03.02.2023
Tourette Syndrom - Wann wird aus "normal" pathologisch?
Das Tourette Syndrom ist eine neuropsychiatrische Störung des Kindes- und Jugendalters und betrifft ca. 1% aller Kinder und Jugendlichen. Generelles diagnostisches Merkmal dieser Erkrankung sind die sog. „Tics“. Diese sind durch schnelle, kurz anhaltende Bewegungen gekennzeichnet, aber auch Lautäußerungen treten hierbei auf. Das Auftreten dieser motorischen und vokalen Tics, d. h. von "Extrabewegungen" und/oder "Extravokalisationen", ist das diagnostische Kriterium für das Tourette Syndrom und leitend in der DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).
Problematisch bei der Diagnosestellung ist dabei in der klinischen Praxis die Frage, welche Art von Extrabewegungen oder Extravokalisationen vorliegen muss, um eine Diagnose „Tourette Syndrom“ zu rechtfertigen. Die sichere Einschätzung ist hier sehr stark von der Erfahrung der Klinikerin/des Klinikers abhängig. Neuere Denkrichtungen, welche auch maßgeblich für die Förderung einer Forschergruppe durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sind (FOR 2698; Standortsprecher Prof. Christian Beste), gehen davon aus, dass Tics einen Überschuss an Bewegungen darstellen, wie er auch bei nicht betroffenen Personen auftreten kann. Dies wird durch die Feststellung gestützt, dass einzelne Tics bei betroffenen Patientinnen und Patienten nicht zuverlässig von spontan auftretenden einzelnen Bewegungen/Vokalisationen gesunder Kontrollpersonen unterschieden werden können.
Es stellt sich, auch aufgrund des „wellenförmigen“ Verlaufs der Tics beim Tourette Syndrom, d.h. es wechseln sich Phasen stark ausgeprägter Symptomatik mit relativ ruhigen Zeiträumen ab, die grundlegende Frage, wie die Diagnose sicher gestellt werden kann. Wovon hängt die Vergabe selbiger ab? Dem Zeitpunkt der Erhebung? Der Stärke der Tics? Dem (nicht) empfundenen Leidensdruck der/des Betroffenen?
In einer aktuellen Studie, welche im renommierten Journal „Annals of Neurology“ veröffentlicht wurde, konnte gezeigt werden, dass Extrabewegungen auch bei gesunden Kontrollpersonen üblich sind, so dass ein Übermaß an Bewegungen per se kein Hinweis auf das Vorliegen einer Ticstörung ist. Dies stellt die Nützlichkeit der Kriterien des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders für das Tourette Syndrom in der klinischen Praxis grundlegend in Frage. Offensichtlich ist es nicht allein ein Übermaß an Bewegungen, das das Tourette Syndrom definiert. Vielmehr scheinen die Bewegungsmerkmale und -muster eine entscheidende Rolle zu spielen, die bisher aber in diagnostischen Leitlinien nicht definiert sind.
„Die Ergebnisse zeigen wie schwimmend die Grenzen zwischen dem sind, was wir bisher als normal oder pathologisch verändert definieren. Die Ergebnisse reihen sich in eine Kette von Studien ein, welche die Sichtweise auf Tourette grundlegend verändern werden“ sagt Prof. Christian Beste. „Bei dieser Studie freut mich besonders, dass sie die Masterarbeit einer Mitarbeiterin von mir darstellt, welche sie im Rahmen des Studienganges ‚Gesundheitswissenschaften – Public Health‘ angefertigt hat. Es zeigt auch, wie größere DFG-Projekte auf unterschiedlichen thematischen Ebenen und für unterschiedliche Karrierestufen einen echten Mehrwert darstellen.“ ergänzt Prof. Christian Beste.
Publikation (open access):
Bartha S, Bluschke A, Rawish T, Naumann KER, Wendiggensen P, Bäumer T, Roessner V, Münchau A, Beste C (2023). Extra movements in healthy people: challenging the definition and diagnostic practice of tic disorders. Annals of Neurology, http://doi.org/10.1002/ana.26586