Podcast zum Digitaltag 2020
"Von Bütteln und Hupen..." - unser Podcast zum Digitaltag
„L’affaire Mila“
Ein Lehrstück invektiver Kommunikation
Worum es geht
Wie viele Gleichaltrige nutzt auch Mila, eine 16jährige Gymnasiastin aus dem Département Isère im Osten Frankreichs, gerne die Online-Plattform Instagram. Am 18. Januar 2020 eskaliert dort ein Streit, nachdem die junge Frau in einem Livevideo offen über ihre Homosexualität gesprochen und den Annäherungsversuch eines Mannes zurückgewiesen hat. Von anderen muslimischen Teilnehmern sieht sie sich nicht nur mit dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert, sondern auch als „dreckige Hure“ bzw. „schmutzige Lesbe“ beschimpft. Mila antwortet mit einem weiteren Video, worin sie zu einem großen Rundumschlag ausholt: „Ich hasse Religion. Im Koran ist nur Hass darin. Islam ist Scheiße, das ist, was ich denke. Ich bin nicht rassistisch, überhaupt nicht. Man kann nicht rassistisch gegenüber einer Religion sein. Ich habe gesagt, was ich denke, du wirst mich nicht dazu bringen, das zu bereuen. Es gibt immer Leute, die sich aufregen, ich mache mir nichts daraus, ich sage, was ich will, was ich denke. Deine Religion ist Scheiße, deinem Gott stecke ich den Finger in den Arsch. Danke, auf Wiedersehen.“
Daraufhin bricht eine Welle von Schmähungen über die junge Frau herein. Nach eigenen Angaben erhält sie bis zu 200 Hassbotschaften in der Minute, darunter auch Morddrohungen. Schnell rät ihr die Leitung ihrer Schule aus Sicherheitsgründen von einer weiteren Teilnahme am Unterricht ab. Dort gibt es offenkundig einen großen Anteil von muslimischen Schülerinnen und Schülern, die sich durch ihre Äußerungen verletzt fühlen. Würde Mila an die Schule zurückkommen, so äußert einer von ihnen, dann würde sie getötet. Tatsächlich muss das Mädchen abtauchen, die gesamte Familie wird schließlich unter Polizeischutz gestellt. Sie befürchte, aufgrund ihrer Bekanntheit im ganzen Land keine Schule zu finden, die sie aufnehme, so sagt sie Wochen später.
Das scheint nicht übertrieben, denn schnell okkupiert die Angelegenheit die politische Öffentlichkeit und wird zur „Affäre Mila“. Abdallah Zekri, der Generaldelegierte des Französischen Rats des muslimischen Kultes und Präsident der nationalen Beobachtungsstelle gegen „Islamophobie“, erklärt, das Mädchen habe genau gewusst, was es tat: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, fügt er hinzu. Die Aussagen Milas seien nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Justizministerin Nicole Belloubet scheint seinen Standpunkt zunächst zu unterstützen, indem sie die Beleidigung der Religion als einen „offensichtlichen Angriff auf die Gewissensfreiheit“ bewertet. Die Staatsanwaltschaft eröffnet sogar ein Ermittlungsverfahren gegen die Schülerin wegen „Aufstachelung zum Hass“, das allerdings später eingestellt wird.
Schnell aber stehen die Kritiker Milas ihrerseits in der Kritik und die staatsanwaltlichen Ermittlungen richten sich gegen diejenigen, die Drohungen gegen Mila ausgestoßen hatten. Justizministerin Belloubet versucht, ihr Statement gegen Mila als „Ungenauigkeit“ herunterzuspielen. Zunächst ist es vor allem die extreme Rechte, die sich hinter das Mädchen stellt, etwa Marine Le Pen, die Führerin des Rassemblement National. Direkt zieht sie Parallelen zum Terroranschlag gegen das linke Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015, dem 11 Redaktionsmitglieder zum Opfer gefallen waren. Mitte Februar unterstreicht dann auch Präsident Macron in einem Interview, dass Religionskritik und Gotteslästerung in Frankreich gesetzlich erlaubt seien. Er folgt damit der Verteidigungslinie von Mila selbst, die sich schon früher auf ihr „Recht auf Blasphemie“ berufen hatte. Demgegenüber wirken Statements wie dasjenige von Ségolène Royal seltsam unbeholfen und kraftlos: Die Ex-Ministerin bejaht ebenfalls das Recht auf öffentliche Religionskritik, lehnt es aber explizit ab, die (wie sie sagt) ‚Respektlosigkeit eines Teenagers‘ zum Anlass einer Grundsatzdebatte über Meinungsfreiheit zu nehmen. Deswegen teile sie nicht den Hashtag #JeSuisMila. Was als Versuch der Beschwichtigung gedacht war, trägt Royal heftige Kritik von allen Seiten und den Vorwurf der Feigheit ein. Die Debatte ist so stark polarisiert, dass zwischen #JeSuisMila und #JeNeSuisPasMila kein dritter Standort mehr möglich scheint – tertium non datur.
Respekt vor dem Glauben oder Recht auf Gotteslästerung?
Um die Affäre Mila zu verstehen, bedarf es eines Blicks auf den weiteren kulturellen und historischen Kontext. Die hier aufscheinenden Konfliktlinien sind seit Jahrzehnten bekannt und wurden spätestens mit den Mohammed-Zeichnungen im Jahr 2005 virulent. Damals hatte eine dänische Zeitung den Propheten in einer Reihe von Karikaturen dargestellt, die von vielen Muslimen als Herabwürdigung ihrer Religion verstanden wurde. Das französische Satiremagazin Charlie Hebdo hatte diese Zeichnungen in der Folge nicht nur übernommen, sondern immer wieder eigene Karikaturen auf sein Titelbild gepackt, was ihm Prozesse, Drohungen und Attentate eintrug. Die Zeitschrift ist damit Exponentin einer laizistischen Politik, die Frankreich seit langem prägt. Mit der Revolution war dort der Straftatbestand der Gotteslästerung abgeschafft worden. Spätestens zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden im Land ein derber Antiklerikalismus und eine kämpferische Religionsfeindlichkeit salonfähig, während sie anderswo, etwa in der Bundesrepublik, bis heute prinzipiell unter Strafe stehen. Von ihren Protagonisten wurden sie als legitime Kritik an der finsteren Macht der katholischen Kirche verstanden.
Was lange Zeit als politischer Konflikt zwischen Christen und Säkularen innerhalb der westlichen Kultur erschien, wurde aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in Frankreich ebenso wie andernorts – in einen neuen, globaleren Kontext gerückt. Indem sich der blasphemische Spott nun gegen Verkörperungen und Vertreter des Islam richtete, wurde er zunehmend als Manifestation eines kulturellen Konfliktes, als clash of civilisations, interpretiert, und zwar von beiden Seiten. Folgt man den Wortmeldungen derjenigen, die sich als Vertreter ‚der‘ Muslime verstehen, so wurde deren Gemeinschaft als Ganze zum Opfer der Herabwürdigung aus den Reihen der hegemonialen, westlichen Kultur. Deren Islamophobie, die mindestens in mangelndem Respekt und fehlendem Einfühlungsvermögen zum Ausdruck komme, sei mindestens strukturell vergleichbar, wenn nicht identisch, mit dem weißen Rassismus. Umgekehrt postulierten die säkularen Kritiker a la Charlie Hebdo ihr ‚Recht auf Gotteslästerung‘ als eine Verteidigung westlicher Werte von Aufklärung und Demokratie und warnten davor, dass unter dem Deckmantel des Respekts vor den Anderen die Meinungsfreiheit abgeschafft werden könnte. Die starke Polarisierung gipfelte nach dem Mordanschlag auf Charlie Hebdo im Januar 2015 darin, dass sich die Lager unter den Hashtags #JesuisCharlie bzw. #JeNeSuisPasCharlie gegenüberstanden. Die Affäre Mila ist in gewisser Weise eine Art von Reprise dieses Grundkonfliktes, allerdings mit einigen Eigenheiten. Sie soll aber im Folgenden weniger in Hinblick auf diese spezielle Konstellation näher dargestellt werden, sondern als Exempel dienen für die Dynamik von Schmähungen und Herabsetzungen im Zeitalter digitaler Medien.
Zur Anatomie invektiver Kommunikation
Inwiefern kann die Affäre Mila als ein Lehrstück invektiver Kommunikation begriffen werden? Ich greife einige zentrale Aspekte heraus:
Erstens: Die Kommunikation in den sozialen Medien verschiebt die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum in dramatischer Weise.
Dass gegenseitige Schmähungen in der Öffentlichkeit, vor einem mehr oder weniger großen Publikum, stattfinden, ist seit jeher nicht weiter ungewöhnlich, vielleicht sogar eher die Regel als die Ausnahme. Stellen wir uns Mila und ihre Kontrahenten auf dem Pausenhof ihrer Schule vor: Beleidigungen werden gewechselt, andere Mitschülerinnen und Mitschüler stehen um sie herum, ergreifen vielleicht Partei oder versuchen im Gegenteil zu beschwichtigen. Es ist möglich, dass die Situation aus dem Ruder läuft, vielleicht sogar gewaltsam eskaliert. Aber irgendwann ist sie zu Ende, die Streitparteien trennen sich, die Menge geht auseinander. Es bleiben wohl negative Gefühle und Erinnerungen, vielleicht Hass und Rachsucht. Aber es gibt auch die Möglichkeit des Vergessens, zumindest des Verblassens, oder gar des ‚Überschreibens‘ alter Erfahrungen durch neues und anderes Erleben. In den sozialen Medien dagegen wird ein solcher Streit zeitlich und räumlich entgrenzt. Zeitlich wird er gewissermaßen auf Dauer gestellt und immer weiter verfügbar gehalten – selbst wenn das Video auf Instagram nach 24 Stunden gelöscht wird, ist es längst unzählige Male geteilt und damit weiterverbreitet worden. Damit gewinnt, räumlich gesehen, das Publikum eine neue Größenordnung: Potentiell kann jeder das Geschehen rezipieren und seinerseits darauf aktiv reagieren. Das betrifft natürlich jede Art von Kommunikation in den sozialen Medien, nicht nur Schmähungen und Beleidigungen. Aber starke, herabsetzende Worte besitzen eben nicht zuletzt einen eigenen Eventcharakter, der ihnen hohe Aufmerksamkeit sichert.
Zweitens: Damit steht nicht länger die unmittelbare Schmähung selbst im Mittelpunkt, sondern die anschließende Verhandlung über die Deutung der Schmähung.
Wir sprechen von „metainvektiver Thematisierung“. Das klingt exotischer als es ist, denn auch beim herkömmlichen Austausch von Beleidigungen ist das keineswegs unbekannt. Nehmen wir wieder unser Schulhofbeispiel: Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit werden auch dort die Worte und Gesten der Kontrahenten einer Bewertung unterzogen, von ihnen selbst, und mehr noch vom Publikum: „Du hast angefangen!“, „Das war gar nicht so gemeint!“ oder „Das ging jetzt aber unter die Gürtellinie!“ sind typische Versatzstücke einer solchen Bewertung, ebenso wie „Das der sich das traut!“ oder „Als Mädchen sagt man sowas nicht!“. Unter den angesprochenen Bedingungen der raumzeitlichen Entgrenzung des Geschehens nun wachsen die Bewertungsmöglichkeiten exponentiell an. Eine große Anzahl von Personen hat Gelegenheit, Partei zu ergreifen und einzelne, vielleicht sehr situativ getätigte Äußerungen mit scharfer Lupe zu untersuchen und in Ruhe zu bewerten. Diese Urteile tragen dann selbst wiederum herabwürdigenden Charakter.
Drittens: Schmähungen sind regelmäßig dann besonders folgenreich, wenn die Herabwürdigung sich auf ein Kollektiv bezieht, wenn also jemand in Hinblick auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe herabgesetzt wird.
Auch das dürfte bereits im Alltag der Regelfall sein, wo jenseits von sehr persönlichen Beleidigungen („Dummkopf!“, „Arschloch“) eine Person aufgrund einer – zugeschriebenen oder tatsächlichen – Gruppenzugehörigkeit als minderwertig geschmäht wird: „Nigger“ oder „Hure“ sind eben nicht nur individuelle Schimpfworte, sondern rassistische bzw. sexistische Stigmatisierungen. Auch die zwischen Mila und ihren Kontrahenten gewechselten Schmähungen gehören in diese Kategorie, wobei das Mädchen direkt angegangen wurde („dreckige Lesbe!“), sie ihren Gegner dagegen über den Umweg „seiner“ Religion angrifft („Deine Religion ist Scheiße!“). Derartige identitäre Herabwürdigungen tendieren dazu, bei den Zuhörern Positionierungszwänge auszulösen, sich als Muslim bzw. als homosexuelle Frau mit den jeweiligen Akteuren zu solidarisieren und gegen „die Anderen“ Stellung zu beziehen.
Viertens: Wer für sich reklamiert, Mitglied einer systematisch geschmähten und herabgewürdigten Gemeinschaft zu sein, kann große Diskursmacht im öffentlichen Raum mobilisieren.
Herkömmlicherweise dient die Herabsetzung von Minderheiten der Bekräftigung von Feindbildern und der Kreierung von Solidarität innerhalb einer („gefühlten“) Mehrheit. Eine Schmähgemeinschaft entsteht. Mit gewachsener Sensibilität für die Rechte von und den Respekt gegenüber Personen, die traditionell wegen ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder wegen typischer persönlicher Eigenschaften (ob Behinderungen oder roter Haare) herabgewürdigt wurden, konnten sich in jüngerer Zeit im öffentlichen Diskurs auch Opfergemeinschaften neu positionieren. Anklagen wegen Rassismus, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit sind zu einem scharfen Schwert geworden, mit dessen Hilfe eigene Lizenzen zur Schmähung der Gegenseite erworben, die Immunisierung der eigenen Position oder Person gegen Kritik erreicht und eine Unterstützung durch die öffentliche Meinung eingeklagt werden können. Dabei ist der Status einer Gemeinschaft als Opfer von Herabwürdigungen in der Regel alles andere als unumstritten, denken wir nur an populistische Bewegungen, die aus der Behauptung, die Eliten missachteten das „Volk“, das sie wiederum repräsentierten, die Berechtigung zu hemmungsloser Schmähung von Politikern und Journalisten ableiten. Besonders abstrus wird es, wenn ausgerechnet der amerikanische Präsident Trump sich zum Opfer einer „Hexenjagd“ stilisiert.
Fünftens: Besonders brisant wird es dann, wenn in der öffentlichen Kontroverse die Geltungsansprüche zweier Opfergemeinschaften gegeneinanderstehen. Dabei zeigt der vorliegende Fall, wie prekär der Status dieser Gemeinschaften ist. Sprechen die sich durch Milas Worte verletzt fühlenden Protagonisten tatsächlich für ‚die‘ Muslime? Oder dürfen umgekehrt die Drohungen gegen Mila wirklich ‚den‘ Muslimen zugeschrieben werden? In beiden Fällen muss die Frage eindeutig verneint werden, und doch führt die Eskalation invektiver Kommunikation hier wie so oft dazu, dass totalisierende Gruppenidentitäten übermächtig werden, denen die Einzelnen kaum entkommen können. Prekär sind umgekehrt erst recht die Identitätskonstruktionen auf der Seite Milas. In der direkten Interaktion in den sozialen Medien agierte sie vor allem als junge Frau mit homosexueller Orientierung, und als solche scheint sie zunächst auch geschmäht und angegriffen worden zu sein. Im politischen Diskurs wurde sie dagegen stärker zu einer Repräsentantin der westlichen Kultur stilisiert und als solche auch zum Gegenstand von Kritik und Drohungen. Daran wirkten wohl beide Seiten mit: die Vertreter der „muslimischen Opfergemeinschaft“, weil die Attacken auf eine hochmütige Repräsentantin der herrschenden Kultur besser zu legitimieren waren als solche auf eine junge Frau mit einer besonders herausgestellten sexuellen Orientierung; ebenso wie die Verteidiger abendländischer Meinungsfreiheit, denen Mila als Bannerträgerin des Kampfes gegen den islamistischen Fundamentalismus gut ins Bild passte. Ségolène Royal war in gewisser Weise die einzige, die sich der Polarisierungslogik verweigerte, indem sie die Worte Milas, salopp gesagt, als pubertäre Entgleisung herabzustufen versuchte. Ein Ausstieg aus der Dynamik von Schmähung und Herabsetzung gelang ihr damit nicht – im Gegenteil, sie eröffnete gewissermaßen eine neue Front: Ihre Worte wurden weithin als invektive Äußerung entlang einer generationellen Bruchlinie verstanden, als herablassende Abqualifizierung einer älteren Politikerin gegenüber einer jungen Frau, die selbstbewusst ihre Rechte reklamierte.
Homo- vs. heterosexuell, ‚abendländische‘ Christen vs. ‚orientalische‘ Muslime oder eben Alte vs. Junge – es hat keinen Mangel an identitären Zuschreibungen, die immer einen fruchtbaren Boden für die Dynamiken invektiver Kommunikation darstellen.
Gerd Schwerhoff
Mitte Januar äußerte eine 16jährige Schülerin, auf Instagram wegen ihrer Homosexualität angegriffen, in starken Worten ihre Abneigung gegen den Islam. Es folgten heftige öffentliche Anfeindungen aus Religion und Politik sowie Grundsatzdebatten über Religionsfreiheit, Respekt vor Andersgläubigen und das „Recht auf Gotteslästerung“. Mila musste die Schule wechseln und wurde mitsamt ihrer Familie unter Polizeischutz gestellt – ein Beispiel für die Dynamik von Invektivität und das oft fatale Zusammenwirken von social media und politischer Öffentlichkeit.
„Dietmar Hopp du Sohn einer …“ – Linguistische Überlegungen zu Schmähungen im Fußball
Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker, Institut für Germantistik, TU Dresden
Ende Februar 2020 bestimmte eine Debatte um Schmähungen und Beleidigungen den Fußballdiskurs in Deutschland. Auslöser dieser Debatte waren die am 24. Bundesligaspieltag gleich in mehreren Stadien gezeigten Spruchbänder mit der Aufschrift „Hurensohn“, gerichtet an Dietmar Hopp, den Multimilliardär und Mäzen des Vereins TSG 1899 Hoffenheim. Und auch in Hoffenheim, wo der amtierende Meister FC Bayern München zu Gast war, hatten Ultras im Gästeblock gleich mehrmals entsprechende Spruchbänder gezeigt. Es kam zu Spielunterbrechungen durch den Schiedsrichter, zu Beschwichtigungsversuchen durch Spieler und Verantwortliche, und schließlich spielten sich die beiden Mannschaften nur noch freundschaftlich den Ball zu, erklärtermaßen ein Solidarisierungszeichen mit dem Geschmähten Dietmar Hopp.
Groß war danach die Aufregung, in den Medien, der öffentlichen Debatte, aber auch in Fankreisen. Hatte hier der Fußball sein „hässliches Gesicht“ gezeigt, wie Karl-Heinz Rummenigge, Vorstand des FC Bayern anschließend sagte? War Dietmar Hopp Opfer von Chaoten, Krawallmachern und einer verrohten Fankultur geworden, gegen die man jetzt entschieden vorgehen müsse, zur Not eben auch mit Spielunterbrechungen und Spielabbrüchen? Die Fans hingegen sahen das Problem an einer anderen Stelle: Die Spielunterbrechungen waren mit dem sogenannten 3-Stufen-Plan begründet worden, der Schiedsrichter anweist, bei rassistischen und anderen diskriminierenden Vorfällen entsprechend einzugreifen. Dieser Plan war nun erstmals umgesetzt worden, aber, so die Fans, ausgerechnet bei einer Schmähung gegen einen weißen Milliardär?
Hinzu kommt aber noch etwas anderes: Die Schmähungen der Fans waren in der Berichterstattung zunächst als initiale aggressive Akte dargestellt worden, getrieben von der Abneigung gegen Dietmar Hopp, der mit seinen Millionen aus einem Dorfverein einen Bundesligaverein machte und deshalb als Symbolfigur eines kommerzialisierten Fußballs schon lange ein erklärtes Feindbild sei. Hier sei also Hass am Werke gewesen, denn zusammen mit den Hurensohn-Plakaten waren auch vielfach Banner gezeigt worden, die das Konterfei Dietmar Hopps in einem Fadenkreuz zeigten, was als Aufruf zur Gewalt gewertet wurde. Die Fans hingegen sahen sich selbst vor allem als Reagierende. In Stellungnahmen verwiesen sie darauf, dass die Schmähungen und auch die Fadenkreuz-Banner Teil von Protestaktionen nicht nur gegen Dietmar Hopp, sondern auch gegen den DFB und seine als zu restriktiv empfundene Fanpolitik gewesen waren. Und genau hierin sahen sie sich bestätigt durch die harschen Reaktionen. Kurzum, die Fronten waren verhärtet.
Was kann man aus linguistischer Sicht zu den Vorfällen sagen? Beginnen wir einmal mit dem Wort Hurensohn selbst. Zweifellos ist das eine ausgesprochen derbe Beleidigung, vielleicht sogar die derbste, die unsere Sprache zu bieten hat. Zugleich aber ist sie gerade im Fußball ausgesprochen weit verbreitet, wie auch verschiedene ethnografische Studien in Fanblöcken immer wieder gezeigt haben. Schiedsrichter, gegnerische Spieler und Fans, Funktionäre, alle werden gerne und oft als Hurensöhne beschimpft, und in nahezu jedem Fußballspiel kann man dieses Wort von den Rängen hören. Ja, hören kann man es ständig, aber es zu lesen ist noch einmal eine andere Sache. Dazu müssen entsprechende Spruchbänder geplant und vorbereitet werden, die dann auch nicht mehr als bloß affektive Äußerungen gelten können.
Und tatsächlich lässt sich gerade bei den Hurensohn-Plakaten anhand der Stellungnahmen der Fans sehr genau nachvollziehen, dass und wie sie Teil einer sehr exakt geplanten Strategie waren, als Protest gegen die Praxis sogenannter Kollektivstrafen durch den DFB, also die Sanktionierung aller Fans wegen der Verfehlungen Einzelner. Deren Abschaffung hatte der DFB im Jahr 2017 zwar angekündigt, aber im Februar 2020 durch ein Urteil gegen die Fans von Borussia Dortmund eben doch wieder eingeführt – u.a. deswegen, weil einige von ihnen Dietmar Hopp wiederholt als „Hurensohn“ bezeichnet hatten. Die Forderung „Kollektivstrafen abzuschaffen“ ist deshalb in den meisten Fällen ganz ausdrücklich auf den Spruchbändern zu lesen gewesen. Ein Hurensohn-Spruchband ist in diesem Diskurskontext also immer beides: Eine Beleidigung gegen Dietmar Hopp – und zugleich eine Anspielung auf die nunmehr inkriminierte Praxis der Beleidigung, und deshalb auch eine – in der Form natürlich bewusst provokante – Kritik an dieser Inkriminierung selbst.
Linguistisch lässt sich diese Doppelfunktion durch die Unterscheidung zwischen Gebrauch und Erwähnung greifen. Wir können Wörter selbst gebrauchen, um uns auf Gegenstände und Sachverhalte zu beziehen und ihnen Eigenschaften zuzuweisen, etwa wenn wir sagen: „Der Köter bellt“. Wir können diese Wörter aber auch nur erwähnen, etwa indem wir sie zitieren und ihre Eigenschaften thematisieren, etwa wie man sie schreibt, was sie bedeuten oder welche Konnotationen sie haben. „Köter ist ein Wort mit fünf Buchstaben, Köter ist eine abwertende Bezeichnung für Hunde.“ Nicht immer ist dabei die Unterscheidung zwischen Gebrauch und Erwähnung so klar wie in den gerade genannten Beispielen, und es gibt sogar Fälle, wo sich beides überlagert. Wenn wir etwa im Gespräch einen Ausdruck mit einer besonderen Betonung versehen, vielleicht kombiniert mit der Wendung „wie es so schön heißt“ oder durch Anführungszeichen, die wir mit den Fingern in die Luft malen. All das sorgt dafür, dass die Aufmerksamkeit auch auf das Wort als solches gelenkt wird.
Die Philosophin Judith Butler hat in ihrem Essay Excitable Speech (in der deutschen Übersetzung Haß spricht) die Unterscheidung zwischen Gebrauch und Erwähnung ausdrücklich auf verletzende Ausdrücke angewendet in einer Passage, die sich wie eine exakte Vorwegnahme der Hurensohn-Debatte liest. Insbesondere in ästhetischen Umsetzungen, und das sind Spruchbänder und Fanchoreographien ja in jedem Falle, werden Butler zufolge verletzende Ausdrücke einerseits gebraucht, um bestimmte Effekte zu erzielen. Andererseits wird eben dieser Gebrauch aber auch der Reflexion zugänglich gemacht, und gerade der Gebrauch verletzender Ausdrücke wird selbst zu einem diskursiven Gegenstand.
Genau das ist passiert, wie die Debatte im Anschluss an die Schmähungen zeigt, und mehr noch: Genau das war auch das erklärte Ziel der Aktionen. Die Red Fanatics München etwa schrieben in ihrer Stellungnahme, dass das Wort Hurensohn bewusst gewählt worden sei und einen „eindeutigen Bezug zu dem sanktionierten Spruchband der Dortmunder“ darstelle, so dass ihre eigene Aktion nicht für sich stehe, sondern eben ein Beitrag zu einem umfassenderen Diskurs über Fankultur sei. Ultras des 1. FC Union Berlin argumentierten ähnlich: Die organisierte Fanszene sei im modernen Fußball die letzte Bastion, an der „laut, frech und provokativ auf Missstände aufmerksam“ gemacht werde. Gerade ein Wort wie Hurensohn sei so eine Provokation – und der Missstand die drohende Zensur der der fankulturell tradierten Beschimpfungspraktiken, während etwa Rassismus auch von Funktionärsseite – man denke an den Schalker Vorstand Clemens Tönnies – weiterhin toleriert würde. Nimmt man solche Stellungnahmen zu den Spruchbändern hinzu, so wird deutlich, dass das Wort Hurensohn nicht einfach nur verwendet wird um zu beleidigen. Es wird zugleich thematisiert und dient als Ausgangspunkt diskursiver Reflexion.
Wenn wir uns nun die Spruchbänder selbst noch einmal genauer ansehen, dann sehen wir diese Metadiskursivität schon in den Formulierungen selbst. Die Münchener hatten geschrieben: „Alles beim Alten: Der DFB bricht sein Wort, Hopp bleibt ein Hurensohn!“ und zeigen mit dem Verb bleiben deutlich an, dass hier ein längerer Diskurs fortgeschrieben wird. Ein weiteres Beispiel: Gladbacher Fans hatten geschrieben: „Hurensöhne beleidigen einen Hurensohn und werden von Hurensöhnen bestraft“. Die rivalisierenden Dortmunder Fans werden als Hurensöhne beschimpft, diese hatten die Beschimpfung selbst gebraucht, der sich die Gladbacher implizit anschließen, und für die Bestrafung dieser Beschimpfung wird die sanktionierende Instanz DFB selbst als Hurensohn beschimpft. A rose is a rose is a rose, so hatte Gertrude Stein formuliert, und das Spruchband der Gladbacher geht in eine ähnliche Richtung.
Interessant sind auch die Fortsetzungen, die der Diskurs am darauffolgenden Spieltag in den Stadien gefunden hat. Denn gerade der in den Augen der Fans unbeholfene Umgang mit den Protesten, die falschen Solidaritätsbekundungen und die Drohungen mit weiteren Spielabbrüchen wurde nun zum Gegenstand der Kritik. Wie man sich dieser Drohung entziehen kann, ohne auf Provokationen verzichten zu müssen, und wie man den Anspielungscharakter, den auch die originalen Hurensohn-Beschimpfungen schon hatten, noch steigert – das haben Fans von Eintracht Frankfurt vorgeführt: „Dietmar Hopp du Sohn einer Mutter“ stand in großen Lettern auf dem Spruchband, dass in der Kurve langsam ausgerollt wurde. Das ist juristisch sauber und gerade in seinem offenkundigen Umschiffen der drohenden Sanktionen ein sehr charmanter Kommentar zur ganzen Debatte.
Beispielhaft führt der Fall somit vor Augen, wie viel an diskursivem Kontext wir berücksichtigen müssen, wenn wir Beschimpfungen wie Hurensohn adäquat beurteilen möchten. In welchen Äußerungstraditionen steht sie, was sind die Anlässe und Rahmenbedingungen ihrer Verwendung? Welche Reflexionen über ihren verletzenden Gehalt gehen mit ihrer Verwendung einher und schreiben sich in die Verwendung selbst ein? Für die linguistische Forschung sind das spannende Fragen, die am Beispiel des Fußballs sehr gut bearbeitet werden können. Und natürlich kann man die Hurensohnplakate für geschmacklos und die Kritik der Fans an Hopp für überzogen halten. Doch die Hurensohn-Plakate einfach als dumpfe Beschimpfungen und ihre Produzenten als Chaoten zu bezeichnen, wird der Sache ganz sicher nicht gerecht.
Ende Februar 2020 entfachten Schmähplakate gegen den Fußballmäzen Dietmar Hopp, die organisierte Fangruppen gleich in mehreren Stadien gezeigt hatten eine öffentliche Debatte. Im Podcast rekonstruiert Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker die Ereignisse und zeigt aus linguistischer Perspektive, warum mehr dahinter steckt als nur eine stumpfe Beschimpfung durch Chaoten.
Alle Büttel sind Bastarde? Ein durchaus provokanter Titel, der aber als spielerischer Anachronismus auf die anhaltenden Auseinandersetzungen um Polizeigewalt in modernen Gesellschaften verweist und gleichzeitig das Problem frühneuzeitlicher Ordnungskräfte pointiert zusammenfasst. Die Ausübung staatlicher Gewalt war schon immer legitimierungsbedürftig und durchaus fragil. Dies trifft umso mehr auf die Frühe Neuzeit zu, die weder moderne Polizeibeamte noch eine Polizeiausbildung oder Gleichheit vor dem Gesetz kannte.
Deswegen wird im Folgenden auch nicht von Polizisten die Rede sein, sondern von Ordnungskräften. Beleidigungen wie Schelm oder Büttel, ursprüngliche Bezeichnungen für vormoderne Ordnungskräfte, verweisen bereits auf den schlechten Ruf, den diese vormodernen Polizeikräfte ausgesetzt waren.
Dies traf insbesondere auf die allgegenwärtigen vormodernen Ordnungskräfte zu, denen die Beaufsichtigung der Bettelnden und Armen aufgetragen waren. Die sogenannten Bettelvögte.
Der nun folgende Vortrag soll einen kleinen Einblick in die frühneuzeitliche Armenpolitik unter dem Kurfürstkönig August dem Starken geben, behandelt also grob den Beginn des 18. Jahrhunderts. Diese Ausführungen entstammen fast ausschließlich dem Verwaltungsschriftgut des Dresdner Stadtarchivs auf dessen Basis ich nicht nur den heutigen Vortrag, sondern auch vor gut 3 Jahren meine Abschlussarbeit schreiben konnte.
Zu Beginn steht eine einführende Auseinandersetzung mit der Armen- und Bettelproblematik des 18. Jahrhunderts, die auch die sächsische Armenfürsorge beleuchten wird und mit dem klassischen Instrumentarium der Geschichtsschreibung arbeitet. Diesem Blick von oben folgt der Blick von unten: mit den Methoden der Mikro- und Alltagsgeschichte werfen wir einen Blick auf die Armut durch die Augen ihrer Verfolger: Der Dresdner Bettelvögte.
Zunächst werde ich die Aufgaben der städtischen Bettelvögte erläutern. Dabei werden wir sehen, dass die Vögte nicht nur die Armen, sondern auch Sittengesetze und Hygieneregeln in der Stadt beaufsichtigten. Für den Stadtrat waren die Vögte multifunktional.
Danach erhalten wir einen Einblick in die Art und Weise, wie die Stadtbewohner die Dienste der Vögte aktiv in Anspruch nahmen. Korruption und Bestechlichkeit, so viel sei vorweggenommen, waren in der Vormoderne ganz anderen Bedingungen ausgesetzt als heute.
Die vielen erhaltenen Beschwerden geben aber auch einen tiefen Einblick in Konflikte und Auseinandersetzungen dieser städtischen Ordnungskräfte mit den Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt. Hier werden wir sehen, dass Gewaltanwendung durch Ordnungskräfte schon immer ein umstrittenes Feld war.
Zum Schluss soll ein letzter Blickwinkel nicht fehlen: Der der Vögte auf sich selbst, wie sahen sie ihren Beruf und wer übte diesen überhaupt aus? Hier wird sich zeigen, dass die Vögte den Armen, die sie verfolgen mussten, gelegentlich näherstanden als ihren Geldgebern.
1. Armut, Bettelwesen und die obrigkeitliche Organisation der guten Ordnung:
Beginnen wir den Überblick zum Armenwesen des 18. Jahrhunderts mit den Worten eines Dresdner Pfarrers von 1717:
„Reiche und Arme müssen unter einander seyn, der HErr hat sie alle gemacht, […]. Wenn demnach GOtt geboten hat: Es soll allerding kein Bettler unter euch seyn: So ist das ohne allen Zweiffel die Meynung: Ihr solt es nicht zugeben noch dahin kommen lassen, daß euer Mit=Bruder, […] gezwungen werde, für die Thüren herum zu gehen, und das Brodt zu betteln. Denn die Gewohnheit, daß man das Brodt für den Thüren bettelt, bringet viel Ungelegenheit mit sich, und soll in wohlbestelten Regimenten billich verbessert werden. […]
"An dieser guten Anstalt hat es auch leider bißher in Sachsen gar sehr gemangelt, daher nicht nicht nur die rechten Armen haben müssen das Brodt vor den Thüren suchen; Sondern es haben sich auch unzehlich viele gottlose Leute auf das Betteln geleget aus lauter Faulheit und Leichtfertigkeit, indem sie nicht arbeiten auch Herren und Frauen nicht gut thuen wollen […] haben als recht Blut=Egeln frommen Hauß=Vätern das Brodt abgetrotzet, in dem sie greuliche Hurerey unter einander getrieben, in denen Schencken und Wirths=Häusern geschwelget und gesoffen […] auch mit lügen, trügen und stehlen sich sehr versündiget."
Die Unterteilung in arbeitsunfähige Arme, die im „wohlbestellten“ Fürstenstaat nicht vor den Türen betteln sollen und arbeitsfähige, faule Schmarotzer war weit verbreitet. Die Gelehrten und Obrigkeiten des 18. Jahrhunderts erhofften sich durch eine rationale Organisation das Armenwesens so die geläufige Wortwahl „gäntzlich zu steuern“. Neben der Unterteilung nach Arbeitsfähigkeit, wurden die umherziehenden Armen auch in einheimisch und fremd unterteilt. Jeder Arme sollte am Ort seiner Geburt versorgt werden.
Betrachtet man die Ergebnisse der Sozialgeschichte so zeigt sich, dass die meisten Bettelnden einer Art Mischerwerb nachgingen. Sie arbeiteten auf Baustellen, halfen bei Ernten, verkauften Sägespäne oder Zweige oder sie spannen zuhause Garn. Diese Arbeiten brachten meist keinen regelmäßigen Lohn ein, sondern waren - modern gesprochen - von der Auftragslage abhängig. Standen keine Bauprojekte in der Stadt an, waren die Tagelöhner von heute auf morgen unversorgt. War die Ernte eingebracht, mussten die Erntehelfer weiterziehen und die Heimarbeit war den Zyklen des Marktes unterworfen. Betteln war für diese Personen eine Möglichkeit, um kurzzeitige oder langanhaltende Notlagen aufgrund mangelnder Arbeit zu überbrücken.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Frühen Neuzeit erwiesen sich als äußerst beständig: Wer umherzog und sich andernorts nach Arbeit umsah, stieß nicht nur auf Landesgrenzen, sondern sah sich der Gefahr gegenüber, als Fremder keine Hilfe von Seiten der örtlichen Gemeinschaft zu erhalten. Waren Kinder auf der Wanderschaft geboren und keinem Ort mehr zuzuordnen, konnten diese am heimatlich organisierten Versorgungssystem nicht mehr teilhaben.
Unter dem Druck der Zuordnungen entstanden Gruppen von Umherziehenden, die zeitgenössisch als „Vagabunden“, manchmal auch diffamierend als „Zigeuner“, bezeichnet worden. Diese umherziehenden Heimatlosen galten als Ausgeburt der Kriminalität. Ihnen wurden Raub und Mord nachgesagt. In immer neuen Aktionen zogen Soldaten durch die Lande, sammelten diese Heimatlosen ein und warfen sie gemeinsam über die nächste Landesgrenze. Dieses Spiel wiederholte sich im nächsten Territorium. Im Laufe der Zeit entstanden so immer größere Gruppen von Heimatlosen, deren Kinder aufgrund sozialer Stigmatisierungen diesem Milieu heimatloser Gelegenheitsarbeiter kaum entkamen.
Die Stigmatisierung der Unehrlichkeit war ein vormoderner, kommunikativer sozialer Exklusionsmechanismus, der einheimische wie fremde Unterschichten schnell traf. Diese Ausgrenzung übertrug sich von den Eltern auf die Kinder. Soziale Exklusion war in der Vormoderne vererbbar.
Insbesondere Alte, Waisen, Witwen und ledige Mütter, aber auch ehemalige Soldaten, arbeitslose Handwerker, Kranke, Krüppel, Verlagsarbeiter, unehelich Geborene und Heimatlose konnten schnell in die Bedürftigkeit abrutschen.
Statistische Schätzungen sind für die Vormoderne mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem ist davon auszugehen, dass 90% der Bevölkerung dauerhaft von Armut bedroht war. Armut war eine Massenerscheinung, die die frühneuzeitliche Gesellschaft in ihrem Zentrum prägte.
Für diese Menschen war eine Stadt wie Dresden ein Hoffnungsschimmer. Hier residierte der Kurfürst-König und mit ihm seine meist adligen Verwaltungsbeamten.
Die repräsentativen Prachtbauten, aber auch die Ende des 17. Jahrhunderts fast vollständig abgebrannte Neustadt, benötigten Arbeitskräfte. Die großen Märkte der Stadt versprachen Absätze. Dresden war ein Magnet, nicht nur für aufstiegswillige Adlige sondern auch für Personen, die darauf hofften an diesem Wohlstand teilhaben zu können. Doch nicht alle konnten in Dresden ein ausreichendes Auskommen durch Arbeit finden. Diese verblieben oft in der Stadt beziehungsweise in den Vorstädten und versuchten ihr Einkommen durch Betteln aufzubessern.
Überall sichtbare Armut war für einen Herrscher wie August den Starken, der ja auch als sächsischer Sonnenkönig bezeichnet wurde, ein Ausweis für schlechte Herrschaft. Die gängigen patriarchalen Herrschaftsbilder vom Landesvater und seinen Landeskindern geboten Handlungsbedarf. Das Zeitalter des Barock – früher oft Zeitalter des Absolutismus genannt – versuchte durch verschiedene Steuerungsmechanismen der sichtbaren Armut entgegenzuwirken.
Dazu gehörten dem eingangs zitierten Armenbild entsprechend zwei Stoßrichtungen: Unterstützung und Repression. Die sächsischen Bettelordnungen von 1715 und 1729 legten für die Versorgung ein Heimatprinzip fest. Bedürftige sollten vom jeweiligen Ort, an dem sie Abgaben geleistet hatten, versorgt werden. Das Geld dafür mussten die Gemeinden selbst aufbringen. Dies geschah meist über freiwillige Almosensammlungen durch Stadtbedienstete. Die Rechnungsführung wurde von der Landesregierung überprüft, um Missbräuchen vorzubeugen.
Die repressive Seite äußerte sich im vollständigen Verbot des Bettelns, für das teils drakonische Strafen vorgesehen waren: Von der Einweisung in Zucht- und Armenhäuser über die Einstellung der Almosenzahlungen bis hin zu Gefängnis-, Karren-, Beineisen- und Körperstrafen oder sogar Landesverweis.
Die sächsische Armenvorsoge war damit bürokratisiert, zentral kontrolliert aber lokal organisiert. Die konkrete Ausführung oblag den Städten und Gemeinden.
In Dresden gab es mehrere Einrichtungen die für die Beherbergung und Versorgung von ca. 300 obdachlos gewordenen Einwohnern zuständig waren: Das Armenhaus, das städtische Findelhaus, das Lazarett, dass auch zur Versorgung kranker Armer genutzt wurde, ein Waisenhaus, das Hospital St. Materni, das Bartholomäus Hospital und das Hospital zum Brückenkopf.
Den in städtischen Einrichtungen versorgten Armen standen ungefähr eintausend sogenannte Hausarme gegenüber, die von der Stadt Almosen erhielten, aber ihr eigenes Zuhause hatten. Obwohl sich die Stadtbevölkerung zwischen 1700 und 1755 von 31.000 auf 63.000 verdoppelte, wuchsen weder die Kapazitäten der Armenhäuser noch die der unterstützen Hausarmen merklich an.
Der Empfang des städtischen Almosens war an eine Prüfung gebunden. Die Namen der versorgten Personen wurde in jährlichen Rechenberichten mit Angabe des Wohnortes gedruckt veröffentlicht. Einmal die Woche wurde den Bedürftigen das Almosen, das zwischen 2 und 12 Groschen betrug, durch die Stadtverwaltung ausgeteilt. 1729 geschah dies an einem Freitag vor dem Pirnaischen Tor am böhmischen Kirchhof.
Der Eigenlogik barocker Policeymandate folgend war Armut durch diese Bestimmungen reguliert, denn der Mobilität der Bettelnden war durch entsprechende Verbote und das Heimatprinzip Schranken gesetzt. Doch ein Verbot wie das des Bettelns benötigt Ordnungskräfte, die es auch umsetzen. Wie überall üblich, hatte die Stadt Dresden sogenannte Bettelvögte, die Bettelnde notfalls mit Gewalt aus der Stadt vertreiben und Aufsicht über die heimischen Armen führen sollten.
Da die Ausführung der Bettelmandate in der Residenzstadt nicht immer reibungslos funktionierte – es oft auch gar nicht konnte - sind bis heute ausführliche Akten über die Armenverwaltung im Stadtarchiv Dresden erhalten, in denen neben Dienstlisten, Anstellungsnotizen auch viele Beschwerden enthalten sind, die den Historiker und Historikerinnen der Gegenwart tiefe Einblicke in die Alltagsgeschichte des barocken Dresdens geben können.
2. Der Stadtrat und die Bettelvögte:
Einen ersten Einblick in die Tätigkeiten der Bettelvögte erhalten wir, wenn wir einen Blick auf die Dokumente der alltäglichen Arbeit des Almosenamts werfen: Den Instruktionen, Diensteinteilungen und Bewerberunterlagen.
Nach ihrer Anstellung hatten die neuen Bettelvögte wie auch moderne Polizeibeamte einen Eid zu leisten. Der modernen Leserin fällt sofort die Ausführlichkeit auf, mit der auch einfache Tätigkeiten darin festgehalten waren. So gesehen, war der Eid auch gleichzeitig eine Instruktion und ein Arbeitsvertrag, der nur eben mündlich und nicht schriftlich getroffen wurde.
Die Bettelvögte sollten Bettler ohne Papiere direkt aus der Stadt verjagen oder zum Verhör ins Almosenamt bringen. Sie sollten auf den Besitz der gefangenen Bettler achtgeben, sie ordentlich einsperren falls nötig, niemanden zu ihnen lassen und sich während der Gefangenschaft angemessen um sie kümmern.
Ihre eigenen Familienangehörigen sollten die Vögte nicht betteln lassen. Sie sollten niemanden Anleitung geben, wie sie trotz Verbot betteln gehen könnten. Von festgenommenen Bettelnden waren keine Bestechungsgelder anzunehmen. Den „Unfug“ auf den Straßen und in den Kirchen während des Gottesdienstes sollten sie „steuern“, also wohl die Kinder und Jugendlichen der Stadt zur Sittlichkeit ermahnen.
Immer sollten sie dabei bescheiden agieren und wortwörtlich: „niemanden durch übermäßige Schläge oder sonst Schaden zufügen“. Ihnen war es verboten ohne vorherige Ankündigung die Stadt zu verlassen.
Für ihre eigentliche Aufgabe, die Vertreibung der Bettler, wurden den Vögten je eigene Reviere zugeteilt. Die heutige Altstadt wurde meist von vier Vögten parallel begangen, die heutige Neustadt von einem. Neben den Gassen und Straßen mussten sie auch in den Kirchen während der Gottesdienste anwesend sein. Zu bestimmten Zeiten sollten sie an den Stadttoren aushelfen und die Vorstädte kontrollieren.
Soweit die schriftlich fixierten Vorgaben. Betrachten wir hingegen die vielfältigen Akten, die vom Almosenamt hinterlassen wurden, ergeben sich noch weitere Aufgaben, die nicht in den Eiden enthalten sind.
Die Bettelvögte mussten auch bei Beerdigungen anwesend sein. Das verwundert wenig, denn gerade bei wohlhabenderen Personen war es üblich, dass während der Beerdigung auch Geschenke an Arme und Bedürftige ausgeteilt wurden. Die Vögte sollten dabei wahrscheinlich für Ruhe und Ordnung sorgen. Weiterhin sollten sie – darauf wird später noch einzugehen sein – während ihrer täglichen Patrouillen durch die Stadt ihre Augen nach toten Tieren offenhalten.
Sie sollten auch – und diese Aufgabe stellte sich immer wieder als äußerst kompliziert heraus – nachts nach Prostituierten Ausschau halten und diese gefangen nehmen. Diese Aufgabe war schon deswegen problematisch, da einige der Vögte scheinbar zu deren Kunden zählten. Weiterhin hatten sich die Frauen– ob zu ihrer Sicherheit, durch häufige Kontakte oder durch ein Gefühl der Solidarität – häufig mit den Soldaten in der Stadt angefreundet und wurden von diesen nachts begleitet. Auch wenn die Bettelvögte oft als gewalttätig beschrieben wurden, boten die an Gewalt gewöhnten Soldaten einen Grund dieser Aufgabe eher nachlässig nachzukommen.
Eine weitere Aufgabe, die sich immer wieder nur am Rande auffinden lässt, ist das Aufsammeln von Nachttöpfen der Dresdner Einwohner und Einwohnerinnen, den sogenannten Scherbeln. Dies oblag nicht den Bettelvögten, sondern ihren Frauen! Die Ehepartnerinnen der Vögte wurden dazu genötigt, nachts durch die Straßen zu gehen, die vollen Nachttöpfe der Einwohner in ein großes Fass zu entleeren und dieses an geeigneter Stelle zu entsorgen. Diese Tätigkeit ist ebenso durch eine Beschwerde überliefert. Als ein Bettelvogt namens Christian Semich entlassen wurde, spielte die Tatsache, dass er seine Frau nicht mit nach Dresden geholt hatte eine gewichtige Rolle, denn so die Wortwahl des Almosenamtsvorstehers: „solches aber, wegen auflesung derer Scherbel auf denen gassen bey denen andern Armenvoigten Verdrießlichkeiten verursachet.“
Gelegentlich scheinen die Vögte auch den Gerichtsdienern ausgeholfen zu haben, auch wenn unklar bleibt wie diese Hilfe aussah. Auffällig ist, dass ein Bewerber namens Gottlob Lischke, ein 40-jähriger Leinenweber von diesen Diensten ausgenommen werden wollte. Auch ihn drängte laut eigener Aussage die „schlechte Nahrung“. Drei Monate später bewarb sich ein 33 Jahre alter Schumacher, der, wie er selbst angab, „seit etlichen Jahren in großer armuth gerathen“ und deswegen bereit war alle Dienste auszuführen. Der Stadtrat zögerte nicht den hungrigen Bewerber anzustellen und Lischke aufgrund seiner Weigerung sofort zu entlassen.
Über die Bestrafungen der städtischen Ordnungskräfte bei Fehlverhalten sind wir genauer informiert. Die Strafe wurde zumeist am Ende einer aktenkundigen Beschwerde vermerkt.
Üblich waren Geldstrafen, Verwarnungen, Stockschläge, Haftstrafen, Entlassungen und das Tragen der Sturmhaube. Letzteres war eine typische frühneuzeitliche, öffentliche Schandstrafe, bei der die Delinquenten vor dem Rathaus mit einer Eisenmaske auf dem Kopf vor den Augen der Stadtbevölkerung erniedrigt wurden. Darauf folgte fast immer die Entlassung. Die Sturmhaube stellte also eine Art Höchststrafe für die Bettelvögte dar.
Dass der Stadtrat seinen Knechten misstraute zeigt die Einführung eines Obervogtes der seine Kollegen zu beaufsichtigen und deren Fehlverhalten sofort zu melden hatte. Aber auch die anderen Vögte konnten ihre Kollegen jederzeit denunzieren, was nicht selten zu Ketten gegenseitiger Beschuldigungen führen konnte.
Auch über die Bezahlung sind wir recht gut unterrichtet.
Ungefähr ein Taler die Woche war der normale Lohn. Hinzu kam ein regelmäßiges Kleidergeld, denn die Vögte trugen keine Uniformen, sondern ihre persönliche Bekleidung. Weiterhin erhielten die Vögte einen jährlichen Bonus zu Neujahr, den sie selbst mit Klingelbüchsen in der Stadt sammelten und eine von der Stadt bereitgestellte Gemeinschaftsunterkunft. Weiterhin durften sie bei den Kirchsammlungen und bei Begräbnissen einen Anteil des gespendeten Geldes einbehalten. Vergleicht man dieses Gehalt mit anderen Tätigkeiten, zeigt sich, dass die Tätigkeit im unteren Durchschnitt lag: Die Bauarbeiter in der Stadt verdienten ähnlich und auch der Schreiber des Almosenamtes, der eine Ausbildung im Schreiben und Lateinkenntnisse vorweisen musste, erhielt nur wenige Groschen mehr.
Trotzdem versuchten die Bettelvögte immer wieder ihr Gehalt nebenher etwas aufzustocken.
Nehmen wir als Beispiel eine anonyme Denunziation aus dem Jahre 1718. In dem Schreiben wurde dem Rat gemeldet, dass die Frau des Bettelvogtes Messing den Gefangenen im Gefängnis eine Wurzel verkaufen würde, die ihnen durch ihre scheinbar magische Kraft, die Freiheit wiedergeben würde. Angesichts des weit verbreiteten Glaubens an magische Amulette und andere praktische Alltagszauber ist die Denunziation durchaus glaubwürdig, auch wenn sie scheinbar keine Konsequenzen nach sich zog.
Dies war im Falle eines Eingriffs in fremde Zuverdienstmöglichkeiten etwas anderes. Zwei Vögte die toten Hunden das Fell abzogen, um es weiter zu verkaufen, wurden nicht wegen der Tätigkeit an sich bestraft, sondern da dies eine traditionelle Verdienstmöglichkeit des Scharfrichterknechts war. Letzterer führte auch die Beschwerde, der statt gegeben wurde. Ein anderer Vogt ließ seine Familie das abgekochte Fett toter Hunde auf der Straße verkaufen.
Manche Beschwerden weisen darauf hin, dass einige Vögte von Gefangenen eine Ausschließgebühr verlangten, sich also das Aufschließen der Zellen bei der Freilassung honorieren ließen. Dies war zwar im städtischen Gefängnis üblich, den Bettelvögten jedoch aufgrund der offensichtlichen Finanzierungsproblematik verboten.
Wie sich zeigt, waren die Bettelvögte für den Stadtrat ersetzbare, multifunktionale Knechte. Sie konnten auch Aufgaben übernehmen, die mit ihrer eigentlichen Tätigkeit bestenfalls eine pragmatische Verbindung besaßen. Die Notlage mancher Bewerber wusste der Rat auszunutzen, denn die Bezahlung ermöglichte den Vögten durchaus ein Leben oberhalb der Armutsgrenze. Wenn einer der Bettelvögte gegen seinen Eid verstoßen hatte, so entschied letzten Endes meist die Bewerberlage darüber, wie stark der Stadtrat seine Knechte tatsächlich bestrafte.
3. Dienstleister für Markt und Obrigkeit:
Doch nicht alle Zuverdienstmöglichkeiten die auch aus heutiger Sicht unmoralisch wirken, waren es damals ebenso. Damit kommen wir zur Sichtweise der Stadtbevölkerung auf die Vögte. Wir beginnen mit den Bettelvogt als Dienstleister für Markt und Obrigkeit.
Immer wieder finden sich in den Akten Hinweise darauf, dass die Vögte von den Besitzern der Marktstände bezahlt wurden, um Personen fern zu halten, die das Geschäft stören könnten. In keinem der überlieferten Fälle ist eine Bestrafung der bestochenen Vögte erkennbar. Das verwundert wenig, da die Eide ja nur eine Strafe für die Bestechung durch Bettler vorsahen. So kam es dazu, dass die Bettelvögte Geld und Waren, beispielsweise Töpfe von den Besitzern erhielten, wenn sie dafür die Bettler von den Ständen fernhielten. Auch darüber sind wir nur deswegen informiert, weil einige der Kollegen sich dabei ungerecht behandelt fühlten und Anklage erhoben.
Während die Händler für die Anwerbung der Vögte bezahlten, musste die städtische Oberschicht dies nicht. Ein Beschwerdeschreiben der Bettelvögte an den Stadtrat selbst gibt uns darüber Auskunft:
Da der Stadtrat entschieden hatte, bei anhaltenden Beschwerden der Dresdner Bürger und Bürgerinnen den Bettelvögten Lohn abzuziehen, protestierten die städtischen Ordnungskräfte, denn sie fühlten sich zu Unrecht belangt. Das Abhalten der Bettler aus den Häusern an sich wäre kein Problem, vielmehr so die Vögte selbst: müssten "auch etliche Von uns 3 bis 4 vornehme Häuser abwartten, das wenn selbe aus dem Collegi kommen nicht vor den Häußern oder auf den Gaßen angelauffen werden“. Hier sind es Mitglieder der Landesverwaltung, die städtische Ordnungskräfte ohne pekuniäre Gegenleistung zu ihrem Privatschutz heranzogen.
Nun stand der Stadtrat vor einem Problem: Gegen die Amtsträger, die die Dienste für sich privat in Anspruch nahmen, konnten sie nichts unternehmen, die Beschwerden der anderen Anwohner konnte der Rat aber ebenso wenig ignorieren; mehr Vögte anstellen war kaum möglich, die angepeilten 12 Vögte die in den städtischen Verordnungen angegeben waren, konnten nie erreicht werden. Bestraft sollten am Ende die Beschwerdeführenden selbst werden. Doch wehrten sich die Bettelvögte mit ihrer Dyslexie: Sie hätten nicht gewusst, was eigentlich im Brief stand.
Die sechs Vögte, die das Schreiben unterzeichnet hatten, konnten dies tatsächlich noch nicht einmal selbst, die Unterschriften sind alle in der gleichen Handschrift verfasst, wie der eigentliche Brief. Der eigentliche Briefschreiber, auch ein ehemaliger Bettelvogt, war mittlerweile aus der Stadt verschwunden, womit der Fall ohne Konsequenzen beendet werden konnte.
Die Oberschicht der Stadt hatte ohnehin ein bedeutend besseres Druckmittel als direkte Geldgeschenke, um die Dienste der Vögte zu erhalten: Als Großverdiener leisteten sie auch einen wesentlichen Beitrag zur Almosenkasse. Da dieser Beitrag auf Freiwilligkeit beruhte, konnte die Oberschicht problemlos die Zahlungen einstellen, um Druck auf das Almosenamt und damit die Bettelvögte auszuüben.
Hierüber sind wir durch mehrere Klagen von Almosensammlern unterrichtet. Diese hatten dem Almosenamt gemeldet, dass sich einige Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt wörtlich „über das allergrößte anlauffen derer bettelleute in ihren häußern […] sehr beschweret“.
Angefügt ist eine Liste über die insgesamt 95 Haushalten. Bei der Hälfte ließen sich über andere Quellen deren Hintergründe ermitteln.
37 davon waren Teil der kursächsischen Verwaltung, darunter die Gräfin von Wazdorff, der Kanzler von Bünau, der Vizekanzler Ritter, der Präsident von Schönberg, der Oberkriegskommissar Schmieder und Präsident von Leipziger. Selbst die Kanzlei und das Posthaus beschwerten sich. Weiterhin finden sich auch Kaufmänner, Apotheker, Seifensieder, Glaser oder Jagdmaler. Der Großteil der Beschwerden stammte also im weitesten Sinne aus der vermögenden städtischen Oberschicht. Einige wollten sogar lieber das Almosen privat an ihren Häusern austeilen, als es der Stadtverwaltung zur weiteren Verteilung zu übergeben.
Erkenntnisreich ist die Wortwahl, die sich in solchen Beschwerden immer wieder findet und die viel über den Wert des persönlichen Ansehens in der Frühen Neuzeit verrät:
Man beschwerte sich, von Bettlern „uberlauffen“ zu werden. Es ist die Rede davon, dass man sich vor Bettelnden „retten“ müsste. Die Betroffenen würden „incommodiret“ oder man könne „sich vor denen häuffigen bettelleuten nicht sehen laßen“.
Es zeigt sich also, dass die Aufgaben der Bettelvögte von den Bewohnern der Stadt durchaus gefragt waren. Nur konnten sie diesen bei all den Anfragen oftmals kaum nachkommen. Die Markbesitzer versuchten sich diese Dienste zu erkaufen – die städtische Oberschicht hingegen forderte sie über die Einstellung der Almosenzahlungen an die Stadt für sich ein. Das sich unter den Beschwerdeführern keine Handwerker oder andere weniger bemittelte Personen auffinden lassen, bedeutet nun nicht, dass diese nicht auch die Dienste der Bettelvögte in Anspruch nehmen wollten. Nur hatten sie kaum die Möglichkeit durch die Einstellung von Almosenzahlungen auf sich aufmerksam zu machen oder die Vögte für ihre Dienste besser zu bezahlen, als es die Händler vermochten.
Trotzdem – die Vögte hatten eine Art Dienstleisterrolle übernommen. Auch wenn ihnen immer wieder unterstellt wurde nachlässig zu sein, so wurde ihre Tätigkeit an sich von Teilen der Stadtbevölkerung durchaus geschätzt, eingefordert und eingekauft. Doch rede ich hier bewusst von Teilen der Stadtbevölkerung – denn der weit überwiegende Teil der überlieferten Akten spricht eine ganz andere Sprache.
4. Konflikte und Angriffe:
Gewaltanwendungen durch die Vögte waren bisher nur am Rande angeklungen. Die folgenden Ausführungen wenden sich nunmehr auch diesem dunklen Kapitel zu.
Wir beginnen mit einer Beschwerde, die sich um eine frühneuzeitliche Massenveranstaltung herum entspann: einer Hinrichtung auf dem heutigen Dresdner Altmarkt.
Der Bettelvogt Martini sollte bei der Überführung der beiden Delinquenten vom Gefängnis zur Hinrichtungsstädte vor dem Dresdner Rathaus aushelfen. Während die Geistlichen die beiden Delinquenten auf ihren anstehenden Tod vorbereiteten, versuchten einige neugierige Jungen an den Gitterstäben vor dem Gefängnisfenster hochkletternd, hereinzublicken. Auf Anweisung des Gefängniswärters und der Geistlichen begann der gerade eingetroffene Armenvogt auf die Schaulustigen mit seinen Stock einzuschlagen. Nach der Überführung begab sich der Bettelvogt in die Menschenmenge vor dem Schafott, um der bevorstehenden Hinrichtung als Zuschauer beizuwohnen. Dabei scheint er sich etwas unsanft nach vorn gedrängelt zu haben, denn ein Mitbürger, der Lakai Zäncker, rief aus: „sehet doch, wie breit die Hundepeitscher sich machen.“ Wutentbrannt über die Beleidigung als Hundspeitscher schlug Martini dem Bürger mehrfach seinen Stock über den Kopf und rief: „Er wolle die Canaille […] tod schlagen“. Scheinbar schlug der Bettelvogt dabei noch auf weitere Bürger ein bis ein nahebei stehender Wachtmeister die Streithälse voneinander trennte.
Tatsächlich kostete dieser Streit den Bettelvogt Martini nicht den Job, sondern die mehrfache Gewaltanwendung gegen Dresdner Einwohner wurde mit einer Prügelstrafe quittiert. Der ehemalige Musketier und städtische Bettelvogt Martini wurde in Anwesenheit des geschlagenen Lakaien mit 25 Stockschlägen bestraft. Er musste Schadensersatz leisten, durfte aber weiter angestellt bleiben. Auch die Beleidigung einer Fischerin, die Beleidigung und das Prügeln einer gefangenen Bettlerin als Luder, Bestie und Canaillie die ihn „im Ar… lecken“ könne, sowie die Schlägerei mit einem Kollegen bei der beide von Soldaten festgenommen worden waren, führten nur zu einer Geldstrafe. Erst als der 29-jährige Martini auf den Almosenamtsvorsteher geschimpft, seinen Dienst verweigert und betrunken den Hund einer Einwohnerin gestohlen hatte, musste er die Sturmhaube tragen und wurde entlassen.
Die Bettelvögte waren durchaus gewaltbereit. Diese latente Aggressivität bewiesen sie vor allem gegenüber gefangengenommenen Bettelnden.
Immer wieder finden sich in den Akten Aussagen wie die des Bettelvogtes Georg Hornuff. Dieser hatte auf die Beschwerde einer verletzten Dienstmagd wörtlich geantwortet: „daß Mensch habe entspringen wollen, da [ist] sie den gefallen“. Auch die Beschwerden einer verhafteten Bettlerin, über Gewaltanwendung bei ihrer Festnahme führte für den Vogt zu keinerlei Konsequenzen. Wie sie zu Protokoll gab, habe sie der Vogt „sehr übel tractiret und geschimpfet“ und zu ihr gesprochen „ich stoße dir den Kopff wieder die Wand, daß dir die Zähne aus dem halß sollen springen".
Bei Beschwerden von verletzten Bettlern findet sich fast immer das gleiche Muster aus Vorwurf, Leugnung oder Bagatellisierung und Straffreiheit. Was letzten Endes auch wenig verwundert, denn die Vögte waren instruiert Gewalt anzuwenden, auch wenn sie sich dabei mäßigen sollten.
Ganz anders stellte sich der Fall dar, wenn Dresdner Einwohner oder Einwohnerinnen beziehungsweise deren Kinder angegriffen worden waren, die nicht gebettelt hatten. Als sich ein Ratsarbeiter beschwert hatte, dass ein Bettelvogt wörtlich „sein Eheweib mit dem Stocke übers gesicht geschlagen, daß sie blaue Flecke habe und sehr übel im gesicht aus sähe“ wurde der Beschuldigte sofort mit der Sturmhaube vor der gesamten Stadtöffentlichkeit bestraft. Der Vogt Wündsche wiederum, der zugegeben hatte ein vierjähriges Kind mit dem Rohrstock dreimal geschlagen zu haben und aussagte, dass er dabei so wörtlich „ein bisgen betrunken gewesen“ musste ebenso die Schandmaske tragen und sich von der Stadtöffentlichkeit schmähen lassen. Beide wurden danach entlassen.
Diese latente Gewaltbereitschaft zumindest einiger Bettelvögte sorgte unter den potenziellen Betroffenen für eine angespannte Stimmung, die sich fallweise über alle angestellten Vögte entladen konnte.
Die Entdeckung einer toten Bittstellerin die vor den königlichen Stalltoren liegend aufgefunden wurde, führte zu einer solchen Stimmung in der Stadt.
Scheinbar hatten zwei Bettelvögte die später Verstorbene zu Boden gestoßen und sie vor den Stalltoren liegen gelassen. Nach Auffinden der Leiche wurden die beiden Bettelvögte sofort inhaftiert und der Fall genauestens untersucht. Als die Obduktion der Leiche keine äußeren Verletzungen ergab, wurde einer der beiden, Hochmuth, einen Monat nach seiner Festnahme freigelassen. Der andere, Opitz, wurde am 12. August für drei Monate mit Festungsbau bestraft.
Der Fall sprach sich schnell herum und während die beiden Vögte noch inhaftiert waren und die Untersuchungen liefen, kursierten in der Stadt die verschiedensten Gerüchte und Drohungen.
Einer der Armenvögte war aus Angst sogar aus der Stadt geflohen. Er hatte auf der Straße gehört, dass die beiden Kollegen wahrscheinlich hingerichtet werden und dass nun sämtliche Vögte die ihnen verdiente Strafe erhalten würden. Ein weiterer Bettelvogt wurde von Jungen auf der Webergasse mit Kot und Steinen beworfen und durch die Straßen gejagt während ein Mann ihnen wortwörtlich zurief: „ich will selbsten noch einmahl einen bettelvoigt zeichnen, daß er seine Lebetage dran gedenken soll.“ Auf den Straßen waren Sätze zu hören wie: „wir wollen sehen ob wir einen Bettelvoigt antreffen, und wenn er uns wir[d] was thun wollen, so wollen wir recht zuschlagen“. Einige Vögte gaben an, dass sie mit Messern bedroht wurden; ihre Frauen beschwerten sich, dass sie - so die Protokolle - „von iedermann verachtet und fast angespiehen“ würden.
Auch abseits derartig aufgebrachter Stimmungen finden sich Berichte, dass die Vögte immer wieder von Soldaten und Jugendlichen mit Kot und Steinwürfen durch die Stadt gejagt wurden, wenn sie Soldatenkindern festnehmen wollten. Teilweise wurden ihnen gefangene Bettler von Einwohnern aus der Hand gerissen. Angestellte von Diplomaten, die in Dresden ansässig waren, intervenierten in Festnahmen und brachten Bettler in Sicherheit. Geprellte Köpfe, zerbissene Finger und geschundene Knochen gehörten scheinbar zum Berufsrisiko.
Insbesondere Soldaten, aber auch die Bediensteten der Diplomaten konnten von der städtischen Gerichtsbarkeit nicht belangt werden. Die Diplomaten genossen Immunität und die Soldaten konnten nur von einem Militärgericht belangt werden, nicht aber von der Stadtverwaltung! Die Soldaten selbst und deren teils unehelichen Kinder, Frauen und Geliebte standen gelegentlich selbst am Rande der Armut. Sie hielten also zusammen, wenn ein Bettelvogt versuchte eines ihrer Kinder weg zu nehmen oder eine ihrer Frauen angriff. Sie bildeten eine Art Solidargemeinschaft gegen die die Bettelvögte kaum eine Chance hatten.
So traf denn auch Gewalt auf Gewalt, die sich in den protokollierten Aussagen der Bettelvögte niederschlagen. Exemplarisch die Antwort des Bettelvogts Meßing auf die Beschwerde einer Anwohnerin über die gewaltsame Festnahme eines Bettlers durch einen Kollegen: „Wer hat sich darüber zu moquiren, es hat sich niemand darüber zu moquiren, er ist es werth gewesen wenn ich dabey wäre gewesen, so hätte ich ihn noch beßer prügeln wollen.“
Dass den Bettelvögten Gewaltbereitschaft nachgesagt wurde, verwundert also wenig. Dieses Negativlabel wurde aber auch zur Gefahr für alle anderen angestellten Vögte, ob es nun auf die jeweilige Person zutraf oder nicht spielte keine Rolle. In den Augen der unteren Schichten der Stadtbevölkerung waren die Bettelvögte einfach nur gewaltbereite Schläger auf deren Bösartigkeit man nur mit Gegengewalt reagieren konnte. Verschiedene Beschwerdebriefe von Betroffenen an den Hof zeigen, dass die Bettler in den Vögten gewalttätige Menschen sahen, die gemeinsam mit dem Stadtrat ihre Existenzgrundlage zerstören wollten. Die ungleiche Strafpraxis des Stadtrates – die Klagen geschlagener Bettler abzuwehren und die Klagen verletzter Bürger hart zu verfolgen – verstärkte diesen Eindruck wohl noch. Und die Bettelnden wussten von diesem Umstand. Wenn sie sich tatsächlich schriftlich beschwerten, verwiesen sie neben der Gewalttätigkeit fast immer darauf, dass die Vögte bestechlich wären, denn Bestechlichkeit führte meist zu einer Verurteilung.
5. Zu den Bettelvögten selbst:
Nachdem wir über diverse Beschwerden der Stadtbevölkerung und des Stadtrates einen Einblick in die Wahrnehmungen der Vögte nehmen konnten, werfen wir nun einen Blick auf die Selbstwahrnehmung der Vögte. Nunmehr stammen die Klagen von den Vögten selbst, denn sie richteten sich gegen Kollegen. Außerdem werden wir abschließend ein paar statistische Auswertungen des erhaltenen Quellenmaterials betrachten und mehr über die sozialen Hintergründe der städtischen Ordnungskräfte erfahren.
Wir beginnen mit einem eher skurrilen Fall. Eigentlich war es Aufgabe der Bettelvögte, die in Dresden verbotene Prostitution durchzusetzen. Doch teils waren sie selbst Kunden. Ein Verhalten, dass einen der Bettelvögte zu einer folgenreichen Beschwerde über einen Kollegen ermutigte. Bei der nächtlichen Inhaftierung eines Bettelnden in der Armenvogtei die gleichzeitig als gemeinsames Wohnhaus diente, sah er vor dem Fenster zwei Prostituierte stehen, die sich mit seinem Kollegen unterhielten. Die Festnahme der beiden Prostituierten führte zu weitreichenden Ermittlungen.
Der Stadtrat lud verschiedene Kollegen und Einwohner der Stadt vor. Dem Almosenamtsschreiber der das Verhör führte bot sich ein etwas unangenehmes Bild: Scheinbar pflegte der verheiratete Bettelvogt Hochmuth gleich mit mehreren Prostituierten regelmäßigen Umgang. Er gehe des Öfteren zur Galgenschenke um sich mit verschiedenen Frauen zu treffen, die in den Verhören durchgängig als „liederliche“ Menschen benannt werden – ein Hinweis auf Prostitution. Angeblich würde er ihnen auf ihre Kammern folgen und ihnen so wörtlich „Rosinen aus der Schnautze“ essen.
Tatsächlich steht hinter diesen Denunziationen nicht nur die strenge Sittenmoral der Kollegen, sondern vor allem Angst vor der eigenen Unversehrtheit. Die Kollegen unterstellten Hochmuth, er würde den Frauen ihre Patrouillenzeiten mitteilen, so dass diese sich zu den fraglichen Zeiten durch Soldaten beschützen lassen könnten.
Der Umgang mit Prostituierten wurde einigen Kollegen immer wieder vorgehalten, wobei es mit der verbotenen käuflichen Liebe nicht getan war. Immer wieder warfen sich die Vögte gegenseitig sogar schwere Vergehen vor. Da keiner von ihnen ein wirkliches Privatleben hatte – sie wohnten ja alle gemeinsam mit ihren Frauen und Kindern in den Bettelvogteien – sammelte jeder Vogt Vergehen seiner Kollegen, falls er selbst einmal zum Ziel einer Anklage werden sollte. Und so kam es, dass jeder Vorwurf, der vor das Almosenamt gebracht wurde, mit einer Kette von Gegenvorwürfen erwidert wurde, die heutige Betrachter erstaunt zurücklassen.
Man beschwerte sich beispielsweise über Beleidigungen der eigenen Kinder als „Blitzcanaille“, oder, dass diese von Kollegen geschlagen würden. Über im Innenhof abgebrannte Feuerwerkskörper, Bestechlichkeit, Diebstähle, Nachlässigkeiten, wegen Trunkenheit versäumter Dienste, den Umgang mit liederlichen oder unehrlichen Personen oder wie in einem besonderen Fall: dass sich ein Bettelvogt mit der Tochter des Stockmeisters derart auf seinem Zimmer vergnügt habe, dass mehrere Scheiben zu Bruch gegangen wären.
All diese Denunziationen konnten benutzt werden, um unliebsame Kollegen aus der gemeinsamen Wohnung loszuwerden. Doch fällt auch auf, dass viele der Anklagen mit dem Argument vor das Almosenamt getragen wurden, dass die Armenvögte um ihren ohnehin schlechten Ruf in der Stadt besorgt waren. Bei seinem Gesuch um Wiederanstellung erwähnte beispielsweise Georg Heinrich Müller das er so wörtlich „nicht von derjenigen Sorte sey, welche ihre Dienste nachläßig thun und unnöthige händel anfangen, beye Leuthen aufborgen, und davon lauffen, welche bey meinen hierseyn über 30 dergleichen gewesen.“
Ohnehin hatte sich die Lage unter den städtischen Bettelvögten nach dem Ende der Regierungszeit des sächsischen Sonnenkönigs in den 1730er Jahre geändert. Waren die angestellten Vögte bis dahin zumeist Gerichtsdiener gewesen und damit in den Augen der meisten Menschen ohnehin unehrliche, gewalttätige Gesellen, so veränderte sich der soziale Hintergrund der Bettelvögte in den 1740er Jahren. Die meisten der nun angestellten Vögte entstammten dem Handwerk, teilweise bewarben sich sogar ehemalige Handwerksmeister auf die freien Stellen. Fast alle gaben bei ihrer Bewerbung an, dass sie vor allem die schlechte wirtschaftliche Lage dränge. Der Rat stellte die als „ehrlich“ eingestuften Bewerber nur zu gern an. Mit den neuen Bettelvögten ergaben sich aber auch neue Probleme, denn diese waren durch ihren sozialen Hintergrund auch stärker auf ihren Ruf bedacht.
Dieser Ruf konnte auch durch die Übernahme unhygienischer Tätigkeiten leiden. So war beispielsweise das Aufsammeln von Tierkadavern eine Tätigkeit, die den Ausführenden "unehrlich" werden lassen konnte. Die stigmatisierte Tätigkeit wurde entsprechend in Dresden von dem ohnehin sozial exkludierten Scharfrichterknecht ausgeführt, der in Dresden die sprechende Bezeichnung "Stänkerjunge" führte. Die Armenvögte die durch ihre Patrouillen täglich das gesamte Stadtgebiet abzulaufen hatten, sollten aus pragmatischen Gründen dem Stänkerjungen Fundorte von Tierkadavern anzeigen.
Mit den neuen Vögten der späten 1730er Jahre war eine derartige Nähe zu unehrlichen Personen aber nicht mehr so einfach möglich, wie eine lange schriftliche Beschwerde des Stänkerjungen vor dem Stadtrat zeigt:
Die Notizen der Vögte wären, wenn sie denn welche anfertigten unleserlich. Teilweise würden sie den Stänkerjungen auslachen, ihn absichtlich durch die Stadt irren lassen oder Geld für ihre Dienste einfordern. Meist würden sie sich aber einfach weigern die toten Tiere überhaupt zu suchen.
Als nun in den 1750er Jahren streunende Hunde Anwohner der Stadt angegriffen hatten, versuchte der Stadtrat eine Truppe zusammenzustellen, um diese zu beseitigen. Die Scharfrichterknechte sollten, beschützt und begleitet von den Bettelvögten durch die Stadt gehen und die Streuner erschlagen. Als die Bettelvögte von dieser Aufgabe erfuhren setzte eine lange interne Diskussion während der Dienstversammlung ein, die mehrere Seiten in den Akten einnimmt. Die Vögte beschwerten sich wörtlich: „Sie möchten mit denen Scharffrichterknechten keine Gemeinschaft, es wäre dieses an ihren Ehren nachteilig und sie wären, ohnerachtet sie bettelvoigte wären, dennoch ehrliche Leute, zumahl unter ihnen etliche wären, die sonst als Soldaten in diensten gestanden hätten.“
Erst massive Strafandrohungen, die Beschwichtigung durch den seit fast 20 Jahren angestellten Kollegen Hornuff und das Zugeständnis, dass die Bettelvögte keines der Tiere anfassen müssten, brachten sie dazu, dieser Aufgabe nachzukommen.
Wenngleich die Bettelvögte in der Stadt bereits einen schlechten Ruf hatten – nach unten wollten sie sich zumindest bis zu einem gewissen Grad abgrenzen können. Denn das Stigma der Unehrlichkeit, haftete es einmal an der Person, konnte das weitere Leben ungemein behindern. Entsprechend aggressiv gingen die neuen Bettelvögte nach dem Siebenjährigen Krieg auch dagegen vor, wenn sie von Einwohnern der Stadt als unehrlich bezeichnet wurden.
Werfen wir nun zum Abschluss noch einmal einen Blick auf einige Statistiken, um das Bild über die städtischen Ordnungskräfte abzuschließen.
Grundlage für die folgenden Ausführungen ist eine Zusammenstellung aller in den Akten auffindbaren Bettelvögte – dies sind für den Zeitraum zwischen 1717 bis 1765 ziemlich genau 133 Personen. Soweit möglich habe ich sämtliche in den Akten auffindbaren Informationen zu ihnen ausgewertet. Dazu gehören: Dienstdauer, Alter bei Anstellung, vorheriger Beruf oder Beruf des Vaters, Herkunftsort und Grund der Entlassung. Bei 90 Vögten konnte eine ungefähre Dienstzeit ermittelt werden. Im Schnitt lag diese bei etwas über zwei Jahren. Da einige der Vögte recht lang angestellt waren – Georg Hornuff brachte es beispielsweise auf fast 20 Jahre – führt diese Zahl etwas in die Irre. Tatsächlich waren weit über die Hälfte der Vögte kein ganzes Jahr angestellt. Im Durchschnitt waren die Vögte bei ihrer Anstellung 33 Jahre alt – es war also für die meisten nicht der erste Beruf, den sie ausübten. Kaum einer der Vögte stammte aus Dresden – eigentlich nur sechs. Alle anderen kamen aus sächsischen Dörfern und Städten – sie kamen also als Fremde in die Stadt. Tatsächlich gab es über die Bettelvögte, die zuvor bereits in Dresden lebten weniger Beschwerden. Diese waren sogar zumeist deutlich besser in der Lage Informationen in der Stadt zu erhalten als ihre Kollegen. Vom Vater zum Sohn weitergegeben wurde der Beruf nachweislich nur in einem Falle.
Damit schließt sich auch das Bild zu den bereits ausführlich erörterten Punkten: Die Bettelvögte stammten lange Zeit aus Berufen, denen ohnehin Gewalttätigkeit nachgesagt wurde. Sie waren bis in die 1730er Jahre auch vorher schon damit beschäftigt, Gefangene an den Pranger anzuschließen, Urteile zu vollstrecken oder Verhaftungen durchzuführen. Nicht nur für die Handwerker, die danach immer mehr in diesen Berufszweig strömten, sondern auch für die ehemaligen Gerichtsdiener war die Stelle als Bettlervertreiber in der Stadt eine Art Übergangslösung, um persönliche Notzeiten zu überbrücken und wenigstens für kurze Zeit in Lohn und Brot zu kommen. Dass die Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt ihnen eher feindlich gegenüberstanden mussten sie dabei hinnehmen. Aber genauso wie einige Bürger der Stadt ihre einheimischen Bettler zu verteidigen wussten, auswärtige Bettler jedoch kaum; so traf auch die Bettelvögte das Los ihrer Fremdheit in der Stadt.
Kommen wir zum Abschluss:
Die Umsetzung des Bettelverbotes im Dresden des 18. Jahrhunderts bedeutete für alle Einwohner und Einwohnerinnen massive Unannehmlichkeiten. Letzten Endes wurde versucht mit Gewalt ein Verhalten einzudämmen, ohne das die untersten Schichten der frühneuzeitlichen Gesellschaft nicht überlebensfähig waren. Um die Betroffenen vom Betteln abzuhalten, war das über freiwillige Spendenzahlungen organisierte Armenwesen der Frühen Neuzeit einfach nicht ausreichend.
Dass die Herkunft der Bettelvögte aus sozial benachteiligten Schichten sich nicht in Solidarität, sondern in Gewaltaffinität niederschlug, sagt uns viel über die Abgrenzungsbemühungen innerhalb der ständischen Gesellschaft, selbst wenn es nur Nuancierungen am Ende der gesellschaftlichen Hierarchie waren.
Ob die Arbeit der Bettelvögte praktisch unerfüllbar war, wie der Sozialhistoriker Helmut Bräuer einst attestierte lässt sich nicht ermitteln. Die hier überlieferten Quellen sind fast immer Ergebnisse von Konflikten. Der Historiker und die Historikerin schauen also immer mit einer gewissen Verzerrung auf die Vergangenheit. Wenngleich die strukturellen Probleme eines Bettelverbots in einer Gesellschaft ohne ausreichende soziale Absicherungssysteme offensichtlich sind, so verschwindet die konfliktfreie Erfüllung obrigkeitlicher Anordnungen hinter den nicht protokollierten Geschehnissen des Alltags.
Dass das angesprochene Negativlabel des pflichtvergessenen und gewaltbereiten Vogtes, aus dem vielfältigen Konfliktgeschehen auf den Straßen Dresdens resultierte, ist sicherlich verständlich geworden. Ob es zutreffend war, ist dabei eine genau so wenig zu beantwortende Frage, wie sie Relevanz hat. Tatsächlich ausschlaggebend war, dass die Invektive allein durch ihre Bekanntheit den Alltag in der Stadt beeinflusste, Wahrnehmungen steuerte und diverse Ausformungen annahm, abhängig vom sozialen Standpunkt des Betrachters.
Die Zeit Augusts des Starken brachte ein eigenes System der Armutsbekämpfung hervor. Während in seiner Residenzstadt Dresden neue Prachtbauten entstanden und die Strahlkraft des „Sächsischen Sonnenkönigs“ alle möglichen Bevölkerungsschichten in die Stadt zog, nahm die Armut der Unterschichten zu. Der Gedanke, dass Armut aus mangelnder Arbeitsbereitschaft entsprang, Bedürftige also auch mit Gewalt zum Arbeiten anzuhalten seien, sorgte auf den Straßen Dresdens für Konflikte. Denn dort war das Betteln verboten und Bettelnde konnten aus der Stadt geprügelt werden. Dies war die Aufgabe der Bettelvögte. Diese Bettelpolizisten lebten am Rande der Unehrlichkeit, waren in der Stadt als „Hundspeitscher“ verschrien und standen den Bettlern die sie verfolgten, gelegentlich näher als der Stadtbevölkerung in deren Namen sie ihre Dienste verrichteten. Der Vortrag führt durch die frühneuzeitliche Armenpolitik und wirft anhand gestohlener Töpfe, magischer Wurzeln und öffentlichen Hinrichtungen einen Blick durch die Augen der städtischen Ordnungskräfte auf die Armut im barocken „Elbflorenz“.
Zum Vortrag gibt es auch einen Blog-Artikel von Stefan Beckert mit dem Titel "Die sächsische Organisation des Armenwesens im 18. Jahrhundert – ein landesgeschichtliches Desiderat": https://saxorum.hypotheses.org/4842
Lange galten sie als verpönt, unanständig und literarisch minderwertig: Gedichte, in denen antike Autoren verbale Attacken auf ihre Mitmenschen durchführen. Dabei sind die invektiven Gedichte von Catull, Horaz, Martial u.a. ein wichtiges - wenn auch bisweilen verwirrendes – Zeugnis ihrer Zeit. Ihre Bandbreite geht von freundschaftlicher Stichelei bis zum echten Stachel im Fleisch der Mächtigen und oft steckt ihnen mehr als nur augenfällige Beleidigung.
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