Titel
Förderkennzeichen | 02 WA 9605/8 |
Finanzierung | Bundesministerium für Bildung und Forschung |
Bearbeitungszeitraum | 1996 - 1999 |
Projektleitung | Prof. Dr.-Ing. habil. Klaus Lützner (Arbeitsteil TU Dresden) |
Projektbearbeitung | Dipl.-Ing. Volker Kühn Dipl.-Ing. Volker Müller Dipl.-Ing. Klaus Heinze |
Kooperationspartner |
Dr.-Ing. Lutz Klinsmann Dipl.-Ing. Andreas Jacobs
Dr.-Ing. Thomas Hillenbrand Dipl.-Ing. Christiane Schmid Dr.-Ing. Matthew Corley |
Einleitung
Zitat aus Billerbeck et al. (1999)
"Die strikte Einhaltung der gesetzlich vorgegebenen Ablaufwerte für Kläranlagen erfordert in zunehmendem Maße neben dem Einsatz leistungsfähiger Klärverfahren sowie einer ausreichenden Dimensionierung der Klärstufen eine flexible, sich ständig an die wechselnden Belastungszustände und Umgebungsbedingungen anpassende Prozeßführung der Anlage. Aufgrund der starken tageszeit-, wochentags-, jahreszeit und wetterabhängigen Belastungsschwankungen von kommunalen Kläranlagen kommt es je nach Auslastungsgrad der Anlage zu ausgeprägten kurzzeitigen bzw. länger andauernden Schwankungen der Ablaufkonzentrationen.
Auftretenden Belastungsschwankungen und sonstigen Änderungen der Betriebsbedingungen kann in Abhängigkeit von der eingesetzten Klärtechnologie und der technischen Auslegung der Anlage mit dynamischen Änderungen von Betriebsparametern begegnet werden. In der praktischen Betriebsführung einer Kläranlage ist eine permanente Anpassung der Prozeßparameter an den Belastungszustand der Anlage nur über automatische Regeleinrichtungen erreichbar. Vorliegende Konzepte stützen sich jedoch überwiegend auf die Messung von Ablaufwerten. Nachteilig dabei ist, daß auf Belastungsschwankungen im Zulauf erst reagiert werden kann, wenn sie sich - entsprechend der Aufenthaltszeit des Abwassers in der Anlage - im Ablauf bemerkbar machen. Daher wird heute verstärkt nach vorausschauenden Regelungen für Kläranlagen gesucht (Orth/Husmann, 1999; Köllner et al., 1998).
Hinsichtlich der Zielsetzung einer starker automatisierten und optimierten Prozeßführung in der kommunalen Abwasserreinigung fanden in den letzten Jahren verschiedene Veränderungen und Weiterentwicklungen statt, die neue und erfolgversprechende Ansätze für eine weitgehend rechnergestutzte Prozeßführung ermöglichen und daher entsprechende Anstrengungen verstärken:
- Die Meßtechnik hat sich in den vergangenen Jahren sehr rasch weiterentwickelt. Inzwischen stehen für wichtige Meßgrößen (Phosphat, Ammonium, Nitrat) weitgehend zuverlässige Online-Prozeßmeßgeräte zur Verfügung, z.T. werden solche Geräte auf Kläranlagen zur Überwachung bzw. für einfache Steuerungen/Regelungen eingesetzt.
- Mit BSB-Abbau, Nitrifikation, Denitrifikation und biologischer und/oder chemischer Phosphorelimination müssen zukünftig bei der kommunalen Abwasserreinigung vier bzw. fünf verschiedene verfahrenstechnische Prozesse neben- bzw. hintereinander ablaufen. Aufgrund der damit deutlich gestiegenen Komplexität steigt der Bedarf an weitgehender automatisierter Unterstützung des Betriebspersonals bei der Prozeßführung (z.B. in den Nachtstunden, bei Krankheit/Urlaub des Betriebsleiters, bei Extrembedingungen oder Störfallen). Dieser Bedarf wird noch deutlicher bei neuen Anlagenkonzepten (z.B. Kaskadendenitrifikation) oder neuen Klartechniken (z.B. Festbettreaktoren).
- Im Bereich der Hardwareentwicklung von Prozeßrechnem und Prozeßleitsystemen gab es erhebliche Fortschritte. Kostengünstige Prozeßleitsysteme, auch auf PC-Basis, sind inzwischen bei der Abwasserreinigung üblich, so daß solche Systeme auch bei mittleren und kleineren Anlagen genutzt werden. Überwiegend werden sie jedoch hauptsachlich zur Prozeßvisualisierung und -überwachung und zur Realisierung lokaler Standardregelkreise eingesetzt. Die Rechnerkapazität ist dabei oft ausreichend groß, so daß zusätzliche Aufgaben mit übernommen werden können, d.h. eine weitergehende rechnergestützte Prozeßführung kann in diese Systeme integriert werden.
- Zur Regelung der Reinigungsprozesse stehen neben dem Sauerstoffeintrag und der Schlammrückführung zusätzliche Stellgrößen zur Verfügung:
- Bei Neu- bzw. Umbauten von Kläranlagen werden i.d.R. Pufferbecken für die Rückbelastungen vorgesehen, über die die Zulauffrachten insbesondere beim Stickstoff erheblich beeinflußt werden können.
- Für die biologische P-Elimination ist ein zusätzliches anaerobes Becken erforderlich, das jedoch nicht konstant mit der gesamten Abwassermenge belastet werden muß.
- Für die N-Elimination ist es vorteilhaft, die Zonengrößen für Nitrifikation und Denitrifikation flexibel einstellen zu können. Solche Möglichkeiten werden bei den derzeit anstehenden Erweiterungen der Klaranlagen mehr und mehr vorgesehen.
Die in den letzten Jahren stark angestiegenen Kosten für die kommunale Abwasserentsorgung machen zudem verstärkte Anstrengungen zur Kostensenkung erforderlich. Verbesserte Regelungskonzepte können hierzu einen spürbaren Beitrag leisten durch Einsparungen bei den Energiekosten, Senkungen der sonstigen Betriebskosten (Personalkosten, Betriebsmittel) und ggf. durch Reduzierung der Abwasserabgabe. Außerdem wird zukünftig für eine weitere Reduktion der Gewässerbelastungen eine verbesserte Regenwasserbehandlung notwendig werden, die auch zu erweiterten, z.T. immissionsbezogenen Anforderungen an kommunale Kläranlagen führen kann (hydraulische Belastung entsprechend der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Kläranlage)."
Zielsetzung
Zitat aus Billerbeck et al. (1999)
"Aufgabe des Projektes war es, einen biologischen Klärwerksprozeß in seiner Gesamtheit zu betrachten und dafür ein modernes, vorausschauendes Automatisierungskonzept mit dem Ziel zu entwickeln, durch entsprechende Parameterwahl im Gütekriterium die Ablaufwerte möglichst nahe an dem durch die Anlagentechnologie begrenzten Minimalwert zu halten bzw. einen energieminimierten Betrieb anzustreben. Da die Teilprozesse bei der kommunalen Abwasserreinigung (BSB-Abbau, Nitrifikation, Denitrifikation, P-Elimination) sich gegenseitig beeinflussen und das biologische Wachstum nach nichtlinearen Gesetzen verläuft, ist dies mit den bisher verwendeten Eingrößen-Standardreglern strukturell nicht gleichzeitig zu erreichen. Im Rahmen des Vorhabens wurde daher ein hybrides Steuerungskonzept erarbeitet, für das die unterschiedlichen Steuerungs- und Regelungsfunktionen in zwei hierarchisch geordnete Steuerungskomplexe gegliedert sind []:
- Übergeordnete Leitsystemaufgaben wie Überwachungsfunktionen und Entscheidungsfunktionen zur Umschaltung des Betriebsregimes während und nach Mischwasserereignissen, Havarien oder toxischen Einleitungen, Dosierung von Zusatzstoffen und Zuführung von Sondereinleitungen sowie Protokollfunktionen.
- Prozeßnahe Regelung zur dynamischen Prozeßführung der biologischen Abbauprozesse. Dazu wurde ein strukturangepaßter adaptiver Mehrgrößenregler entworfen, der ganzheitlich dem nichtlinearen Charakter des Prozesses gerecht wird und der dadurch eine stabile Prozeßführung auch unter wechselnden Betriebsbedingungen ermöglicht. Durch die Adaptionsfähigkeit des Reglers wird die sehr arbeitsaufwendige Inbetriebnahme einer Kläranlage weitgehend unterstützt und damit vereinfacht.
Zielsetzung war es zudem, den Regler so zu konzipieren, daß er sich prinzipiell an unterschiedliche Klärtechnologien und Anlagenkonfigurationen anpassen läßt und aufgrund der selbstadaptierenden Eigenschaften der Grundregelkreise mit vergleichsweise geringem Implementierungsaufwand sowohl in bestehende als auch in neu zu installierende Anlagentechnik integriert werden kann. Dies schloß auch die Zielsetzung ein, die Regelung mit der bereits auf Kläranlagen vorhandenen, heute gängigen Hardware-Ausstattung zu realisieren und möglichst keine zusätzlichen Anforderungen an eine aufwendige On-line-Meßtechnik zu stellen.
Für die übergeordneten Leitsystemaufgaben wurde ein Beratungs- und Diagnosesystem entwickelt, das
- die Prozeßwerte überwacht und außergewöhnliche oder kritische Betriebszustände meldet,
- fallspezifisch eine Beratung zur Behebung des entdeckten Problems anbietet,
- die Funktion des Reglers überwacht, um ein angestrebtes Betriebsregime zu gewährleisten und die Bedienoberfläche für die Mehrgrößenregelung realisiert und
- ggf. in die Mehrgrößenregelung eingreift, um z.B. durch Sollwertvorgaben die Betriebsführung des Klärwerksprozesses im Sinne geringerer Ablaufwerte zu
verbessern.
Das Beratungssystem ist als Expertensystem konzipiert, wobei der Abwasserreinigungsprozeß objektorientiert modelliert ist und durch regelbasiertes Wissen logische Entscheidungen für die Prozeßführung erzeugt werden.
Bei der prozeßnahen Regelung wurde aufgrund der kinetischen Beziehungen der biologischen Stoffwandlung sowie der Kenntnis des technischen Aufbaus der Anlage von einem theoretisch spezifizierten Regelungsmodell ausgegangen, das die Grundlage für den Entwurf des strukturangepaßten Mehrgrößenreglers bildet (Modelle der IAWQ - Task Group, ASM-1 bis ASM-3; vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.1). Dieser Regler ist parameteradaptiv, d.h. eine quantitative Kenntnis der anlagen- und zustandsspezifischen Parameter ist a-priori für den Entwurf und für den Betrieb des Mehrgrößenreglers nicht erforderlich, sondern der Regler wird durch Auswertung der Messungen zur Reaktion der Kläranlage auf einzelne Stelleingriffe und externe Ereignisse ständig dem momentanen Zustand der Anlage angepaßt. Derartige adaptive Regelungsverfahren werden bereits zur Steuerung von Strom- und Gasversorgungsnetzen, in der Luft- und Raumfahrt und in der chemischen Industrie für die Regelung komplizierter dynamischer Prozesse mit Erfolg eingesetzt (Billerbeck/Klinsmann, 1994; Pfalz/Billerbeck, 1993; Bastin/Dochain, 1990). Der Entwurf wird jeweils auf diejenigen Stell- und Regelgrößen bezogen, die in der technischen Anlage verfügbar und prozeßsignifikant sind. Aus Kausalitätsgründen können jedoch nicht mehr unabhängige Stellgrößen bedient werden als unabhängige Regelgrößen meßbar sind.
Die hybride Struktur des vorgesehenen Automatisierungskonzeptes, die wissensbasierte Entscheidungsfunktionen und hochentwickelte konventionelle Regelungsverfahren in sich vereint, sind die Grundlage dafür, die Adaption an die technischen Besonderheiten der jeweiligen Kläranlagen zu erleichtern und einen zuverlässigen Betrieb in einem weiten Arbeitsbereich zu ermöglichen.
Im Rahmen des Verbundforschungsvorhabens wurden die verfahrens-, regelungs- und steuerungstechnischen Grundlagen des Steuerungssystems entwickelt, in der halbtechnischen Anlage der TU Dresden in Dresden-Kaditz installiert und erprobt sowie abschließend für die Kläranlage Gera mit Hilfe von Simulationsrechnungen auf Basis realer Anlagenwerte die möglichen Wirkungen des Regelungskonzeptes für diese Kläranlage abgeschätzt. Die Arbeitsschwerpunkte der ersten Projektphase waren:
- Entwicklung eines hybriden Steuerungs- und Regelungskonzeptes (Expertensystemschale und adaptiver Mehrgrößenregler) zur rechnergestützten Prozeßführung kommunaler Klaranlagen, das die Minimierung der Ablaufwerte bzw. des Energiebedarfs gestattet;
- Entwurf eines wissensbasierten Systems für die leittechnische Ebene zur Realisierung der zentralen Überwachungs-, Diagnose- und Beratungsfunktionen;
- Entwicklung mehrvariabler Regelungsverfahren, die die aus der leittechnischen Ebene vorgegebenen Sollwertvorgaben für die Ablaufwerte prozeßnah realisieren;
- Erprobung des hybriden Steuerungs- und Regelungskonzeptes anhand rechnergestützter Simulationsmodelle sowie anschließend an einer halbtechnischen Versuchsanlage.
Um eine möglichst direkte spätere Umsetzung der Ergebnisse sicherzustellen, ist ein Folgevorhaben geplant (Projektphase II), in dem in Zusammenarbeit mit Kläranlagenbetreibern und Firmen, die für diese Betreiber die Regelungstechnik in den für Phase II ausgewählten Kläranlagen konzipiert und realisiert haben, die Implementierung und Anpassung des Konzepts auf vorerst zwei Kläranlagen mit unterschiedlichen Anlagenkonzepten realisiert werden soll."
Billerbeck G., Klinsmann L., Jacobs A., Böhm E., Hillenbrand T., Schmid C., Corley M., Lützner K., Kühn V., Müller V., Heinze K. (1999). Entwicklung eines hybriden Steuerungssystems zur rechnergestützten Prozeßführung von Abwasserreinigungsanlagen, Projektphase I. Abschlußbericht zum Forschungsvorhaben.
- Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
- Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme (IVI)
Schlagwörter
Abwasserbehandlung, Steuer- und Regelkonzepte, adaptiver Regler, dynamische Simulation, Belebungsverfahren, MSR-Technik