10.02.2021
Magersucht lässt die Hirnmasse schrumpfen und dämpft die kognitive Leistungsfähigkeit
Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus an der TU Dresden haben den reversiblen Prozess untersucht und mithilfe von Biomarkern nach möglichen Ursachen für die Veränderungen in der Hirnrinde gesucht. Die Ergebnisse wurden jetzt im Fachmagazin Translational Psychiatry veröffentlicht.
Dresden, 10. Februar 2021. Wenn der Körper hungert, hungert auch das Gehirn und das bleibt bei einem Drittel der Patienten nicht ohne Folgen. Laura* ist 15 Jahre alt. Sie lebt seit mehr als einem halben Jahr in der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus in Dresden. Bei einer Körpergröße von 156 Zentimetern wog sie 25 Kilogramm als sie hier ankam. „In dieser Zeit habe ich einen Rollstuhl gebraucht, um mich fortzubewegen. Ich war einfach nur noch schlapp“, erinnert sich die Schülerin. „Ich konnte kein Buch lesen, nicht vernünftig Rechnen. Auch die Geige blieb in ihrem Koffer. Es war mir unmöglich, mich zu konzentrieren, meine Gedanken schweiften immer wieder ab“, erinnert sich Laura*.
Dass bei magersüchtigen Patienten Konzentrationsprobleme auftreten und in einer akuten Phase des Untergewichts der Intelligenzquotient etwa zehn Punkte niedriger liegt als bei Normalgewicht, haben Stefan Ehrlich und sein Team bereits nachgewiesen. Er leitet das Zentrum für Essstörungen an der Klinik für Kinder– und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Dresden. Dort werden pro Jahr rund 120 magersüchtige Jugendliche behandelt. 40 bis 50 davon müssen, wie Laura*, stationär aufgenommen und versorgt werden. Bei vielen von ihnen lässt sich beobachten, dass nicht nur die kognitive Leistungsfähigkeit sinkt, sondern auch das Gehirn schrumpft. Mediziner sprechen von einer Hirnatrophie. Betroffen ist davon vor allem die graue Substanz in der Hirnrinde. Im Gegenzug erweitern sich die mit Liquor gefüllten Bereiche des Gehirns. Das Schrumpfen des Gehirns bei Anorexie-Patienten ist offenbar reversibel, denn das Hirnvolumen normalisiert sich wieder, sobald das Gewicht steigt.
Was führt eigentlich zu diesem Hirnschwund und anhand welcher Parameter kann man ihn besser verstehen? Dieser Frage sind Professor Stefan Ehrlich und die Klinische Psychologin Inger Hellerhoff mit ihrem Team nachgegangen. Sie haben in ihrer jetzt veröffentlichten Studie Blutuntersuchungen bei 54 magersüchtigen jungen Mädchen und Frauen im Alter zwischen 12 und 24 Jahren zu Beginn ihrer Akuttherapie und nach einer deutlichen Gewichtszunahme durchgeführt. Ergänzend gab es eine Kontrollgruppe mit ebenso 54 jungen, normalgewichtigen Studienteilnehmerinnen. In der Auswertung konnten die Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät der TU Dresden drei Marker identifizieren, die in der Akutphase der Magersucht jeweils deutlich erhöht sind.
So fanden sich im Blut der Anorexie-Patientinnen jeweils erhöhte Konzentrationen von Tau-Protein und Neurofilament light (NF-L), zwei Bestandteile von Neuronen, die hauptsächlich in den Axonen vorkommen. Diese Ergebnisse weisen auf mögliche Schädigungen der Neuronen im akuten Stadium der Anorexie hin. Eine Mangelernährung über längere Zeit wirkt sich vermutlich auch auf die Astrozyten aus. Werden diese Gliazellen, die an vielen wichtigen Hirnfunktionen beteiligt sind, beschädigt, lässt sich im Serum eine erhöhte Konzentration des GFA-Proteins nachweisen. Dies war in der aktuellen Studie in der Gruppe der akuten Anorexie-Patientinnen der Fall. „Wir vermuten deswegen, dass die Astrozyten durch Mangelernährung beschädigt oder verändert werden“, sagt Inger Hellerhoff.
Im Therapieverlauf mit Gewichtszunahme scheint sich das Gehirn zu erholen. Der Volumenverlust schwindet und die NF-L- sowie GFA-Proteinkonzentrationen sinken wieder ab. Sie gleichen sich den Werten der normalgewichtigen Kontrollgruppe an. Welche Rolle die Marker künftig bei der Bewertung des Krankheitsstadiums spielen könnten und ob sie eventuell auch ergänzend zum BMI genutzt werden können, soll weitere Forschung zeigen. In anderen klinischen Bereichen ist eine Ergänzung des klinischen Monitorings durch Marker aus dem Blut bereits Realität. So finden sich z.B. bei Patient*innen mit Multipler Sklerose (MS) erhöhte Konzentrationen des Markers NF-L und die Arbeitsgruppe um Professor Tjalf Ziemssen und PD Dr. Katja Akgün an der Uniklinik Dresden hat Hinweise darauf gefunden, dass die NF-L-Konzentration im Blut bei MS eine wertvolle Ergänzung des klinischen Monitorings und ein Indikator für die Wirkung der Therapie sein könnte.
Laura* kennt ihre kritische Gewichtsgrenze ganz genau. Schafft sie es auf 36 Kilogramm oder mehr, „schaltet sich mein Körper wieder ein“. „Ich bin dann wieder in der Lage zu fühlen, empfinde Trauer, Wut und auch Freude. Ich kann wieder ein Buch lesen, weil ich mich konzentrieren kann und die Aufmerksamkeit nicht ständig abschweift. Seit vier Jahren spiele ich Klavier, habe hier ein Keyboard in der Klinik und habe gerade in der Weihnachtszeit sehr viel und gerne gespielt.“, erzählt die junge Patientin. Sie ist schon einen weiten Weg gegangen, aber sie weiß auch, dass noch einige Wochen Klinikaufenthalt auf sie warten. Ihr aktuelles Gewicht liegt bei rund 38 Kilogramm. Mindestens sieben Kilogramm muss sie noch zunehmen, um von der stationären in die ambulante Behandlung wechseln zu dürfen. Aber sie hat ein Ziel. Sie will ihre Freunde wiedersehen, mit denen sie derzeit nur telefonieren kann.
*Name geändert
Veröffentlichung: Differential longitudinal changes of neuronal and glial damage markers in anorexia nervosa after partial weight restoration | Translational Psychiatry (nature.com)
DOI: 10.1038/s41398-021-01209-w