Sommerkurs Dubrovnik 2010
Bericht zum Sommerkurs Politische Theorie am Inter University Center Dubrovnik 2010 „Demokratie und der politisch-theologische Komplex“
Der Sommerkurs des Jahres 2010 widmete sich dem Problem der Legitimation und Gestaltung politischer Ordnungen. Im Mittelpunkt stand vor allem die Frage nach den religiösen Ressourcen der Selbstvergewisserung moderner Gesellschaften. Der Titel des Sommerkurses verweist auf einen Essay von Claude Lefort („Fortdauer des Theologisch-Politischen?“), der den „politisch-theologischen Komplex“ von Politik, Gesellschaft und Religion hinterfragte. Laut Lefort können sich Gesellschaften dem Problem der Fortdauer theologisch-politischer Ordnungsbegründungen nicht entziehen.
In seinem einleitenden Vortrag stellte Prof. Dr. Hans Vorländer (Dresden, Sprecher des Sonderforschungsbereiches 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“) die Dichotomien von Säkularisierung und Sinnstiftung, von Transzendenzen und Immanenzen gesellschaftlicher Selbstbegründungen heraus. Die Leitfrage des Sommerkurses, so Vorländer, sei die Frage ob und gegebenenfalls welche Transzendenzen moderne Demokratien benötigen. Streben sie einerseits nach Autonomie und Selbstgesetzgebung oder greifen sie andererseits doch auf Ressourcen zurück, über die sie nur bedingt verfügen können. Wie aber kann man sich dieser Unverfügbarkeiten vergegenwärtigen und kann es sie jenseits des Religiösen geben? Der Kurs beschäftigte sich demnach u. a. mit der Rolle der Religion, der Funktion von Bürgertugenden und Patriotismen als auch mit Fragen von Wertordnungen, Zivilität und bürgergesellschaftlichen Engagement.
Prof. Nenad Zakosek (Zagreb) vertrat in seinem Vortrag die These, dass zivilgesellschaftliche Praxen im Begründungsdiskurs moderner politischer Gemeinschaften eine konstitutive Rolle spielen. Anhand der jüngeren Geschichte Kroatiens, insbesondere seiner Neugründung nach dem Krieg von 1991/1992 veranschaulichte er die spannungsreiche Trias von Politik, Gemeinschaft und Religion. Der Zusammenhang von Religion und Zivilreligion erwies sich in der Diskussion um die Grundlagen der Neugründung der kroatischen Nation als Schlüsselfrage.
Wie sich das Recht zwischen „weihevollem Ernst“ oder reine Logik ohne Transzendenzbezüge (Kelsen) zu verorten habe, versuchte Günter Frankenberg (Frankfurt) in seinem Vortrag nachzugehen. Die Verweltlichung des Rechts finde sich dabei in vielerlei Bezügen, so etwa in der Transformation des Religiösen in ein kulturelles Phänomen, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung mit Ausnahme des Kruzifixurteils entwickelt hat (Verrechtlichung der Religion) oder in der Begründung des Rechts durch Vernunft sowie der internen Rationalität des Rechts selbst. In seinem Kommentar verwies Prof. Hans Vorländer auf den Umstand, dass moderne Rechtordnungen auf gewissen normative Annahmen (z.B. hinsichtlich der Vorstellung der Menschenwürde oder der Gerechtigkeit) aufruhen, welche die Vorstellung des Rechtes als eine Art autopoietische, sich selbst beurteilende Praxis, in Frage stellen würden.
Die Frage nach der Verschränkung von Recht und Religion ist freilich nicht nur eine rechtstheoretische. Der Frage kommt auch große praktische Bedeutung zu. Schließlich stellen Recht und Religion zwei Legitimationsquellen dar, die vor allem in religiös und kulturell pluralisierten Gesellschaften immer wieder in Widerspruch geraten können. An dieses Thema knüpfte – unter besonderer Berücksichtigung der Schriften von Carl Schmitt – der Vortrag von Prof. Davor Rodin (Zagreb) an. Frankenbergs These konnte insofern bestätigt werden, als die Rationalität des Rechts jenseits selektiver Transzendenzbezüge auch hier nachgezeichnet werden konnte. Eine Ausnahme bildet der Ausnahmezustand der Schmittschen Theorie, denn dieser transzendiert die politische Entscheidung, indem diese frei von jeder normativen Gebundenheit getroffen wird, also außerhalb des Rechts liegt und somit vom Recht nicht selektiert werden kann („selektive Blindheit des Rechts“).
Goran Gretic (Zagreb) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Ausführungen Heideggers über Hegel. Nach Hegel ist der Staat nichts anderes, als der Geist des Volkes (und auch nur dort repräsentiert er sich). Das Wesen des Staates ergebe sich aus dem Wesen des Politischen; das Wesen des Daseins ist die Selbstbehauptung und hieraus bestimmt sich also das Dasein des Staates. Auch bei Heidegger ergebe sich der Staat aus dem Dasein und sei das Volk das Seiende des Staates. Für ihn ist das Wissen um das Wesen des Staates, sprich also die politische Gesinnung, existentiell. Die Verwirklichung des Staates ist daher auch kein rationaler Vorgang, die Verfassung kein rationaler Vertrag. Der Staat ist der Volkswille und hiernach der Wille vom Bewusstsein der Gemeinschaft. Heidegger, so Gretic’ Resümee, nutzte Hegel für die Begründung seiner Idee der Seinsgeschichte, in der der Staat eben nicht nur ein Bereich der Geschichte ist.
Dass auch moderne Demokratien des Gemeinsinns und der Grundwerte bedürfen, stellte Prof. Emanuel Richter (Aachen) heraus, wobei um die Konturen einer Gemeinschaft kontinuierlich gestritten werden müsse im Sinne eines Konflikts über das Dasein selbst. Die Politik, so Richter, verinnerliche auf symbolischer Ebene zahlreiche sakrale Elemente, die aber nicht auf das Religiöse, sondern – entgegen der Lefortschen These – auf das Profane verweisen. Offen blieb indes, wo das Recht in der von Richter dargestellten Systematik der Demokratie zu verorten ist – eine Frage, die im Verlauf der Diskussionen immer wieder virulent wurde.
Prof. Georg Kohler (Zürich) ging – anhand von Rawls’ Politischem Liberalismus – der Trennung zwischen den Sphären des Rechten und des Guten einerseits und des Öffentlichen und Privaten andererseits nach. Die Trennlinie sei, so Kohler, in beiden Fällen umstritten. Die Entscheidung darüber, was öffentlich und was privat ist, müsse sich an einer weiteren Unterscheidung orientieren: die zwischen dem „vernünftigen“ und „unvernünftigen“ Pluralismus. Was den vernünftigen vom unvernünftigen Pluralismus unterscheide, sei die „Zumutung der Selbstrelativierung“: Diejenigen, die zutiefst überzeugt sind, das gewisse Dinge zu tun, höchstes Unrecht ist, müssen fähig bleiben, diese Überzeugung nur für sich selbst gelten zu lassen, so dass die Autonomie der Anderen nicht beeinträchtigt wird. Zu so einer Selbstrelativierung sei der unvernünftige Pluralismus nicht in der Lage. Als Beispiel nannte Kohler die Haltung christlicher Fundamentalisten, oftmals (vor allem die im Rahmen der Debatte über den Schwangerschaftsabbruch) die Grenze zwischen „öffentlich“ und „privat“ überschritten hätten.
In einer Weiterführung der Rawlschen Ideen entfaltete Richard Rorty seine Überlegungen zur (politischen) Transzendenz. Prof. Enno Rudolph (Luzern) konnte jedoch herausarbeiten, dass von Rorty kein „overlapping concensus“ als hinreichend notwendiges, der Gesellschaft vorausgehendes Überzeugungsfundament unterstellt werden muss. Und doch befürwortet auch Rorty, substanzielle traditionale Überzeugungen in der Gesellschaft zu kondensieren und auf ihren Grundgehalt zu prüfen. Dadurch vollzieht Rorty eine Synthese aus Pragmatismus und Liberalismus, ohne dass eine politische Transzendenz – wie sie beim frühen Rawls noch zu finden ist – vorausgesetzt werden muss. Diese Synthese sei – so Rudolph – nicht gegen Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption gerichtet. Vielmehr kann Rorty durch diese Synthese Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption von den metaphysischen Annahmen Kants befreien und in eine empirisch begründete Theorie verwandeln.
Der Vortrag von Prof. Tomsilav Jantol fokussierte auf die immanente Sakralisierung des demos und seiner Stimme als Ausgangspunkt und letzter Rechtfertigungsinstanz demokratischer Politik. Jantols Frage, wie die vox populi eine vox dei sein kann, konfrontierte einen normativen Öffentlichkeitsbegriff mit etlichen Befunden der empirischen Demokratieforschung, welche die Möglichkeitsbedingungen deliberativer Demokratie nachhaltig in Frage stellen sollten. Die Dekonstruktion einer deliberativen Öffentlichkeit veranlasste Jantol allerdings nicht zu einem pessimistischen Fazit. Im Gegenteil: Die Vorzüge demokratischer Öffentlichkeit liegen darin, Kernelemente der Demokratie abzusichern. So verhindert eine demokratische Öffentlichkeit einerseits Arkanpolitik und gewährleistet andererseits die Responsibilität demokratischer Politik, indem sie Verantwortlichkeiten klar benennt und damit den Bürger in die Lage versetzt, seinerseits eine verantwortliche Haltung gegenüber dem Gemeinwesen einzunehmen. Damit ist die vox populi sicher nicht die vox dei, so Jantol, aber immer noch eine wichtiges Element funktionierender Demokratien.
Die abschließende gemeinsame Diskussion gab insbesondere den zwanzig teilnehmenden Studierenden und Doktoranden von der TU Dresden, der Universität Frankfurt sowie der Universität Zagreb Gelegenheit Fragen an den Vortragenden zu stellen. Es wurde dem Verhältnis von Recht und Demokratie nachgegangen unter Einbezug der europäischen, wie auch der globalen Ebene. Angeregt hatte die Studenten auch die Frage, ob Demokratien tatsächlich ohne Religion oder gar auch ohne zivilreligiöse Elemente denkbar seien, wird doch zumindest Zivilreligion allenthalben als einigendes Moment von demokratischen Gesellschaften vorausgesetzt. Rawls’ Konzept des zivilen Ungehorsams als Vernunft transzendierendes Prinzip der Gesellschaft wurde hinterfragt, um schließlich der Frage nachzugehen, wie das Verhältnis von Religion und Zivilreligion zu verstehen sei: wie religiös ist eine moderne Zivilreligion tatsächlich?
Als Fazit kann trotz der kontroversen Argumente und verschiedenen Perspektiven festgehalten werden, dass vor allem die christliche Legitimationsquellen westlicher Gesellschaften kontrovers diskutiert wurden; das „religare“ einer politischen Gemeinschaft im Sinne von Hannah Arendt und Machiavelli meint, Bezüge zu finden, die die symbolische Selbstauslegung von Gesellschaften begründen können (Vorländer). Insofern ist der politisch-theologische Komplex mit vergleichbaren christologischen Komponenten unterlegt; jene sind aber gerade nicht der christlichen Sphäre kongruente Symbole. Die Ordnungs- und Selbstbegründungen moderner Gesellschaften aufzudecken bleibt ein spannendes Feld der Forschung und ist in seiner Aktualität unter der dargelegten Problematik von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Der Sommerkurs war hierfür Impulsgeber und Denkwerkstatt zugleich.
Der Sommerkurs „Politische Theorie“ jährte sich 2010 zum 15. Mal und ist damit der älteste bestehende Kurs des IUC Dubrovnik. Die unterschiedlichen politisch-kulturellen Voraussetzungen der beteiligten Länder wirkten hierbei kontrastierend und fruchtbar für alle Seiten. Zudem bot sich hier die Chance, in interkultureller Hinsicht verschiedene Perspektiven und Erfahrungen der Teilnehmer aus unterschiedlichen Nationen auszutauschen. Dubrovnik ist hierfür ein hervorragender Ort, der für das diesjährige Thema selbst eine reichhaltige Geschichte bereithält. Gegründet wurde die zum Kulturerbe erhobene Stadt bereits in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts. Als autonome Stadtrepublik bestand sie vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, wo sie schließlich von Napoleon erobert wurde. Dubrovnik ist in seinem Selbstverständnis vor allem durch den Katholizismus geprägt und zeichnet sich damit einerseits durch eine starke Religiösität aus. Auf der anderen Seite ist Dubrovnik durch seine ebenso traditionelle Liberalität charakterisiert – ein exemplarisches Spannungsverhältnis also von gesellschaftlicher Sakralität und politischem Liberalismus. Zudem war Dubrovnik als Seemacht und zentraler Handelspartner des Osmanischen Reiches stets ein kulturelles Zentrum seiner Zeit. Viele Kulturen haben hier ihr Erbe hinterlassen. Die Religiösität und Liberalität wird also auch durch das Faktum des Pluralismus ergänzt. Diese Interkulturalität wirkt bis heute fort. Dubrovnik ist damit der ideale Ort, das Thema des Sommerkurses nicht nur zu studieren, sondern diesem auch vor Ort durch das kulturelle Begleitprogramm nachzuspüren.