Dec 12, 2023
Für wen gelten die Menschenrechte? Podium zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in der Frauenkirche Dresden.
Derzeit wird in der Europäischen Union die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verhandelt. Doch was beinhaltet die GEAS-Reform und welche Konsequenzen zieht sie mit sich? Im Rahmen der Podiumsveranstaltung am 16.11.2023 wurde sich der kontroversen Reform im Hauptraum der Frauenkirche gewidmet.
Die Panelist:innen Berenice Böhlo (Republikanischer Anwält:innenverein), Osman Oğuz (Sächsischer Flüchtlingsrat) und Dr. Cornelia Ernst (MdPE, Die Linke) stellten sich den Fragen des Moderators Prof. Dr. Dominik Steiger und der knapp 150 interessierten Zuhörer:innen. In den zwei Stunden setzten sie der von Bundesregierung und weiteren Befürworter:innen vertretenen Lesart der GEAS-Reform, als wichtige und alternativlose Einigung, eine kritische Einordnung in menschenrechtlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen entgegen.
Nach einer kurzen Zusammenfassung der Kerninhalte der Reform - beispielsweise der Verlagerung von Asylverfahren an die EU-Außengrenzen, der Ausweitung der sicheren Drittstaatenregelung sowie der Einführung eines Solidaritätsmechanismus‘ (mehr Infos u.a. im Blogartikel der RLC) - entwickelte sich ein dynamisches Gespräch.
Laut Berenice Böhlo würden die für Asylgrenzverfahren nötigen Haftlager bei gleichzeitiger „Nichteinreisefiktion“ rechtsstaatliche Garantien, wie faire Verfahrensstandards und Rechtschutzmöglichkeiten, gemäß Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention systematisch verletzen. Für Osman Oğuz stellte dies allerdings nur bedingt eine Neuerung dar: denn bereits jetzt gäbe es gefängnisähnliche Lager an den EU-Grenzen, so zum Beispiel auf den griechischen Inseln. Nicht nur dort sei die Lage für Geflüchtete katastrophal. In vielen EU-Staaten würden sie unter Pushbacks, Mangelversorgung und Kriminalisierung leiden.
Einig waren sich die Referierenden darin, dass die Reform den Zugang zum Asylrecht drastisch einschränke. Dr. Cornelia Ernst sprach von der sicheren Drittstaatenregelung als „Quasi-Abschaffung des individuellen Asylrechts“. Schließlich würden die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) für „sichere“ Drittstaaten, in die ohne materielle Antragsprüfung abgeschoben werden darf, massiv aufgeweicht. Durch die gesenkten Ansprüche drohe Geflüchteten auch eine Kettenabschiebung in Staaten, in denen sie mit erneuter Verfolgung rechnen müssten. Eine Verletzung des Non-Refoulement-Grundsatzes (Art. 33 GFK), so Böhlo. Da zudem jeder EU-Staat selbst Länder zu „sicheren“ Drittstaaten erklären könne, stelle die Reform für Ernst eher eine Fragmentierung des GEAS statt einer Vereinheitlichung dar.
Gemäß Ansicht aller Referierenden drohe nicht nur Asylsuchenden und ihren Rechten Gefahr, sondern auch unserer liberalen Gesellschaft. Mit der Zustimmung zur Reform übernehme die Bundesregierung ein rechtspopulistisches Narrativ, dass die Universalität der Menschenrechte für Geflüchtete und weitere Minderheiten bestreitet. Auch wenn der Wirkungsbereich der Menschenrechte politisch schon immer umstritten gewesen war und die aktuellen Entwicklungen weder determiniert noch irreversibel seien, müsse nun eine demokratische Zivilgesellschaft entschlossen für ihre allgemeine Gültigkeit eintreten. Und dies, so Oğuz, am besten durch den Einsatz für die Rechte von Geflüchteten und Asylsuchenden.
Organisiert wurde die Veranstaltung von der Refugee Law Clinic Dresden in Kooperation mit der Frauenkirche Dresden und dem Zentrum für Internationale Studien.