08.05.2025
Kommentar in Nature Mental Health: Julia Ditzer und Jana Ray sprechen über die Notwendigkeit körperliche Vernachlässigung im Kindesalter neu zu bewerten

v.l.n.r. Julia Ditzer, Anna-Lena Zietlow, Jana Ray
Körperliche Vernachlässigung ist eine weit verbreitete, aber oft übersehene Form von Kindesmisshandlung, die tiefgreifende Folgen für die weitere Entwicklung, das psychische Wohlbefinden und die Gesundheit von Betroffenen hat. Körperliche Vernachlässigung wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit bislang wenig beachtet, obwohl sie häufiger auftritt und ebenso gravierende Folgen hat wie andere Misshandlungsformen.
Julia Ditzer und Jana Ray, Doktorandinnen an der Professur für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie unter Leitung von Prof.in Anna-Lena Zietlow, haben gemeinsam mit Kolleginnen von der Professur für Psychopathologie und Klinische Intervention der Universität Zürich (Leitung Prof. Andreas Maercker) einen Kommentar in Nature Mental Health veröffentlicht, in dem sie die Relevanz und Herausforderungen von körperlicher Vernachlässigung deutlich machen und gleichzeitig Empfehlungen für Forschung und Praxis geben. „Körperliche Vernachlässigung von Kindern wird in der Forschung häufig nicht erfasst. Wir nennen das auch „the neglected neglect“ – das wollten wir nicht länger hinnehmen. Denn die Forschung zeigt: Vernachlässigung kann genauso schwerwiegende Folgen haben wie andere Formen von Kindesmisshandlung – doch sie bekommt viel weniger Aufmerksamkeit. Wir haben uns daher die Frage gestellt: „Warum wird körperliche Vernachlässigung so selten valide erfasst? Und was braucht es, damit das gelingt?“ Wenn wir Kinder wirksam schützen wollen, dürfen wir körperliche Vernachlässigung nicht länger als blinden Fleck in Forschung und Praxis behandeln. Wir hoffen, dass unser Kommentar dazu einen Anstoß gibt“, so Julia Ditzer.
Unzureichende Messmethoden und fehlende Definition
DieBewertung von körperlicher Vernachlässigung ist besonders herausfordernd,da sie eine Vielzahl unerfüllter Grundbedürfnisse betreffen kann – darunter etwa unzureichende Ernährung, mangelhafte Bekleidung oder fehlende medizinische Versorgung. Was als Vernachlässigung gilt, variiert stark je nach Kultur und historischen Gegebenheiten. Was in einem bestimmten Land oder zu einer bestimmten Zeit als normal galt, kann heute als Vernachlässigung angesehen werden. Dies erschwert die eindeutige Identifikation von körperlicher Vernachlässigung.
Insgesamt fehlt es an einer einheitlichen, kulturübergreifenden Definition, was die klare Abgrenzung von körperlicher Vernachlässigung zu anderen Missbrauchsformen erschwert. In bisherigen Definitionsvorschlägen besteht zwar Einigkeit darüber, dass im Fall von körperlicher Vernachlässigung Kindern bestimmte körperliche Bedürfnisse vorenthalten werden, aber es herrscht Uneinigkeit darüber, welche spezifischen Bedürfnisse – z.B. Pflege, medizinische Versorgung oder Bildung - einbezogen werden sollten. Außerdem spielen die genauen Umstände und möglichen Ursachen von Vernachlässigung eine bedeutsame Rolle. Ob ein Kind aufgrund von Armut oder durch die Vernachlässigung seiner Bezugspersonen nicht genug zu essen hat, macht einen Unterschied. Beide Umstände können das Wohlbefinden eines Kindes in ähnlicher Weise beeinträchtigen. Für eine gezielte Intervention ist es jedoch wichtig, zwischen körperlicher Vernachlässigung, die durch willentliche Vernachlässigung der Bezugspersonen und solcher, die durchwirtschaftliche Belastungen (z. B, Armut), elterliche Einschränkungen (z. B. Bildung, Behinderung) oder politischen Bedingungen (z. B. Krieg, Flucht) bedingt ist, zu unterscheiden.
Empfehlungen für Forschung und Praxis
Auf Grundlage der dargestellten Vielschichtigkeit in Ursachen und Ausprägungen schlagen die Autor:innen vor, unterschiedliche Definitionen körperlicher Vernachlässigung für die jeweils beteiligten Akteur:innen zu entwickeln. „Für Fachkräfte wie Erzieher:innen oder Sozialarbeiter:innen sollte die Definition möglichst breit gefasst sein, um gefährdete Kinder frühzeitig erkennen zu können – jedoch ohne dabei armutsbetroffene Familien mit begrenzten Ressourcen unnötig zu belasten oder zu stigmatisieren. Damit praktische Hilfsangebote wirksam greifen können, ist ein Verständnis der Hintergründe körperlicher Vernachlässigung zentral – etwa ob Eltern Unterstützung benötigen oder wirtschaftliche Not der Auslöser ist. Zielgerichtete Hilfe erfordert deshalb eine engere interdisziplinäre Zusammenarbeit und verlässliche Finanzierung zwischen sozialen, medizinischen und Bildungseinrichtungen – ebenso wie eine bessere materielle Unterstützung für betroffene Familien“ führt Anna-Lena Zietlow aus. In der Forschung hingegen sollte körperliche Vernachlässigung möglichst differenziert beschrieben– unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede und mit dem Ziel, mehr Studien auch in nicht-westlichen Kulturen durchzuführen. Jana Ray fasst zusammen: „Körperliche Vernachlässigung ist ein komplexes Phänomen, das eine enge und kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Fachkräften unterschiedlicher Disziplinen und Betroffenen erfordert – um das Thema besser zu verstehen, Definitionen zu präzisieren und wirksame Maßnahmen zu entwickeln“.
Originalveröffentlichung:
Julia Ditzer*, Jana Ray*, Myriam V. Thoma, Rahel Bachem, Andreas Maercker, Anna-Lena Zietlow..Rethinking the measurement of physical neglect in research and practice. Nature Mental Health. DOI: 10.1038/s44220-025-00425-3
Kontakt:
Julia Ditzer
Professur für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
Email:
Tel. +49 351463 40313
Jana Ray
Professur für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
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Tel. +49 351463 40313
Prof. Dr. Anna-Lena Zietlow
Professur für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
E-Mail:
Tel. +49 351463 40313