18.12.2018
Neue Wege in der Medizin: Wie Mathematik Leukämiepatienten nützt
Patienten mit einer Chronischen Myeloischen Leukämie (CML) können heute in den meisten Fällen erfolgreich behandelt werden. Allerdings müssen die meisten von ihnen ein Leben lang Medikamente einnehmen. Diese können Nebenwirkungen verursachen und sind mit hohen Kosten verbunden. Mathematiker der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden, der staatlichen Universität Itajubá in Brasilien und des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) sagen nun auf Basis eines mathematischen Modells vorher, dass sich die Medikamentendosis bei der überwiegenden Zahl der Patienten deutlich reduzieren lässt – bei gleicher langfristiger Wirksamkeit. Diese Modellvorhersagen sollen der Ausgangspunkt sein, um den Einsatz reduzierter Medikamentengaben in klinischen Studien zu überprüfen. Dies könnte für viele CML-Patienten zu einer verbesserten Lebensqualität führen und gleichzeitig die Therapiekosten senken. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden im Fachmagazin „Haematologica“ (www.haematologica.org, DOI 10.3324/haematol.2018. 194522) veröffentlicht.
Patienten, die an einer Chronischen Myeloischen Leukämie (CML) erkrankt sind, müssen nach heutigem Standard lebenslang Medikamente, sogenannte Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI),einnehmen, um die Krankheit unter Kontrolle zu halten. Dies führt vor allem dann zu Problemen, wenn Nebenwirkungen auftreten, die die Patienten langfristig beeinträchtigen. Diese können das Herz-Kreislaufsystem, die Lunge oder den Magen-Darm-Trakt betreffen. Bei Kindern und Jugendlichen sind Wachstumsverzögerungen möglich. Zudem verursachen die Medikamentengaben für das Gesundheitssystem hohe Kosten. Bislang wurde in Studien lediglich untersucht, ob die Medikamente bei Patienten mit besonders günstigem Krankheitsverlauf nach einigen Jahren komplett abgesetzt werden können. „Wir konnten mithilfe unseres mathematischen Modells nun vorhersagen, dass die Medikamentendosis bei einer sehr großen Patientengruppe – im Fall der analysierten Studiendaten bei 80 bis 90 Prozent – um die Hälfte reduziert werden könnte, ohne die Wirkung des Medikaments zu beeinträchtigen“, sagt Dr. Ingmar Glauche vom Institut für Medizinische Biometrie und Statistik der TU Dresden. „Das mithilfe realer Patientendaten entwickelte mathematische Modell ist für uns von großer Relevanz. Es bildet den Ausgangspunkt, um künftig in klinischen Studien eine Verringerung der Medikamentengabe zu überprüfen“, sagt Prof. Martin Bornhäuser, Geschäftsführender Direktor am NCT/UCC Dresden und Direktor der Medizinischen Klinik I des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden.
Bei der Behandlung der Chronischen Myeloischen Leukämie spielt es nach heutigem Kenntnisstand eine entscheidende Rolle, ob sich die im Körper vorhandenen Krebsstammzellen teilen und dadurch schnell vermehren oder ob sie sich in einem Ruhezustand – ohne aktive Zellteilung – befinden. Es ist bekannt, dass sich nur die teilungsaktiven Tumorzellen zielgerichtet und effektiv mit Tyrosinkinaseinhibitoren bekämpfen lassen. „Bildlich gesprochen haben wir zwei Töpfe mit unterschiedlichen Krebszellen – aktive und ruhende. Schon nach einer relativ kurzen Therapiedauer von etwa einem Jahr ist der Topf mit den aktiven Zellen weitgehend leergeräumt. Unser Modell lässt den Schluss zu, dass dann auch eine viel geringere Medikamentendosis ausreichend ist, um die Zellen, die nach und nach aus dem ruhenden Topf in den aktiven Topf wechseln, zu attackieren und die Krankheit so langfristig unter Kontrolle zu halten. Die Hälfte der bisher verwendeten Standarddosis dürfte hierbei bei der Mehrzahl der Patienten ausreichend sein“, erklärt Prof. Ingo Röder, Direktor des Instituts für Medizinische Biometrie und Statistik der TU Dresden. In das Modell flossen Daten zum individuellen Therapieverlauf der Patienten aus mehreren klinischen Studien ein.
Die Modellvorhersagen der Theoretiker um Prof. Röder und Dr. Glauche prognostizieren, dass der Anteil an Tumorzellen nach Drosselung der Medikamentendosis zunächst geringfügig ansteigt. Allerdings handelt es sich hierbei, laut Modell, nur um einen vorübergehenden Effekt. Schon nach einigen Monaten reduziert die geringere Dosis den Anteil an Tumorzellen in gleichem Maße wie die ursprüngliche Dosis. „Eine verringerte Medikamentendosis wäre gerade für Kinder mit CML ein deutlicher Fortschritt. Denn die Medikamente beeinträchtigen das Knochenwachstum bei Kindern vor der Pubertät besonders stark. Eine Reduktion der Medikamentengabe würde diesen Effekt minimieren“, erläutert Prof. Meinolf Suttorp, Senior-Professor für pädiatrische Hämato-Onkologie an der TU Dresden.
Das Modell verdeutlicht das Potential der Systemmedizin, die darauf abzielt, analytische oder rechnergestützte Methoden für das Verständnis komplexer biologischer Systeme zu nutzen, um die personalisierte Medizin zu befördern. Diese Arbeit wurde unter anderem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Förderinitiative e:Med Systemmedizin gefördert.
Originalpublikation: A. Fassoni, C. Baldow, I. Roeder, I. Glauche: Reduced tyrosine kinase inhibitor dose is predicted to be as effective as standard dose in chronic myeloid leukemia: a simulation study based on phase III trial data, Haematologica November 2018 103: 1825-1834; doi:10.3324/haematol.2018.194522
Kontakt
Prof. Dr. rer. med. Ingo Röder
Institut für Medizinische Biometrie und Statistik
Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus
der Technischen Universität Dresden
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Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden
Die Hochschulmedizin Dresden, bestehend aus der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus und dem gleichnamigen Universitätsklinikum, hat sich in der Forschung auf die Bereiche Onkologie, metabolische sowie neurologische und psychiatrische Erkrankungen spezialisiert. Bei diesen Schwerpunkten sind übergreifend die Themenkomplexe Degeneration und Regeneration, Imaging und Technologieentwicklung, Immunologie und Inflammation sowie Prävention und Versorgungsforschung von besonderem Interesse. Internationaler Austausch ist Voraussetzung für Spitzenforschung – die Hochschulmedizin Dresden lebt diesen Gedanken mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus 73 Nationen sowie zahlreichen Kooperationen mit Forschern und Teams in aller Welt.
Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC Dresden)
Dresden ist seit 2015 neben Heidelberg der zweite Standort des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT). Das Dresdner Zentrum ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden, der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden und des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR).
DasNCThatessichzurAufgabegemacht,ForschungundKrankenversorgungsoengwiemöglichzuverknüpfen. Damit können Krebspatienten in Dresden und Heidelberg auf dem jeweils neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnissebehandeltwerden.GleichzeitigerhaltendieWissenschaftlerdurchdieNähevonLaborund Klinik wichtige Impulse für ihre praxisnahe Forschung. Gemeinsamer Anspruch beider Standorte ist es, das NCT zu einem internationalen Spitzenzentrum der patientennahen Krebsforschung zu entwickeln. Das Dresdner Zentrum baut auf den Strukturen des Universitäts KrebsCentrums Dresden (UCC) auf, das 2003 als eines der ersten Comprehensive Cancer Center (CCC) in Deutschland gegründet wurde. 2007 wurde das UCC von der Deutschen Krebshilfe e.V. (DKH) als „Onkologisches Spitzenzentrum“ ausgezeichnet. Diese Auszeichnung wurde seither bei jeder Wiederbegutachtung erneuert.
Die jährliche Förderung des NCT/UCC Dresden beläuft sich nach der Aufbauphase ab 2019 auf 15 Millionen Euro. Diesen Betrag bringen Bund und Freistaat Sachsen im Verhältnis 90 zu 10 Prozent auf. Für die Errichtung eines NCT-Neubaus stelltderFreistaatSachsenzusätzlich22MillionenEurobereit.
e:Med – das deutschlandweite Netzwerk der Systemmedizin
e:Med hat zum Ziel, die Systemmedizin in Deutschland zu etablieren. Um verbesserte Prävention, umfassendere Diagnostik und individuell angepasste Therapieschemata in der individualisierten Medizin zu ermöglichen, forciert e:Med die systemorientierte Erforschung von Krankheiten. Es bringt exzellente Wissenschaftler mit molekulargenetischer, klinischer, mathematischer und informatischer Expertise zusammen mit dem Ziel, die Forschungserfolge rasch den Patienten zugutekommen zu lassen. Dabei spielt besonders die elektronische Prozessierung (e:Med), also die computergestützte Archivierung, Analyse und Integration der Daten eine wichtige Rolle. Das deutschlandweite Forschungs- und Förderkonzept wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit Ende 2013 gefördert. www.sys-med.de