Südostasien auf dem Weg zur modernen Verfassungsstaatlichkeit? – Dresdner Vorträge zu Recht und Politik der Vereinten Nationen
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind in fast allen Verfassungen der Mitgliedsstaaten der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) verankert. Auch bekennen sich ihre Mitglieder in der 2008 in Kraft getretenen ASEAN-Charta zu den Grundprinzipien moderner Verfassungsstaatlichkeit. Zwischen dem in ihnen formulierten Anspruch und ihrer Durchsetzung besteht jedoch eine große Diskrepanz.
Zu diesem Thema referierte Herr Clauspeter Hill, Leiter des in Singapur ansässigen „Rechtsstaatsprogramms Asien“ der Konrad-Adenauer-Stiftung, am 18. Mai 2011 im Rahmen der Dresdner Vorträge zu Recht und Politik der Vereinten Nationen. Organisiert wurde der Vortrag von der Forschungsstelle Vereinte Nationen und dem Zentrum für Internationale Studien (ZIS) der TU Dresden.
Formal modern und gut gestaltet, lassen sich die südostasiatischen Verfassungen materiell nicht ohne weiteres mit westlichen Vorstellungen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung vergleichen. Insbesondere unterscheidet sich das Menschenrechtsverständnis der Region deutlich von europäischen Auffassungen. Menschenrechte werden nicht als Abwehr- und Teilhaberechte eines als Wert an sich definierten Individuums verstanden. Das Individuum steht nicht im Mittelpunkt der Gesellschaft, sondern wird lediglich als funktionales Gebilde in einer streng hierarchisch geprägten Ordnung begriffen. Nach diesem Verständnis bietet der starke Staat dem Einzelnen den Rahmen, der notwendig ist, um sich selbst zu verwirklichen. Dies erklärt, warum Demokratiebestrebungen in der Zivilgesellschaft vieler südostasiatischer Staaten nicht sehr stark ausgeprägt sind.
Große Probleme für die Verwirklichung moderner Verfassungsstaatlichkeit bereiten zudem Nepotismus und Korruption. Insbesondere Korruption ist in Südostasien weit verbreitet. Unvereinbar mit dem Rechtsstaatsprinzip, wird sie in der Bevölkerung und in der Justiz in großem Umfange praktiziert und akzeptiert. Nicht nur wegen der Korruption, sondern auch wegen des großen politischen Drucks der staatlichen Machtapparate, kann in vielen Staaten Südostasiens nicht von einer unabhängigen Justiz gesprochen werden.
Trotz der noch vielfach fehlenden Akzeptanz der Grundwerte des modernen Verfassungsstaates und des Mangels an wirksamen Mechanismen zur Durchsetzung der Verfassung als unmittelbar geltendes Recht gibt es in der ASEAN-Gemeinschaft aber auch hoffnungsvolle Signale. So haben vier der zehn Mitgliedsstaaten nationale Menschenrechtskommissionen eingerichtet, die intensiv miteinander kooperieren. Im Jahre 2009 wurde zudem die ASEAN Intergovernmental Commission on Human Rights (AICHR) gegründet, welche sich zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit bekennt. Auch die AICHR hat jedoch mit den großen politischen Widerständen gegen einen effektiven Menschenrechtsschutz in der Region zu kämpfen und nimmt daher bislang nur eine beratende Funktion ein.
Die Entwicklung zu echter Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist in den Staaten Südostasiens mithin noch lange nicht abgeschlossen. „Es ist ein sehr langsamer Prozess, der aber durchaus im Gange ist.“, so Hill. „Und auch jeder Millimeter ergibt irgendwann einen Kilometer.“
Text: Jonathan Schaub
Fotos: Jonathan Schaub