Zellmigration
Zellmigration ist ein dynamischer Prozess, der aus einem komplexen Zusammenspiel verschiedener molekularer Komponenten (z. B. Aktin und Myosin oder Ionenkanäle und Transporter) resultiert. Zudem können externe Stimuli wie chemotaktische Signale oder Zell-Zell-Interaktionen die Richtung und Persistenz der Bewegungen beeinflussen.
Ziel der Arbeiten in diesem Umfeld ist die Quantifizierung und Klassifizierung der Bewegung auf der Basis von experimentell gewonnenen Zellpfaden (siehe Abbildung) und die Detektion von Veränderungen z. B. durch Modifikationen von Zellkomponenten (wie Ionen-Kanälen oder Transportern) oder aufgrund von externen Einflüssen.
Einzelzelldynamik
Derartige Effekte konnten wir beispielsweise bei der Migration von Tumorzellen oder Immunzellen detektieren. Aus theoretischer Sicht erscheinen die Bewegungspfade von migrierenden Zellen auf den ersten Blick starke Ähnlichkeiten mit einer diffusiven Dynamik zu haben. Allerdings konnte in unseren Arbeiten gezeigt werden, dass langandauernde zeitliche Korrelationen die Dynamik dominieren, die stark von einem normal-diffusiven Verhalten abweichen. Die Differenzierung zwischen normalen und korrelierten anomalen Verhalten erfolgt in der Literatur häufig durch die Analyse des mean squared displacement. Allerdings existieren hier Limitationen, die mit Hilfe der Berücksichtigung der räumlichen Kovarianzen von verschiedenen anomalen Prozessen (wie fractional / scaled Brownian motion oder fractional Langevin Gleichung) sowie unter Einsatz der Bayes‘schen Datenanalyse umgangen werden können.
Zuletzt konnten wir beispielsweise zeigen wie die Modifikation eines Kalzium-Kanals (TRPC6) sowie die Deaktivierung eines chemotaktischen Rezeptors (CXCR2) an neutrophilen Granulozyten zu einem Verlust (tempering) der zeitlichen Korrelationen führt. Zudem wurden die Ergebnisse aus in-vitro Analysen erfolgreich verwendet, um mit Hilfe von Simulationen Vorhersagen für in-vitro Untersuchungen der Immunantwort einer Maus auf eine Entzündungsreaktion zu treffen.
Die vorhandenen Erfahrungen und Techniken können auf weitere biologische Probleme der Migration von Einzelzellen angewendet werden. Zudem bestehen zusätzliche Perspektiven in der Modellierung von Relationen zwischen den (makroskopischen) Parametern der stochastischen Modelle und den mikroskopischen Prozessen der Zellmigrationsmaschinerie auf der Basis eines Wechselspiels von Theorie und experimentellen Daten.
Konfluente Zelldynamik
In den letzten Jahren haben von uns betreute Doktoranden umfangreiche Datensätze der Dynamik von konfluenten Endothelzellen (v. a. HUVEC Zellen) generiert und analysiert. Die hohe Anzahl von einigen 10000 ‘getrackten‘ Zellen pro Experiment zeigte eine hohe Heterogenität der Bewegungen, aber auch verschiedenste Ausprägungen kollektiver Dynamiken, die sich in der lokalen Bildung von Wirbeln oder Straßen manifestieren. Spannenderweise zeigen die konfluenten Zellkulturen neben einer kurzreichweitigen Abstoßung auch sehr langreichweitige räumliche Korrelationen, die sich über etwa 100 Zelldurchmesser erstrecken. Hierzu untersuchen wir aktuell, wie externe Einflüsse beispielsweise die Dynamik der Wundheilung modifizieren (auf dem Niveau der Einzelzelle bzw. der makrokopischen Wunde).
Auf der theoretischen Seite liefert die beobachtete Dynamik der konfluenten Zellen die spannende Realisation eines aktiven, interagierenden Vielteilchensystems, das sich fern vom Gleichgewicht entwickelt. Hier sind zudem Querverbindungen zur Anwendung der stochastischen Thermodynamik und Fluktuationsrelationen möglich.
- Dieterich P, Lindemann O, Moskopp ML, Tauzin S, Huttenlocher A, Klages R, Chechkin A, Schwab A. Asymmetric anomalous diffusion in neutrophil chemotaxis. PLoS Computational Biology 18(5), e1010089/1-26 (2022).
- Dieterich P, Klages R, Chechkin AV. Fluctuation relations for anomalous dynamics generated by time-fractional Fokker–Planck equations. New J. Phys. 17 075004 (2015).
- Schneider L, Stock CM, Dieterich P, Jensen BH, Pedersen LB, Satir P, Schwab A, Christensen ST, Pedersen SF. The Na+/H+ exchanger NHE1 is required for directional migration stimulated via PDGFR-alpha in the primary cilium. J Cell Biol. V185(1):163-76 (2009).
- *Nechyporuk-Zloy V, *Dieterich P, Oberleithner H, Stock C, Schwab A. Dynamics of single potassium channel proteins in the plasma membrane of migrating cells. Am J Physiol Cell Physiol. V294(4):C1096-102 (2008). [*equal contribution]
- Dieterich P, Klages R, Preuss R, Schwab A. Anomalous dynamics of cell migration. Proc Natl Acad Sci USA V105(2):459-63 (2008).
- Stock C, Gassner B, Hauck CR, Arnold H, Mally S, Eble JA, Dieterich P, Schwab A. Migration of human melanoma cells depends on extracellular pH and Na+/H+ exchange. J Physiol. V567(1):225-38 (2005).
- Dieterich P, Odenthal-Schnittler M, Mrowietz C, Kramer M, Sasse L, Oberleithner H, Schnittler HJ. Quantitative morphodynamics of endothelial cells within confluent cultures in response to fluid shear stress. Biophys J. 2000 V79(3):1285-97 (2000).