16.02.2023
in memoriam Prof. Dr. Jost Halfmann
[Dieser Text erscheint in Heft 2/2023 der SOZIOLOGIE]
Am 25. Dezember 2022 verstarb Jost Halfmann in Dresden nach schwerer Krankheit. Wir verlieren mit ihm einen angesehenen Soziologen, inspirierenden Lehrer und verlässlichen Freund. Seine Kollegialität, intellektuelle Schärfe und nicht zuletzt sein Witz werden uns immer in Erinnerung bleiben.
Halfmann verfolgte zeit seines Lebens das Projekt einer gesellschaftstheoretisch ausgerichteten Wissenschafts- und Techniksoziologie. Dabei war seine Arbeit stets von einer charakteristischen Denkbewegung gekennzeichnet, die auch fachgeschichtlich bedeutsam ist: In einer Atmosphäre der paradigmatischen Erschöpfung des Marxismus bei gleichzeitig aufkommenden theoretischen Innovationen wie der Systemtheorie ist sie ein Versuch, festen gesellschaftstheoretischen Boden unter die Füße zu bekommen, während dieser Boden gerade ausgetauscht wird.
Geboren 1947 in Krefeld, wo er auch zur Schule ging und eine kaufmännische Lehre in einem Edelstahlwerk absolvierte, stand für ihn der Wunsch eines Soziologiestudiums bereits früh fest. Auf die Frage hin, wie er zur Soziologie gekommen sei, berichtete er einmal von einem soziologiebegeisterten Lehrer, der – ungewöhnlich genug – mit interessierten Schülern Texte von Max Weber las. Von 1968 bis 1973 studierte Halfmann Soziologie und Philosophie in Frankfurt am Main, wo er u.a. bei Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Alfred Schmidt hörte. Er kam dadurch nicht nur mit Marx und der Kritischen Theorie, sondern auch mit der US-amerikanischen Soziologie, mit Sozialpsychologie und Sozialforschung in Berührung. 1977 wurde er mit seiner Dissertation „Paradigmenwechsel in der Theorie der Wissenschaft“ bei Jürgen Ritsert promoviert, die er 1980 in umgearbeiteter Fassung unter dem Titel „Innenansichten der Wissenschaft“ veröffentlicht hat. Das Thema der Wissenschaft im Spannungsfeld konfligierender Selbstverständnisse und gesellschaftlicher Nutzenerwartungen, wie er es in dieser Arbeit zum ersten Mal umriss, griff er immer wieder auf, wie dies noch der 2007 gemeinsam mit Johannes Rohbeck herausgegebene Sammelband „Zwei Kulturen der Wissenschaft – revisited“ dokumentiert. In die Zeit seiner Dissertation fällt auch Halfmanns Auseinandersetzung mit Alfred Sohn-Rethel, dessen Arbeiten zur Trennung von Hand- und Kopfarbeit, zu Warenform und Denkform damals eine der letzten paradigmatischen Neuerungen innerhalb des Marxismus darstellten. Bereits in der 1976 gemeinsam mit Tillman Rexroth verfassten kritischen Studie „Marxismus als Erkenntniskritik“ ist das oben angesprochene Spannungsverhältnis zu spüren, von dem Halfmanns Werk geprägt ist: der Marx’sche Theorieansatz überzeugte ihn nicht mehr vollends, während sich die reflexiven Möglichkeiten der Systemtheorie – auch mit Blick auf den Status wissenschaftlichen Wissens – erst abzuzeichnen begannen.
Rückblickend wurde der Wechsel zur Systemtheorie von anderen häufig als Bruch empfunden. Seinen Schriften nach zu urteilen gab es einen solchen Bruch nicht, sondern eine kontinuierliche Auseinandersetzung und Aneignung, die den Publikationen v.a. Luhmanns aufmerksam folgte. Den gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen seines Denkens begriff Halfmann als eine offene Frage, deren Klärung einer eigenständigen Anstrengung bedurfte. Von dieser zeugen nicht nur seine Schriften, sondern auch die Seminare, die er in den 1980er Jahren als Professor für Soziologie an der Universität Osnabrück beispielsweise unter Titeln wie „Was kann der Marxismus von der Systemtheorie lernen?“ abhielt. In einem Aufsatzmanuskript aus den 1990er Jahren, das er nie veröffentlichte, das jedoch unter Studierenden zirkulierte, findet sich diese Frage in konzentrierter Form erörtert.
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre führten ihn längere Forschungsaufenthalte in die USA an die Cornell University, an das MIT und nach Harvard. Dort wertete er in Archivstudien Berichte, Memos und Statistiken aus, welche die Entwicklungsgeschichte der Mikroelektronik als Fall gesellschaftlicher Produktion technischen Fortschritts dokumentieren. Zwar sagte er rückblickend, dass er mit dieser Arbeit auf dem Feld des Historikers dilettierte; jedoch ging es ihm nicht so sehr um Geschichte als um Anknüpfungspunkte für die Frage, wie die Verhältnisse von wissenschaftlicher Autonomie und Heteronomie gesellschaftstheoretisch gedacht werden können. Am Beispiel der Erfindung des Transistors zeigte er, dass die wissenschaftlichen Innovationen der Quantenmechanik ihren Weg in gesellschaftliche Verwertungszusammenhänge (Technik) keineswegs von selbst gefunden haben, wie die Geschichte der gesellschaftlich folgenreichen Erfindung des Transistors rückblickend vielleicht suggerieren mag. Vielmehr müsse ein hohes Maß an (kognitiver) Autonomie (und damit auf sozialer Ebene ein hohes Maß der Fähigkeit zur Selbststeuerung) der Wissenschaft in Rechnung gestellt werden, um die Vergesellschaftung wissenschaftlicher Innovationen über die Implementation von Technik als hoch voraussetzungsreich und unwahrscheinlich beschreiben zu können („Die Entstehung der Mikroelektronik“, 1984). Neben seinem vorwiegenden Interesse an Wissenschafts- und Technikforschung interessierte sich Halfmann (nicht zuletzt im Kontext der Spätkapitalismusdiskussionen) zunehmend auch für die Frage, welche Rolle der Staat für die organisierte Forschung und industrielle Entwicklung spiele. In seiner Zeit an der Universität Osnabrück, an der er bis 1993 blieb, kamen als weitere Arbeitsfelder die politische Soziologie nationaler Wohlfahrtsstaaten, der sozialen Bewegungen und der Migration hinzu. Seine vergleichenden Untersuchungen über industrielle Modernisierung und die unterschiedlichen Reaktionen neuer sozialer Bewegungen führten ihn immer wieder zu längeren Forschungsaufenthalten an die University of California in Berkeley.
Zum 1. November 1993 trat Halfmann die Professur für Techniksoziologie am Institut für Soziologie der TU Dresden an. Mit der Übernahme der Professur wandte er sich vor dem Hintergrund seiner von Anfang an verfolgten Frage nach der sozialen Genese moderner Technologien stärker der Ausarbeitung einer soziologischen Theorie der Technik zu. Sein Neuansatz auf der Basis von Luhmanns Systemtheorie diente dem Ziel, die Techniksoziologie an die Gesellschaftstheorie anschlussfähig zu machen („Die gesellschaftliche ‚Natur‘ der Technik“, 1996). Rückblickend zeichnen sich Halfmanns Arbeiten neben jenen von Karin Knorr-Cetina, Bruno Latour und Werner Rammert als eigenständiger Zugang einer systemtheoretischen Wissenschafts- und Technikforschung ab. Parallel zu diesem wegweisenden gesellschaftstheoretischen Projekt, Technik als „funktionierende Simplifikation im Medium der Kausalität“ zu verstehen, konzipierte er ein Zentrum für interdisziplinäre Technikforschung, das um die Jahrtausendwende an der TU Dresden gegründet wurde und bis heute besteht. Aus seinen Studien und Expertisen im Spannungsfeld zwischen Politik und Wissenschaft ging unter anderem ein zusammen mit Falk Schützenmeister konzipiertes Forschungsprojekt zur Entstehung der Atmosphärenwissenschaft hervor, das 2010 seinen Abschluss fand („Wissenschaftsdynamik“, 2009; „Organisationen der Forschung“, 2009).
Ein zweiter Schwerpunkt der Dresdner Jahre war die politische Soziologie. Halfmann führte einerseits seine Forschungen zu sozialen Bewegungen in den USA und Deutschland fort, nun zunehmend unter dem gemeinsam mit Klaus-Peter Japp in langjähriger Zusammenarbeit entwickelten Begriff der sozialen Bewegungen als „Risikobeobachter“ der modernen Gesellschaft. Andererseits galt sein Interesse dem modernen Staat in der Weltgesellschaft, womit er seine früheren Forschungen zum Wohlfahrtsstaat in einen erweiterten Kontext stellte. In mehreren Anläufen entwickelte er die Problemkomplexe von Nationalstaat und Staatsbürgerschaft, Wohlfahrtsstaat und Inklusionsvermittlung, kollektiver Identität und Migration exemplarisch am Fall der Evolution des deutschen Nationalstaates. In diesem Zusammenhang entstand eine Reihe von migrationssoziologischen Arbeiten, für die er mit Michael Bommes als Koautor und Mitherausgeber kooperierte („Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten“, 1998). Diese Schwerpunkte fanden auch Eingang in seine 1996 veröffentlichte Monographie „Makrosoziologie moderner Gesellschaften“.
Jost Halfmann stellte bei aller persönlichen Zurückhaltung stets höchste Ansprüche an seine wissenschaftliche Arbeit. Immer auf Augenhöhe mit der Forschung, hielten die breit gefächerten Themen seiner Lehrveranstaltungen eher Distanz zum jeweiligen Zeitgeist. Kurzfristigen Zeitdiagnosen erteilte er eine Absage, Moralisierung und Ideologisierung begegnete er mit nüchterner Sachlichkeit. Das Lektürepensum in seinen Lehrveranstaltungen war beachtlich. Zugeloste Referate in jeder Sitzung machten eine bloß konsumierende Haltung unmöglich. Gleichwohl zog Halfmanns intellektuelle Präzision, verbunden mit seinem hintergründigen und ironischen Stil immer wieder einen bestimmten, theorie- und technikaffinen Typus von Studierenden an, von denen er vor allem als unorthodoxer, empirisch argumentierender Systemtheoretiker erlebt wurde. Seine Mitarbeiter und Doktoranden genossen einen Freiraum, der in seiner Großzügigkeit heute selten geworden ist. Sein helles Dresdner Büro mit Hängeregistratur (in der er tausende Aufsatzkopien aufbewahrte), sorgfältig aufgestapelten Mappen, Notizen und Kopien, einem Regal mit Doubletten soziologischer Bücher, die er an interessierte Mitarbeiter und Studierende zu verschenken pflegte, überzeugte vom Nutzen eines guten Ablagesystems. In dem ansonsten schmucklosen Büro standen auch eine elektronische Schreibmaschine von IBM (ein schweres grünes Monstrum aus den 1970er Jahren) und eine Kaffeemaschine, die er nie benutzte – so als sollten diese Museumsdinge unprätentiös anzeigen, dass hier über Technik nachgedacht wird. Zu unserer Überraschung erzählte Halfmann einmal, er wäre eigentlich gerne Komiker geworden, dessen Witze das Publikum allerdings erst auf dem Heimweg zum Lachen bringen sollten. Wenn es etwas gab, das sich seiner Ironisierung entzog, war es die Soziologie als Wissenschaft. Wirklich ernst war es ihm mit dem gesellschaftstheoretischen Programm seiner Techniksoziologie, die er als seinen bedeutendsten Beitrag zur Soziologie beurteilte. Ihre tragende, die gesellschaftliche Ambivalenz der Technik zum Ausdruck bringende Unterscheidung von Installation und Medium erlaubt es zu beschreiben, wie Technik für den Beobachter im Falle des (gesellschaftlich idealisierten) Funktionierens unsichtbar bleibt oder im Falle ihres (soziologisch als Risiko zu reflektierenden) Nicht-Funktionierens thematisch wird. Nach seiner Emeritierung 2015 hat uns Halfmann seine Kaffeemaschine überlassen. Wie ein spätes Echo von Sohn-Rethels „Ideal des Kaputten“, der das Oszillieren zwischen Installation und Medium, d.h. die ständige Reparaturbedürftigkeit als den Eigensinn des Funktionierens neapolitanischer Alltagstechnik beschrieb, läuft sie nun fast jeden Tag.
Stephan Hein, Andreas Höntsch
Weitere Information zu seiner Person und seinem wissenschaftlichen Schriftenverzeichnis finden Sie auf der ehemaligen Seite seiner Professur.