17.02.2025
Jenseits von Veranlagung, Umwelt und Zufall: Wie individuelle Entscheidungen uns und unser Gehirn formen
Ein internationales Team aus Forschenden unter der Leitung von Prof. Gerd Kempermann am Zentrum für Regenerative Therapien (CRTD) und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) hat zusammen mit Forschenden unter der Leitung von Dr. Hayder Amin (DZNE) einen bisher unbeachteten Mechanismus für die funktionelle Anpassung des erwachsenen Gehirns entdeckt. In Untersuchungen an Mäusen fanden sie heraus, dass Verhaltensentscheidungen zu individualisierten Lernprofilen führen, begleitet von unterschiedlichen neuronalen Netzwerken und einer Zunahme von Neuronen. Diese Arbeit gibt Einblicke, wie selbst eineiige Zwillinge, die im selben Haushalt aufwachsen, oft unterschiedliche Persönlichkeiten entwickeln. Ihre Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Das Gehirn ist das komplexeste Organ des Körpers. Es enthält etwa 100 Milliarden Gehirnzellen, sogenannte Neuronen, die ein kompliziertes Netzwerk bilden. Dieses Netzwerk ermöglicht es uns, komplexe Gedanken zu fassen. Obwohl die meisten Neuronen bereits bei der Geburt vorhanden sind, behalten die Verbindungen zwischen ihnen, die Synapsen, die Fähigkeit zu strukturellen und funktionellen Veränderungen. Diese Plastizität des Gehirns wird durch Erfahrungen und Lernen während des gesamten Lebens gesteuert.
Durch einen Prozess, der als Neurogenese bezeichnet wird, kann das Gehirn neue Gehirnzellen aus neuralen Stammzellen bilden. Während dieser Prozess bei Embryonen üblich ist, bildet das erwachsene Gehirn selten neue Neuronen. Einer der Orte, an denen die Bildung neuer Neuronen auch bei Erwachsenen stattfindet, ist der Hippocampus. Diese Gehirnstruktur ist an Lernen und Gedächtnis beteiligt und kann auf neue Reize reagieren, indem sie neue Neuronen bildet, was es uns ermöglicht, lebenslang zu lernen.
Was genau das erwachsene Gehirn dazu anregt, neue Neuronen zu bilden, ist Gegenstand einer langjährigen wissenschaftlichen Debatte. Nun haben Forschende unter der Leitung von Prof. Kempermann einen bisher übersehenen Faktor erforscht – individuelle Entscheidungen.
Veranlagung versus Umwelt
„Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutierten darüber, ob die Gehirnentwicklung eher durch Gene oder die Umwelt bestimmt wird“, sagt Prof. Gerd Kempermann, Forschungsgruppenleiter am CRTD und DZNE. „In dieser Studie haben wir über diese andauernde Debatte von Anlage versus Umwelt hinausgeschaut, indem wir einen dritten Faktor eingeführt haben, die individuelle Handlungsfähigkeit.“
Handlungsfähigkeit bezieht sich auf die Fähigkeit einer Person, unabhängig zu handeln und Entscheidungen zu treffen, die ihre eigenen Erfahrungen und Ergebnisse beeinflussen. Sie ist die treibende Kraft hinter allen persönlichen Entscheidungen. Die Kempermann-Gruppe untersuchte, wie stark die individuelle Handlungsfähigkeit in Form von bewussten Lernanstrengungen die Gehirnentwicklung bei erwachsenen Säugetieren tatsächlich beeinflussen kann.
Ein spezieller experimenteller Aufbau
Das Kempermann-Team untersuchte eine Gruppe genetisch identischer Mäuse, die in derselben Umgebung lebten. Den Mäusen wurden verschiedene Lernaufgaben gestellt. Für jede erfolgreich abgeschlossene Aufgabe wurden sie mit gesüßtem Wasser als positive Verstärkung belohnt. Falls die Aufgabe nicht abgeschlossen wurde, gab es keine Konsequenzen. Ein solcher Aufbau garantierte, dass die Handlungen der Mäuse nur durch ihre individuellen Entscheidungen bestimmt wurden.
„Wir haben eine innovative und computerüberwachte Lernumgebung verwendet, die es uns ermöglichte, das Verhalten einzelner Mäuse genau aufzuzeichnen. Auf diese Weise konnten wir untersuchen, wie ihr individuelles Lernverhalten während des Experiments ihr Gehirn prägt“, erklärt Prof. Kempermann.
Im Laufe mehrerer Wochen erhöhte das Team schrittweise den Schwierigkeitsgrad der Lernaufgaben. Die angepasste Umgebung veranlasste die Mäuse, ihren Lebensraum bewusst nach neuen Belohnungen zu erkunden. „Durch die Beobachtung ihrer Erkundungsgewohnheiten und ihres Engagements bei den Lernaufgaben konnten wir dann untersuchen, wie gut sich die Mäuse an ihre veränderte Umgebung angepasst haben“, fügt Prof. Kempermann hinzu.
Der Einfluss individueller Handlungen
Im Laufe der Zeit entwickelten die Mäuse zunehmend stabile und einzigartige Muster des Erkundens, Lernens und der Gehirnplastizität. Während einige Individuen schnell neue Herausforderungen annahmen, hörten andere fast sofort auf, ihre Umgebung zu erkunden. Wie in Schulen konnten die Forschenden „bessere Lerner“ und „schlechtere Lerner“ anhand ihrer Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde Aufgaben und der Gesamtzahl der erledigten Aufgaben identifizieren.
Die Kempermann-Gruppe arbeitete mit der Amin-Gruppe zusammen, um herauszufinden, ob sich die Gehirne von besseren und schlechteren Lernern unterschiedlich entwickelt hatten. Dazu untersuchten sie den Hippocampus, eine Gehirnstruktur, die am Lernen und Gedächtnis beteiligt ist. Mit Hilfe der hochmodernen Multi-Elektroden-Array-Technologie untersuchten sie die Stärke der Netzwerkverbindungen innerhalb des Hippocampus und entdeckten, dass bessere Lerner ein besser vernetztes Netzwerk in ihrem Gehirn hatten.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass, wenn sich Mäuse dafür entschieden, sich an Lernaufgaben zu beteiligen, ihr Gehirn schließlich mehr neue Neuronen und eine höhere Netzwerkverknüpfung im Gehirn zeigten“, sagt Prof. Kempermann. „Das bedeutet, dass ihre Neuronen mehr Verbindungen zu anderen Neuronen hatten, was es dem Gehirn ermöglicht, Informationen leichter zu übertragen. Im Vergleich dazu wiesen Mäuse, die sich nicht dafür entschieden, sich an Lernaufgaben zu beteiligen, keine derart großen Verbesserungen auf. Da alle Mäuse genetisch identisch waren und in derselben Umgebung untergebracht waren, waren es nur ihre eigenen Entscheidungen, die beeinflussten, wie viele neue Neuronen und neuronale Verbindungen in ihren Gehirnen gebildet wurden.“
Ein Blick in die Zukunft
„Diese Ergebnisse betonen, dass die Gehirnentwicklung – und damit auch die Entwicklung von Persönlichkeit und Individualität – nicht allein durch Gene oder die Umwelt bestimmt wird. Stattdessen haben wir festgestellt, dass die Gehirnentwicklung auch durch persönliche Entscheidungen und Erfahrungen geprägt wird“, sagt Prof. Kempermann.
Diese Arbeit gibt Aufschluss darüber, warum Geschwister und sogar eineiige Zwillinge, die im selben Haushalt aufwachsen, oft so verschieden sind. Die Vorstellung, dass persönliche Entscheidungen das Gehirn direkt beeinflussen, kann die Art und Weise verändern, wie Menschen an Bildung, Lernen und persönliches Wachstum herangehen. Diese Entdeckung unterstreicht weiter, wie wichtig lebenslanges Lernen für die kontinuierliche Gehirnentwicklung ist. Sie gibt auch Hoffnung für die Zukunft. Indem wir uns dafür entscheiden, zu lernen, können wir vielleicht mitgestalten, wer wir in Zukunft sein wollen.
Originale Veröffentlichung:
Warsha Barde, Jonas Renner, Brett Emery, Shahrukh Khanzada1, Xin Hu, Alexander Garthe, Annette E. Rünker, Hayder Amin, Gerd Kemperman: Beyond nature, nurture, and chance: Individual agency shapes divergent learning biographies and brain connectome. Science Advances (January 2025)
Link: https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.ads7297