er ab 1979 zahlreiche Projekte für die katholische Kirche. Die 1980er Jahre sahen ihn als Büropartner des wesentlich älteren Kölner Architekten Hans Schilling, der nach dem Zweiten Weltkrieg durch Kirchenbauten in Köln und im Rheinland bekannt geworden war, und de facto einen Nachfolger für sein Büro suchte. In diese Zeit fallen Bauten wie die katholische Pfarrkirche in Hamm-Heesen, das erzbischöfliche Gästehaus, Kongress- und Bibliothekszentrum (Maternushaus) in Köln und die Erweiterung der Benediktinerabtei Königsmünster in Meschede – ein Projekt, das fünfzehn Jahre später, 1998-2001, noch eine Ergänzung erfuhr in Gestalt des von Peter Kulka zusammen mit Konstantin Pilcher dort errichteten „Hauses der Stille“, einer Art Kloster auf Zeit.
Der Begriff des „Klosters auf Zeit“ taugt durchaus als Überschrift, mit der sich die Lebensjahre Peter Kulkas in Nordrhein-Westfalen abgrenzen lassen von der Zeit ab 1990. Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands boten ihm, bildlich gesprochen, die Möglichkeit, nach langer Wanderung zu den Ursprüngen zurückzukehren und seine Schaffenskraft noch einmal in den Dienst einer Aufbruchsstimmung zu stellen – einer Aufbruchsstimmung, die noch größer zu sein schien als die selbstgewissen Zukunftshoffnungen der 68er-Generation.
Stärkster und nachhaltigster Ausdruck dieses neuen Elans sind zwei in ihrer Zeichenhaftigkeit hoch bedeutsame Gebäude in Dresden: Der Landtag des Freistaates Sachsen (1991-1997) und die Überdachung des Kleinen Schlosshofs im Residenzschloss (2004-2011). Der gläsern-transparente Landtagsneubau wurde von Anfang an in eine Reihe gestellt mit den symbolträchtigsten Leitbauten der bundesdeutschen Demokratie: dem Bonner Bundeshaus von Hans Schwippert (1949-1952), dem Neubau des Bonner Bundestags von Günther Behnisch (1986-1991), dem modernen Wiederaufbau des Berliner Reichstags durch Paul Baumgarten Mitte der 1960er Jahre und der Reichstags-Neugestaltung von Lord Norman Foster 1996-1999. Und die Überdachung des Kleinen Schlosshofs mit ihren transparenten Folienkissen, die von einer zweifach gekrümmten Gitterkonstruktion aus Stahl getragen werden, löste nicht nur auf überzeugende Weise das Problem einer zentralen Erschließung der im Residenzschloss untergebrachten Museen, sondern bewies auch, dass die zeitgenössische Moderne in einen sehr fruchtbaren Dialog mit dem Historischen treten kann, ja dass gerade ein Architekt, der nach eigenem Bekunden nie dafür war, „Dinge nachzumachen“, also zu rekonstruieren oder zu historisieren, „das Schloss schlossiger machen“ konnte, „als es jemals war“ wie er seinerzeit in einem Baustellen-Interview erklärte.
Peter Kulka selbst hat seine Art des Bauens einmal als „Architektur für den zweiten Blick“ bezeichnet, und in der Tat sind viele seiner Gebäude nicht spektakulär – jedenfalls nicht im Sinne eines medienwirksamen persönlichen Markenzeichens. Trotzdem bleiben sie im Gedächtnis haften, und es stellt sich die Frage, woran das liegt. Die Bevorzugung eines bestimmten Materials kann es nicht sein. Zwar hat jedes Gebäude seine individuell vorherrschende Materialität, aber Peter Kulka war weder in dieser noch in anderer Hinsicht ein Dogmatiker; er benutzte Backstein, Sichtbeton, Stahl und Glas gleichermaßen. Eher liegt es an dem bei Kulka im Lauf der Jahrzehnte immer deutlicher zutage tretenden Bestreben, den Prozess des Entwerfens stets auf die elementaren Grundfragen zurückzuführen: Wie funktioniert architektonischer Raum? Wie wird er wahrgenommen? Wie muss er inszeniert werden, um die beabsichtigte Wirkung hervorzurufen? Wie wirkt Farbe? Was ist eine Wand, eine Öffnung, ein Dach? Kulkas Beschäftigung mit dem benediktinischen Klosterleben hat zweifellos mitgeholfen, diese einfachsten Fragen stellen zu lernen und sie in größtmöglicher Perfektion zu beantworten. Seiner Architektur haftet in ihrer Konsequenz und Radikalität etwas Minimalistisches, ja Mönchisches an, und zwar nicht nur bei den Bauten der Kölner Zeit, die er selbst einmal als „protestantische Gebäude für katholische Prinzipien“ bezeichnet hat. Seine Bauten sind nicht besonders auffällig, aber die Rückführung auf die elementaren Fragen einer gestalteten Lebensumwelt statten sie mit einer Zeichenhaftigkeit aus, die unterschwellig außerordentlich bildmächtig ist.
Mit seinem selbstbewussten und unbeirrbaren Festhalten an dem, was er als richtig erkannt hatte, war Peter Kulka zugleich aber auch durchaus unbequem. Und dass seine von einem hohen persönlichen und beruflichen Ethos inspirierte, leidenschaftliche und streitbare Stringenz ausgesprochen polarisierend und sogar verletzend wirken konnte, wissen alle, die ihn noch in jüngster Zeit als Kämpfer in eigener Sache erlebten, etwa in der Diskussion um die geplanten Erweiterungsbauten zum sächsischen Landtag. Um diese Haltung zu verstehen, hilft vielleicht ein Blick in die Geschichte: Viele von denen, die Peter Kulka in seiner Anfangszeit prägten, sahen ihre gesellschaftliche Aufgabe als Architekturschaffende so, wie sie der französische Dichter Paul Valéry in den 1920er Jahren in seiner Schrift „Eupalinos oder Der Architekt“ beschrieben hatte: „Da komme ich, sagt der Baumeister, ich bin die Handlung. Ihr seid Stoff, ihr seid Kraft, ihr seid Streben; aber ihr seid getrennt. […] Ich bin der, der versteht, was ihr wollt, es eine Kleinigkeit besser versteht als ihr selbst. […] Ich werde euch sehr viel kosten, ohne Zweifel, aber alle Welt wird dabei gewinnen. Ab und zu werde ich mich irren, und es wird ein paar Ruinen geben, aber man kann immer mit größtem Vorteil ein verfehltes Werk als eine Stufe ansehen, die uns dem Schönen näher bringt“. Ob diese Haltung heute noch zeitgemäß ist, kann diskutiert werden. Dass Peter Kulka im Verlauf eines beinahe 60-jährigen Berufsleben enorm viel bewirkt hat, um uns dem Schönen näher zu bringen, steht fest.
Hans-Georg Lippert