01.07.2025
Forschung neu denken: Prof. Christian Beste über seine Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin

Prof. Christian Beste
Seit seiner Gründung im Jahr 1981 lädt das Wissenschaftskolleg zu Berlin jährlich 30 bis 40 herausragende Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt ein, um ein Jahr lang frei von externen Verpflichtungen an eigenen Projekten zu arbeiten. Diese „Lerngemeinschaft“ soll nachhaltige wissenschaftliche Innovationen sowie intellektuelle Freiheit fördern. Jedes Jahr kommen Forschende aus den Geisteswissenschaften, den Sozialwissenschaften und den Life Sciences mit Künstlern und Künstlerinnen auf dem kleinen Campus des Wissenschaftskollegs im Westen Berlins zusammen.
Für das akademische Jahr 2027/28 wurde Prof. Christian Beste, Professor für Kognitive Neurophysiologie an der TU Dresden und Direktor des University Neuropsychology Centre (UNC), als Fellow berufen. Im Interview spricht er über seine Bewerbung, seine Pläne für die Fellowship und darüber, was das Wissenschaftskolleg zu einem besonderen Ort macht.
Die Auswahl zum Wissenschaftskolleg zu Berlin gilt als hochkompetitiv. Wie haben sie von dieser Einladung erfahren und was ging ihnen im Moment durch den Kopf?
Ich habe mich in einem offenen, kompetitiven Verfahren beworben. Die Grundidee des Wissenschaftskollegs ist, Forschenden Freiraum zum Denken zu geben. In einem interdisziplinären Setting können Fellows neue Impulse bekommen, ihre eigene Forschung reflektieren und auch neue Felder erkunden. Am Kolleg treffen nicht nur Neurowissenschaftler:innen, sondern auch Vertreter:innen der Wirtschaftswissenschaften, der Sozialwissenschaften, der Kunst, der Literatur aufeinander – das gesamte Spektrum der Disziplinen ist dabei. Ziel ist es, eine selbstgewählte Fragestellung theoretisch-konzeptionell zu bearbeiten. Man soll im Bewerbungsverfahren eine Idee skizzieren, die bestimmte Fragestellungen in einen passenden theoretischen Rahmen einbettet. Die Bewerbung wird international begutachtet und anschließend durch den Wissenschaftlichen Beirat bewertet. Dabei wird geprüft, ob das Thema zur Ausrichtung des Kollegs passt und wie sich aus den ausgewählten Projekten ein interdisziplinäres Team zusammenstellen lässt. Es gibt rund dreißig Plätze pro Jahr, für die sich Forschende weltweit bewerben – die Erfolgschancen sind also recht gering. Umso größer war meine Freude, als ich die Zusage und den Einladungsbrief erhielt. Für mich ist das eine besondere Möglichkeit, nicht nur meine Forschung, sondern auch den Bereich, den ich an der Medizinischen Fakultät vertrete, voranzubringen.
Ihre Fellowship beginnt erst im September 2027. Glauben Sie, dass diese Perspektive Ihre Arbeit schon jetzt beeinflussen wird?
Ja, definitiv. Oft heißt es, dass man mehr aus einem solchen Aufenthalt mitnimmt, wenn man ihn gut vorbereitet. Ich werde in dieser Zeit auch in Berlin wohnen. Die Idee ist, gezielt Expert:innen für zwei bis drei Tage als Gäste ans Kolleg einzuladen, um mit ihnen spezifische Teilaspekte meines Vorhabens zu bearbeiten. Dafür ist natürlich einiges an Planung nötig. Ich muss mir überlegen, welche Themen ich wann im Kolleg angehe, und die potenziellen Gesprächspartner frühzeitig kontaktieren, damit sie zu den jeweiligen Zeitpunkten verfügbar sind. Obwohl die „heiße Phase“ erst in gut anderthalb Jahren beginnt, werde ich bereits Ende dieses Jahres mit einzelnen Gästen Kontakt aufnehmen. Wenn man erst vor Ort damit beginnt, ist es eigentlich zu spät. Die acht Monate, die ich am Kolleg verbringen werde, müssen genauso gut vorbereitet sein, und zwar acht Monate im Voraus. So kann man die Zeit vor Ort wirklich produktiv nutzen.
Sicherlich hat auch die Bewerbung viel Zeit in Anspruch genommen. Wie lange haben Sie dafür gebraucht?
Das war tatsächlich ein längerer Prozess. Das Thema, mit dem man sich bewirbt, soll innovativ und visionär sein; etwas, das noch nicht erforscht ist und wirklich neue Türen öffnet. Das bedeutet, man muss sich selbst ein bisschen auszoomen: Wo steht man? Wo möchte man hin? Und ist das, wohin man möchte, wirklich etwas Neues? Gibt es Anknüpfungspunkte an andere wissenschaftliche Disziplinen, von denen man in der Kollegstruktur profitieren kann? Das Kolleg fordert explizit auf, sich mit der eigenen Idee im Kontext der Interdisziplinarität auseinanderzusetzen. Man muss schon im Rahmen der Bewerbung reflektieren, wie diese Idee nicht nur von Nachbardisziplinen, sondern auch von allen anderen Wissenschaftsbereichen betrachtet wird.
Apropos Interdisziplinarität: Sie engagieren sich bei der Agentur für Überschüsse in der Wissenschaftskommunikation und setzen dabei unter anderem kreative Formate ein. Werden Sie diese Tätigkeit am Kolleg fortsetzen oder weiterentwickeln?
Ja, es ist eine stetige Tätigkeit. Gemeinsam mit drei Kollegen, einem Neurologen, einem kognitiven Psychologen, und einem Medienwissenschaftler produziere ich regelmäßig Podcasts. In den kommenden Wochen planen wir die nächsten Aufnahmen. Ich kann mir gut vorstellen, die Zeit am Kolleg auch dafür zu nutzen, um neue Impulse für die Wissenschaftskommunikation zu gewinnen, vor allem durch Gespräche mit Wissenschaftler:innen aus ganz anderen Disziplinen. Diese verschiedenen Perspektiven kann ich direkt vor Ort für unseren Podcast aufnehmen.
Nun zum eigentlichen Kern Ihrer Arbeit. Wenn Sie es verraten dürfen, worum genau wird es in Ihrer Zeit am Kolleg gehen?
Im Zentrum steht die Frage, wie Ideen entstehen, und das möglichst breit gefasst. Wie kommt ein Patient mit Psychose auf eine bestimmte Idee, die er in diesem Moment als Realität erlebt? Wie entsteht bei mir die spontane Idee, zum Kühlschrank zu gehen? Wie komme ich zu dieser willentlichen Handlung? Ideen über bestimmte Zustände, die nach einer Handlung erreicht werden, bilden die Grundlage unseres Handelns. Intentionale Handlungen und deren Störungen bei neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen sind relativ gut erforscht. Doch kaum jemand hat bislang gefragt: Wie entsteht überhaupt die Idee, auf der eine Handlung basiert? Genau diese Frage möchte ich auf der theoretischen Ebene im Kolleg vertiefen. Dafür ziehe ich Perspektiven aus der Neurophysiologie, der Psychologie sowie aus der Soziologie und Rechtswissenschaft hinzu. Was bedeutet zum Beispiel Schuldfähigkeit? Zählt nur die Handlung oder die dahinterstehende Absicht? Bei den juristischen Begriffen „Mord“ und „Totschlag“ führt dieselbe Handlung zu unterschiedlichen Bewertungen, weil die zugrundeliegende Idee unterschiedlich ist. Diese Fragen haben Implikationen sowohl für die neurologische und psychiatrische Forschung als auch für das menschliche Verhalten im Alltag. Auch Ideen und Kreativität hängen sehr eng miteinander zusammen. Was ist die Idee in der Kunst? Und wie entstehen die Ideen hinter den verschiedenen Interpretationen von Kunststücken? Mit dem Begriff „Idee“ möchte ich eine Art Knotenpunkt bilden, an dem unterschiedliche Disziplinen miteinander in Austausch kommen und einen Mehrwert für sich schaffen.
Gibt es weitere Aspekte, die diese Fellowship besonders machen?
Am Kolleg geht es darum, unkonventionelle Wege zu erkunden und einfach mal in einer völlig anderen Richtung zu denken. Dafür braucht es kreativwissenschaftlichen Freiraum, den man in unserem Alltag mit Forschung, Klinik, diversen Arbeitsgruppen und einem vollgepackten Kalender kaum hat. Deshalb organisiert das Kolleg dieses kompetitive Auswahlverfahren und zahlt den Fellows ihr Gehalt, um sie quasi „freizukaufen“. So bekommt man die einzigartige Möglichkeit, ganz andere Denkansätze zu verfolgen und das eigene Forschungsfeld neu zu interpretieren.
Wenn wir auf den Sommer 2028 nach Ihrem Aufenthalt am Kolleg blicken, was wünschen Sie sich für Ihre Forschung und Ihre weitere Karriere?
Ich werde den ersten Teil des Aufenthalts, von 2027 bis Anfang 2028, dafür nutzen, mein Themenfeld systematisch zu sondieren, es mit anderen Fellows zu diskutieren und gezielte Fragestellungen zu entwickeln. Diese möchte ich in Form von Opinion Papers sowie Anträgen für weitere Forschungsförderung umsetzen. Die theoretische Arbeit am Kolleg dient somit als Grundlage für künftige empirische Projekte. An einem bestimmten Punkt muss man sich die Frage stellen, wie es weitergeht. Ich hoffe, dass mir der Aufenthalt am Kolleg den Raum gibt, mögliche Pfade auszulegen, die ich anschließend weiterverfolgen kann.
Welche Tipps würden Sie Kolleg:innen mit auf den Weg geben, die sich ebenfalls um die Fellowship bewerben möchten?
Das ist auf keinen Fall eine Bewerbung, die man mal eben an einem Wochenende schreibt. Man sollte sich wirklich viel Zeit nehmen, um sich klarzumachen: Was möchte ich dort eigentlich machen? Was bringt mir der Aufenthalt? Wie kann ich ein Konzept entwickeln, das sich deutlich von klassischen Forschungsanträgen unterscheidet? Normalerweise arbeitet man mit klaren Fragestellungen, aber darum geht es hier nicht. Man muss aus der wissenschaftlichen Komfortzone herauskommen und neue Denkpfade einzuschlagen. Letztes Jahr habe ich die Sommermonate über an meiner Bewerbung gearbeitet. Man muss die eigene Fragestellung so aufschreiben, dass sie im interdisziplinären Kontext verständlich und relevant ist. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, eine cutting-edge Idee so zu formulieren, dass Menschen aus ganz anderen Fachrichtungen dies auch als relevant für ihre eigene Fachrichtung erachten. Dieses Wechselspiel darzustellen, ist die Kunst. Schließlich kommt die Zeit zum Nachdenken leider oft zu kurz. Doch genau diese Zeit brauchen wir, um Innovationen voranzutreiben.