27.03.2024
Nicht nur dem Menschen eigen, aber einzigartig menschlich: Forschende identifizieren Faktor für die Gehirnexpansion beim Menschen
Was unterscheidet uns Menschen von anderen Lebewesen? Der Schlüssel liegt im Neokortex, der äußeren Schicht des Gehirns. Diese Gehirnregion ermöglicht uns abstraktes Denken, Kunst und komplexe Sprache. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Mareike Albert am Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der TU Dresden hat nun einen neuen Wachstumsfaktor identifiziert, der zur Expansion des Neokortex beim Menschen beigetragen haben könnte. Die Ergebnisse wurden im renommierten EMBO Journal veröffentlicht.
Der Neokortex zeichnet sich durch seine charakteristische Faltung aus und ähnelt in seiner Form einer Walnuss. Er ist maßgeblich für höhere kognitive Funktionen wie abstraktes Denken, Kunst und Sprache verantwortlich. „Der Neokortex ist der evolutionär jüngste Teil des Gehirns", erklärt Dr. Mareike Albert, Forschungsgruppenleiterin am CRTD. „Zwar besitzen alle Säugetiere einen Neokortex, jedoch variiert dieser stark in Größe und Komplexität. Der menschliche und der Primatenneokortex weisen Faltungen auf, während der Neokortex von Mäusen beispielsweise völlig glatt und ohne Furchen ist."
Diese für das menschliche Gehirn typischen Faltungen vergrößern die Oberfläche des Neokortex. Dadurch finden eine höhere Anzahl von Nervenzellen Platz, die komplexe kognitive Funktionen unterstützen.
Die der Evolution des Neokortex zu Grund liegenden molekularen Mechanismen sind nach wie vor weitgehend unbekannt. „Welche Gene sind für die art-spezifischen Unterschiede in der Größe des Neokortex verantwortlich? Welche Faktoren haben zur Expansion des Gehirns beim Menschen beigetragen? Die Beantwortung dieser Fragen ist entscheidend für das Verständnis der menschlichen Gehirnentwicklung und könnte auch neue Ansätze zur Behandlung neurologischer Erkrankungen eröffnen", erläutert Dr. Albert.
Gehirn-Organoide: Innovative Forschung mit Nobelpreis-Technologie
Auf der Suche nach Faktoren, die die Expansion des Gehirns beeinflussen, verglich die Forschungsgruppe um Dr. Albert die Entwicklung von Mäuse- und Menschenhirnen. „Stammzellen in Mäusen haben eine geringere Teilungsfähigkeit und produzieren im Vergleich zu Primaten weniger Nervenzellen. Der Mensch hingegen verfügt im sich entwickelnden Gehirn über einen wesentlich größeren Pool an Stammzellen. Dieser erweiterte Pool ist die Grundlage für die erhöhte Anzahl von Nervenzellen und trägt zu einem größeren Gehirn bei", erläutert Dr. Albert.
Das Team fand einen Wachstumsfaktor, der im menschlichen, aber nicht im Mäusehirn vorkommt. Mithilfe der 3-D-Zellkulturtechnologie testete die Gruppe, ob dieser neu identifizierte Faktor die Expansion des Neokortex beeinflussen könnte. „Dank der Forschung, die 2012 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ist es möglich, jede Zelle in eine Stammzelle umzuwandeln. Eine solche Stammzelle kann dann in ein dreidimensionales Gewebe umgewandelt werden, das einem Organ, z. B. einem Gehirn, ähnelt. Dadurch ist es möglich, die Entwicklung des Gehirns und die Entstehung von Krankheiten direkt in menschlichem Gewebe zu untersuchen", erklärt Dr. Albert.
Diese 3-D-Hirnkulturen, oder Gehirn-Organoide, ähneln auf dem ersten Blick zwar optisch nicht unbedingt einem Gehirn, aber sie bilden die zelluläre Komplexität eines Gehirns in der Entwicklung ab. „Fast alle Zelltypen des sich entwickelnden Gehirns sind vorhanden. Sie interagieren miteinander, senden Signale und sind ähnlich angeordnet wie in einem echten menschlichen Gehirn", sagt Dr. Albert.
Mit Hilfe der 3-D-Hirnkulturen konnte die Gruppe nachweisen, dass ein Wachstumsfaktor, Epiregulin genannt, tatsächlich die Teilung von Stammzellen im sich entwickelnden Gehirn fördert.
Auf die Menge kommt es an
„Da wir wissen, dass Epiregulin die Expansion des Stammzell-Pools im menschlichen Neokortex unterstüzt, haben wir uns das Gen, das für Epiregulin kodiert, genauer angesehen und seinen Weg durch den evolutionären Stammbaum verfolgt", erklärt Paula Cubillos, Doktorandin am CRTD und Leitautorin der Studie.
Das Gen ist nicht nur beim Menschen vorhanden, sondern auch bei anderen Primaten und sogar bei Mäusen. „Epiregulin wird im sich entwickelnden Mäusehirn jedoch nicht produziert. Dort ist das Gen dauerhaft abgeschaltet und wird nicht genutzt. Uns hat interessiert, ob es Unterschiede in der Funktionsweise von Epiregulin beim Menschen und anderen Primaten gibt", erläutert Paula Cubillos.
Die Forschenden griffen erneut auf die 3-D-Zellkulturtechnologie zurück. Mit Hilfe von Gorilla-Stammzellen generierte das Team Gorilla-Gehirn-Organoide. „Gorillas sind eine bedrohte Art. Über ihre Gehirnentwicklung wissen wir nur sehr wenig. Organoide aus Stammzellen bieten die Möglichkeit, die Gehirnentwicklung zu untersuchen, ohne direkt an Gorillas zu forschen", sagt Dr. Albert.
Beim Vergleich der Wirkung von Epiregulin in menschlichen und Gorilla-Gehirn-Organoiden stellte das Team fest, dass die Zugabe von Epiregulin zu Gorilla-Gehirn-Organoiden die Teilung von Stammzellen weiter vorantreiben kann. In menschlichen Gehirn-Organoiden hingegen löste eine noch höhere Epiregulin-Dosis keine weitere Teilung der Stammzellen aus. Dies könnte auf die bereits starke Expansion des menschlichen Neokortex zurückzuführen sein.
„Im Gegensatz zu früher identifizierten Faktoren ist Epiregulin an sich nicht einzigartig für den Menschen. Stattdessen scheint die Menge des Wachstumsfaktors der entscheidende Regulator für die Unterschiede zwischen den Arten zu sein", folgert Dr. Albert.
Diese Studie erweitert nicht nur unser Verständnis der menschlichen Gehirnentwicklung, sondern unterstreicht auch die Bedeutung neuer Technologien, die eine ethisch unbedenkliche und nicht-invasive Ergänzung zur Tierforschung darstellen.
Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit dem King's College London, der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden, dem Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik und der Medizinischen Hochschule Hannover durchgeführt.
Originalveröffentlichung
Paula Cubillos, Nora Ditzer, Annika Kolodziejczyk, Gustav Schwenk, Janine Hoffmann, Theresa M. Schütze, Razvan P. Derihaci, Cahit Birdir, Johannes E. M. Köllner, Andreas Petzold, Mihail Sarov, Ulrich Martin, Katherine R. Long, Pauline Wimberger, Mareike Albert: The growth factor EPIREGULIN promotes basal progenitor proliferation in the developing neocortex. EMBO Journal (March 2024)
Link: https://doi.org/10.1038/s44318-024-00068-7
Über das Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD)
Am Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der TU Dresden widmen sich Spitzenforscher und -forscherinnen aus mehr als 30 Ländern neuen Therapieansätzen. Sie entschlüsseln die Prinzipien der Zell- und Geweberegeneration und ergründen deren Nutzung für Diagnose, Behandlung und Heilung von Krankheiten. Das CRTD verknüpft Labor und Klinik, vernetzt Wissenschaft und Klinik, nutzt Fachwissen in Stammzellforschung, Entwicklungs- und Regenerationsbiologie, um letztlich die Heilung von Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson, hämatologischen Krankheiten wie Leukämie, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes sowie Augen- und Knochenerkrankungen zu erreichen. Das CRTD wurde 2006 als Forschungszentrum der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gegründet und bis 2018 als DFG-Forschungszentrum, sowie als Exzellenzcluster gefördert. Seit 2019 wird das CRTD mit Mitteln der TU Dresden und des Freistaates Sachsen finanziert.
Das CRTD ist eines von drei Instituten der zentralen wissenschaftlichen Einrichtung Center for Molecular and Cellular Bioengineering (CMCB) der TU Dresden.
www.tud.de/crtd
www.tud.de/cmcb
Bildmaterial: https://tud.link/gha9k3
Wissenschaftliche Ansprechpartnerin:
Dr. Mareike Albert
Center for Regenerative Therapies Dresden (CRTD)
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