12.04.2022
Cui bono? Die Hintergründe der Energiepreis-Explosion: Experteninterview mit Prof. Möst im UJ
TUD-Experten befragt: UJ im Gespräch mit Dominik Möst, TUD-Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Energiewirtschaft
Seit Monaten kennt die Preisentwicklung am Energiemarkt nur eine Richtung – die nach oben. Und seit einigen Wochen nach ganz oben, explosionsartig. Krisen und Kriege sind natürlich immer Preistreiber. Die Sorge um oder auch die Spekulation auf reduzierte Angebote bei steigender Nachfrage erzeugt Entwicklungen, die mit einer rationalen Betrachtung der Situation selten zu erklären sind. Ist das alles »reine Psychologie« – oder wird diese Entwicklung auch bewusst gesteuert, um durch Gewinnmaximierung und Mitnahmeeffekte die Kuh zu melken, so heftig es nur irgend geht? Das UJ sprach dazu mit Prof. Dominik Möst, der sich in seiner Forschung an der TU Dresden überwiegend mit der Konzeption und dem Einsatz techno-ökonomischer Modelle und quantitativer Methoden zur Entscheidungsunterstützung in der Energiewirtschaft beschäftigt. Besonderen Wert legt er dabei auf die interdisziplinäre Kooperation mit ingenieur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituten, Energie- und Industrieunternehmen sowie politischen Entscheidungsträgern. Derzeitige Forschungsprojekte betreffen Fragestellungen zur Integration erneuerbarer Energien, zur langfristigen Entwicklung von Energiemärkten und -preisen, zur Gestaltung der Strommärkte, zum Netzausbau, zu Entwicklungen der Netzentgelte und der EEG-Umlage sowie zu Flexibilitätsoptionen im Elektrizitätssystem.
UJ: Prof. Möst, Ihre Expertise ist derzeit auch medial gefragt wie selten – zuletzt im Zusammenhang mit Szenarien rund um die Möglichkeiten eines Lieferstopps russischen Erdgases. Aber schon länger ist der Energiemarkt extrem in Bewegung, ganzen Branchen droht die Wettbewerbsunfähigkeit, weil in Deutschland teilweise die Energiekosten den Warenwert des Produkts übertreffen. Was steckt hinter diesen exponentiellen Preisentwicklungen – beruhen sie klassisch und ausschließlich auf »Angebot und Nachfrage« oder gibt es wesentliche andere Faktoren?
Prof. Dominik Möst: Hier muss man die Entwicklungen für Erdöl und Erdgas unterscheiden. Der Rohölpreis ist im Vergleich zu Erdgas, aber auch im Vergleich zu historischen Erdölpreisen, nicht extrem angestiegen: Bereits im Sommer 2008 lagen die Erdölpreise in der Spitze bei 140 Dollar je Barrel und zwischen Februar 2011 und September 2014 dauerhaft über 100 Dollar je Barrel. Heute liegen wir mit leicht über 100 Dollar je Barrel in einer ähnlichen Größenordnung wie in den genannten Jahren. Die jetzige Entwicklung lässt sich gut über Angebot und Nachfrage erklären und anhand der historischen Preisentwicklungen und Fördervolumina – jeweils bezogen auf Preise mit hohen Erdölpreisen – veranschaulichen. Vor der zweiten Erdölkrise Ende der 70er-Jahre lag die weltweite Förderung bei zirka 65 Millionen Barrel pro Tag und die OPEC drosselte die Fördervolumina um zirka fünf Prozent, um die westlichen Länder bezüglich ihrer Unterstützung Israels unter Druck zu setzen. In der Folge kam es zu starken Preisanstiegen, allerdings in einer deutlich drastischeren (und nicht vergleichbaren) Dimension als heute. Um der Knappheit des Angebots zu begegnen, mussten neue Erdölförderungen außerhalb der OPEC erschlossen werden, die die OPEC-Drosselung und den Nachfrageanstieg befriedigen konnten. Während der Finanzkrise von 2007 bis 2009, die ebenso eine Erdölkrise war, lag die weltweite Förderung bei bereits 87 Millionen Barrel pro Tag und weitere Förderkapazitäten zur Befriedigung der Nachfrage waren notwendig. Hier spielten die USA eine große Rolle, die ihre Förderung von zirka 7,5 Millionen Barrel pro Tag 2005 mithilfe von Fracking auf über 15 Millionen Barrel pro Tag 2020 steigern konnten und mit dieser Produktionssteigerung der größte Anbieter von Erdöl noch vor Saudi-Arabien wurden. Damit wurde der Nachfrageanstieg nach der Finanzkrise im Wesentlichen mit der zusätzlichen Förderkapazität aus den USA befriedigt. Vor der Coronakrise lag die Erdölförderung bei bereits etwas über 100 Millionen Barrel pro Tag und ist in der Coronapandemie 2020 aufgrund des Nachfrageeinbruchs um grob acht Prozent zurückgegangen. Aktuell kommen wir in eine Situation, in der die Nachfrage wieder deutlich angezogen hat und eine weitere Ausweitung der Förderkapazität in den nächsten Jahren voraussichtlich auf 103 bis 108 Millionen Barrel pro Tag (trotz der weltweiten Bemühungen um Klimaschutz) global nachgefragt sein wird. Neben den USA und Saudi-Arabien verfügt Russland als drittwichtigster Akteur über ein Produktionsvolumen von zirka elf Millionen Barrel pro Tag. Unabhängig von einem möglichen Embargo sind die Lieferungen aus Russland bereits um mehr als zehn Prozent seit der Invasion eingebrochen. Die weitere Preisentwicklung im Erdölmarkt hängt davon ab, wie viel Angebot Russland in die asiatischen Märkte umleiten kann, insbesondere nach China und Indien, die einen Anreiz haben könnten, von den Preisabschlägen auf russisches Erdöl zu profitieren. Neben der Unsicherheit des russischen Angebots und dessen Nutzung spielen aber auch die OPEC und etwaige Produktionsausweitungen, ein möglicher Iran-Deal sowie die weitere Entwicklung der Nachfrage bei hohen Preisen eine wichtige Rolle. Ein Extremszenario, in dem russisches Erdöl zu Teilen wegfällt und keine Produktionserhöhungen anderer Länder angeboten werden und in dem der Preis für Erdöl noch deutlich weiter in Richtung von 150 Dollar pro Barrel ansteigen würde, ist zwar nicht auszuschließen, aber an den Terminmärkten für Rohöl zeigen die Preise bereits für die nächsten Monate eine leichte Abwärtstendenz. Dennoch ist davon auszugehen, dass die hohen Erdölpreise aufgrund der dargestellten Entwicklungen nicht so schnell das niedrige Preisniveau der letzten Jahre erreichen werden.
Im Erdgasmarkt ist die Situation noch deutlich angespannter und auch absehbar dauerhafter. Die Preise für Erdgas lagen in den letzten 20 Jahren in der Größenordnung von 15 bis maximal 30 Euro pro MWh. Bereits im November 2021 sind die Preise auf über 100 Euro je MWh angestiegen und haben sich damit bis zum dahin existierenden Preisniveau fast verfünffacht. Ähnlich wie im Erdölmarkt hat sich nach einem coronabedingten Nachfrageeinbruch von ca. 3% die globale Nachfrage nach Erdgas wieder erholt und ist angestiegen. So sind auch im asiatischen Erdgasmarkt extreme hohe Preise zu beobachten. Neben der physischen Knappheit wurden im europäischen Markt als Erklärungsversuche für diesen immensen Preisanstieg auch das Ausüben von Druck auf die Genehmigung von Nordstream 2 und der Versuch europäische Akteure weg von den Spotpreiskontrakten hin zu Langfristverträgen zu bewegen, genannt. Retroperspektiv wird stellenweise der Aufbau von Druckmitteln in Vorbereitung eines anvisierten Krieges als Erklärung für Marktentwicklung genannt. Mit der russischen Invasion sind die Preise dann vereinzelt auch auf über 350 Euro je MWh angestiegen und haben sich in der Zwischenzeit bei etwas über 100 Euro je MWh festgesetzt und liegen damit deutlich über dem bisherigen Preisniveau. Das russische Gas hat einen Anteil von zirka 40 Prozent im europäischen Markt und soll voraussichtlich deutlich zurückgefahren werden. Kurzfristig lässt sich ein etwaiger dauerhafter Wegfall russischen Gases kaum kompensieren und auch die Erdgaspreise werden auf einem deutlich höheren Niveau verbleiben. Dies liegt einerseits an der fehlenden Angebotsflexibilität – das heißt, die Menge lässt sich nicht so einfach ersetzen oder einsparen – und andererseits daran, dass die Alternativen tendenziell teurer sind. Liquified Natural Gas, welches einen Großteil der russischen Lieferungen ersetzen soll, wird weltweit nachgefragt, steht damit im weltweiten Wettbewerb und ist daher vergleichsweise teurer im Einkauf. Entsprechend zeigen die Terminmärkte für Erdgas für fast bis Ende des nächsten Jahres noch Preise in der Größenordnung von 100 Euro je MWh. Die Markterwartung deckt sich damit mit meiner Einschätzung, dass Erdgaspreise vorerst auf einem sehr hohen Niveau signifikant über dem Preisniveau der letzten Jahre bleiben werden. Da Erdgaskraftwerke in vielen Stunden des Jahres den Preis setzen, werden Strompreise absehbar teurer bzw. sind es auch bereits.
UJ: Wie wäre eine gezielte Einflussnahme auf diese für die gesamte Volkswirtschaft und den sozialen Frieden so bedenkliche Preisentwicklung sinnvoll und realistisch möglich? Eine Verstaatlichung dieses essentiellen Sektors – wie zuletzt vereinzelt wieder gefordert – könnte die Ausrichtung auf Shareholder Value und Maximalprofit eindämmen. Aber wäre es auch eine nachhaltige, »gesunde« Lösung für den Sektor?
Rein aus ökonomischer Perspektive sind hohe Preise ein Anreizsignal zur Bereitstellung eines weiteren Angebots und zur Reduktion der Nachfrage. Die unsichtbare Hand des Marktes übernimmt damit diese wichtige Koordinationsaufgabe und löst diese auch sehr effizient. Unabhängig davon ist bzw. wird im Erdgasmarkt der Preissprung beim Endkunden allerdings immens sein. In der Industrie haben die hohen Großhandelspreise für Erdgas bereits starke Auswirkungen auf Produktionsentscheidungen und führen zu einer Reduktion der Nachfrage nach Erdgas: Beispielhaft kommen Erdgaskraftwerke nur noch dann zum Einsatz, wenn diese für die Bereitstellung der Stromlasten erforderlich sind. Auch ist die von Erdgas abhängige Ammoniakherstellung und in der Folge die Düngemittelherstellung bereits stark reduziert. Im Gegensatz dazu ist der Haushaltskunde wegen der zeitlich nachgelagerten Tarifanpassung bisher – mit Ausnahme von Kunden, die aktuell auf der Suche nach neuen Tarifverträgen sind - kaum betroffen. Bezogen Haushaltskunden durchschnittlich Erdgas in der Größenordnung von ungefähr sechs Cent je kWh in den letzten Jahren, ist davon auszugehen, dass sich diese Tarife aufgrund der gestiegenen Großhandelspreise zeitlich nachgelagert deutlich erhöhen werden, in einem nicht völlig unrealistischen Fall auf sogar zwölf bis 14 Cent je kWh. Damit werden sich die Kosten für die erdgasbezogene Wärmebereitstellung im nächsten Winter tendenziell mindestens verdoppeln. Entsprechend wird die Politik Entscheidungen treffen müssen, wie mit dieser Mehrbelastung umzugehen ist. Bei den Treibstoffpreisen, die im Vergleich zu den Erdgaspreisen eher moderat angestiegen sind, wurde ja bereits politisch reagiert.
Eine Verstaatlichung des Sektors halte ich nicht für zielführend, da die grundsätzliche Problematik hoher weltweiter Großhandelspreise damit nicht gelöst wird. Hier stellt sich vielmehr die Frage, ob in einer kontrafaktischen Welt einer verstaatlichten Energieversorgung die Abhängigkeit von Erdgas ebenso angestiegen wäre. Diese Frage lässt sich natürlich nicht beantworten. Aber auch für verstaatlichte Institutionen wären der Bezug von deutlich günstigerem Erdgas über Pipelines aus Russland attraktiv gewesen. Projekte wie Nord Stream 1 und 2, die im Übrigen im Wesentlichen zur Diversifikation der Durchleitungsinfrastruktur (Stichwort Umgehung der Ukraine) und weniger zur Diversifikation der Angebotsländer selbst beigetragen haben – wurden ja nicht nur durch Unternehmen, sondern mindestens ebenso stark politisch vorangetrieben. Die Warnungen bezüglich dieser Abhängigkeit – meist ausgesprochen durch die USA – wurden sowohl in der Energiewirtschaft als auch der Politik nicht ernst genug genommen. Zukünftig sind aber weitere zahlreiche Herausforderungen in der Energiewirtschaft zu lösen, insbesondere die Reduktion der Treibhausgasemissionen. Diese Herausforderung ist mit den hohen Gaspreisen und den als Übergangstechnologie angedachten Gaskraftwerken nicht einfacher geworden.
Generell bin ich der Meinung, dass ein funktionierender Markt gemeinsam mit einem politisch gut gestalteten Ordnungsrahmen die Ziele deutlich effizienter erreichen kann als ein verstaatlichter Sektor.
UJ: Wenn der Krieg Russlands gegen die Ukraine unerwarteter Weise ganz rasch vorbei wäre – in welcher Geschwindigkeit würde das zu einer Normalisierung an den Energiemärkten führen? Meist ist nach Preissteigerungen ja trotz des Wegfalls der ursprünglichen Gründe kaum eine adäquate Umkehr zu beobachten und das Preisniveau bleibt höher als zuvor.
Ein rasches Ende des Krieges gegen die Ukraine wäre wünschenswert, die Auswirkungen auf den Energiemarkt sind allerdings kurzfristig eher begrenzt. Im Erdölmarkt sind zusätzliche Förderkapazitäten erforderlich, um den weiteren weltweiten Nachfrageanstieg zu bedienen. Hier wird sich zeigen, welche Länder zur Ausweitung der Produktion auf über 100 Millionen Barrel pro Tag beitragen werden. Und natürlich ist mitentscheidend, wieviel von dem russischen Angebot mit einer Förderkapazität von zirka elf Millionen Barrel pro Tag im weltweiten Erdölmarkt zur Verfügung stehen wird.
Im Erdgasmarkt werden die Auswirkungen noch deutlich länger zu spüren sein. Denn hier wird im europäischen Markt eine grundsätzliche Abkehr von russischem Gas angestrebt. Entsprechend ist die zu ersetzende Menge auf dem Erdgasmarkt aktuell nur zu deutlich höheren Preisen als das russische Pipelinegas beschaffbar. Und auch die Energieinfrastruktur ist umzubauen. Die angedachten LNG-Terminals werden frühestens in ein paar Jahren zur Verfügung stehen und ermöglichen dann den Einkauf von LNG-Gas in Konkurrenz zum asiatischen Markt. Die Preise für Erdgas werden daher mittelfristig auf einem höheren Niveau bleiben als wir dies bisher in den letzten Jahrzehnten gewohnt waren.
Die Energiewende, insbesondere der Ausbau erneuerbarer Energien und die Umsetzung von Energieeinsparmaßnahmen, kann gegen diese hohen Brennstoffpreise Abhilfe schaffen und ist daher mit Nachdruck voranzutreiben. Das jetzige Momentum muss unbedingt für eine schnellere Umsetzung in der Energiewende genutzt werden. Der Beitrag einer weiter beschleunigten Energiewende ist wichtig und unverzichtbar, dennoch bleiben die globalen Herausforderungen beim Klimaschutz bestehen. Der weitere globale Produktionsanstieg von Erdöl – aber auch Erdgas und Kohle – mag einen verwundern, steht dieser doch im Zielkonflikt mit dem globalen Ziel einer Reduktion der Treibhausgasemissionen. Die Vorgabe einer Treibhausgasreduktion bedeutet schließlich nichts anderes, als dass die fossilen Ressourcen im Boden verbleiben müssten (zumindest sofern kein Carbon Capture and Storage genutzt werden soll). Die Entwicklungen der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte zeigen allerdings eine globale Zunahme der fossilen Förderung trotz internationaler Klimaschutzabkommen, auch wenn erneuerbare Energien unbestritten eine zunehmend wichtige Rolle bei der Befriedigung des globalen Energienachfrageanstieges spielen. Die Energiewende profitiert einerseits von den hohen Brennstoffpreisen, da erneuerbare Energien relativ zu den fossilen Brennstoffen günstiger werden. Andererseits wird der Ausbau erneuerbarer Energien vermutlich in den nächsten Jahren auch von steigenden Rohstoffpreisen und knapperen staatlichen Finanzierungen betroffen sein, so dass unter Umständen eine stärkere Priorisierung erforderlich werden wird. Zu Bedenken ist dabei, dass es sich bei der Energiewende um einen Marathon mit Zeitrahmen der nächsten Jahrzehnte handelt, der allerdings mit der Geschwindigkeit eines Sprints zu leisten ist. Entsprechend groß bleiben die Herausforderungen in der Energiewirtschaft.
Mit Prof. Dominik Möst sprach Konrad Kästner.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 7/2022 vom 12. April 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.