07.02.2019
»Das Thema geht uns alle an!« - Warum TUD-Forscher ein Netzwerk für Suizidprävention gegründet haben
In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen, Gewaltverbrechen und Aids zusammen: jedes Jahr rund 10 000 Personen. Von 643 im Jahr 2015 in Sachsen registrierten Suiziden entfielen 488 auf Männer und 155 auf Frauen. Im gleichen Zeitraum starben 1028 Männer und 939 Frauen infolge von Unfällen. Bei 15- bis 25-Jährigen sind Suizide die zweithäufigste Todesursache.
Es gibt zahlreiche Hilfsmöglichkeiten für Menschen in Lebenskrisen. Doch diese werden zu wenig genutzt. »Über Zahnarztprophylaxe reden wir selbstverständlich. Aber über Suizide wird ungern gesprochen. Das ist schade und gefährlich«, sagt Professorin Susanne Knappe vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden. »Wächst das Bewusstsein für die Thematik, kann effektiv Leben gerettet werden. Das geht uns alle an!« Die Psychologin gehört zu einer Arbeitsgruppe, die im Dezember 2017 gemeinsam mit dem Werner-Felber-Institut für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen das »Netzwerk für Suizidprävention in Dresden«, kurz NeSuD, gegründet hat. Das Bundesministerium für Gesundheit investiert bis zum Jahr 2020 insgesamt dreieinhalb Millionen Euro in Forschungsprojekte zur Suizidprävention. NeSuD ist eins von 14 Vorhaben bundesweit, das eine Förderung bekam – 424 000 Euro wurden bewilligt. Dr. Ute Lewitzka vom
Werner-Felber-Institut leitet das Projekt in Kooperation mit Professor Jürgen Hoyer und Professorin Susanne Knappe vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden.
Im Rahmen dieser Ausschreibung wird noch ein weiteres Projekt aus Dresden vom BMG gefördert: Das UniversalRaum-Institut für evidenzbasierte Architektur im Gesundheitswesen ist eine TUD-Ausgründung unter Leitung von Dr. Nadine Glasow, das sich mit baulicher Suizidprävention beschäftigt.
Beim ersten Treffen des Netzwerkes für Suizidprävention in Dresden im September 2018 besprachen 30 Akteure unterschiedlicher Professionen die künftige gemeinsame Arbeit. Dabei einigten sie sich auf ein Positionspapier, das nicht nur bestehende Barrieren für suizidgefährdete und suizidale Menschen auflistet (begrenzte Versorgungskapazitäten im ambulanten und stationären Bereich, nicht optimal verwendete Ressourcen, komplizierte Weitervermittlung in stationäre Behandlungsangebote, Schulungsbedarf für Fachpersonal, fehlende Aufklärungskampagnen über Suizidalität), sondern auch konkrete Ideen und Maßnahmen für eine bessere Versorgung formuliert.
Hauptziel des Netzwerkes ist, Wissen über psychische Belastungen und Suizidalität bei Jugendlichen und Erwachsenen zu vermitteln und über bestehende professionelle Hilfsangebote in der Region zu informieren. Eine eigene Internetseite soll noch dieses Jahr online gehen. Ab Frühjahr 2019 sollen präventive Informationsangebote in allen Oberschulen und weiterführenden Schulen starten. »Kinder und Jugendliche sind die wichtigste Gruppe, die wir erreichen wollen. In Krisen empfinden sie die Eltern oft als nicht die geeigneten Ansprechpartner oder sie haben niemanden, mit dem sie über ihre Nöte reden können«, sagt Professorin Susanne Knappe, die auch das Ausbildungsprogramm Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie an der IAP-TU Dresden GmbH leitet. Auch in Pflegeheimen gibt es hohe Suizidraten. Senioren mit behandlungsbedürftigen psychischen Leiden kommen schwer an Hilfsmaßnahmen heran, schätzen die Experten ein.
»Psychische Gesundheit wird in der Schule nicht thematisiert. Wir wollen zeigen, dass man über Suizidalität reden kann. Suizidalität ist nichts Seltenes«, so Knappe. »Wir wollen niemanden an die Hand nehmen, nur informieren. Unsere Angebote ersetzen eine Behandlung für Erkrankte nicht«, betont die Psychologische Psychotherapeutin. In modularen Elementen, die auch als schulische Projekttage denkbar sind, sollen Videos und Rollenspiele eingesetzt werden und Betroffene zu Wort kommen. Der gewollte Zuwachs an Wissen über psychische Gesundheit bei den Schülern wird evaluiert. Die Informationseinheiten übernehmen nicht die Lehrer, sondern Experten für Suizidalität und junge Leute, die in Schulen gehen. Interessierte Studenten können sich noch bei der NeSuD-Projektleitung melden.
Reaktionen auf die angekündigten schulischen Info-Angebote zur Suizidprävention reichten von »Super!« bis »Solche Probleme haben wir nicht.« »Es gibt viel Interesse, aber auch blinde Flecken«, schätzt Susanne Knappe ein. Sie freut sich, dass zustimmungspflichtige Behörden dem Projekt bisher wohlwollend begegneten. Bedenken gebe es im Vorfeld natürlich auch. Können Krisen nicht erst ausgelöst werden, wenn man darüber spricht? Mythen und irrige Annahmen begegnen Medizinern, Psychotherapeuten und anderen professionellen Helfern oft. »Darüber darf man nicht sprechen, sonst passiert etwas Schlimmes.« Oder: »Wer darüber redet, meint es nicht ernst«, sind nur zwei Beispiele. »Doch!«, stellt Susanne Knappe klar. »Das sind Zeichen höchster seelischer Not. Betroffene wollen eher, dass die Zeit stehen bleibt, dass Ruhe einkehrt. Deshalb lässt sich bestimmt eine Lösung finden.« Niemand soll allein gelassen werden.
Über Warnsignale für Suizidalität weiß die Forschung noch wenig. »Wir sind weit entfernt von einer Checkliste«, sagt Professorin Susanne Knappe und erklärt: »Suizidgedanken treten in Krisensituationen und beispielsweise bei Depressionen auf.« Während die Suizidzahlen etwa gleich bleiben, nehmen die Stressfaktoren im modernen Leben zu. Es werden mehr psychische Erkrankungen diagnostiziert und mehr Menschen als früher sind erschöpft.
Die Netzwerk-Akteure wollen weitere Interessierte in ihre interdisziplinäre Arbeit einbeziehen, zum Beispiel Krankenkassen und die Polizei. Sie planen wissenschaftliche Symposien und Fortbildungsveranstaltungen für Fachkräfte zum Thema Suizidalität. Das zunächst bis Oktober 2020 laufende Drei-Jahres-Projekt soll dauerhaft bestehen bleiben. Dazu tauschen sich die Mitglieder mit ähnlichen Projekten in Thüringen, Hessen oder Bayern aus. Das zweite Netzwerktreffen ist für Frühjahr 2019 geplant, der genaue Termin steht noch nicht fest.
Kontakt zum Netzwerk für Suizidprävention in Dresden über
E-Mail:
Hilfsangebote:
www.nightline-dresden.de
Zuhörtelefon von Studierenden für Studierende. Anonym und vertraulich.
www.u25-dresden.de
Online-Beratungsangebot für Jugendliche und junge Menschen unter 25 Jahren in Krisen und bei Suizidgefahr. Anonym und kostenlos.
Psychosozialer Dienst für Menschen in Krisen Tel.: 0351 488 53 41
Nummer gegen Kummer Kinder- und Jugendtelefon: 0800 1110333
(Mo–Sa: 14–20 Uhr, gebührenfrei)
Telefon des Vertrauens:
0351 8041616, täglich 17–23 Uhr
Weitere Informationen:
www.felberinstitut.de/forschung/
www.suizidprophylaxe.de
www.dresden.de/krisenwegweiser
Dieser Artikel von Dagmar Möbius ist im Dresdner Universitätsjournal 20/2018 vom 11. Dezember 2018 erschienen.