05.08.2021
Wege zum Studium Mitte der 1950er-Jahre
Klaus Tilger, ET 1957
Für ein Studium an der TH Dresden, später TUD, habe ich mich im Jahre 1957 entschieden – das Jahr, in dem ich das Abitur gemacht hatte. Viele Fachrichtungen, die es heute gibt, gab es damals noch nicht, andererseits waren Fachrichtungen hoch begehrt, wie Flugzeugbau und Kernenergetik, die es heute wohl nicht mehr gibt.
Während meiner Oberschulzeit war Radiobasteln große Mode und es gab viele Möglichkeiten, sich in Fachzeitschriften und in von Bastlern bevorzugten Zeitschriften darüber zu informieren. Deshalb bekam man nebenbei in der Freizeit viele Informationen über das Gebiet der Rundfunktechnik. In der Schule waren meine Lieblingsfächer Mathematik, Physik und alle naturwissenschaftlichen Fächer. Auch das passte zu meinem Interessengebiet.
Ich habe also schon in der Schule ungefähr gewusst, was ich gern studieren würde. Die endgültige Entscheidung brachten Informationsveranstaltungen. Ich erinnere mich an eine Besichtigung des Rundfunkbandes des Sachsenwerkes Radeberg (später RAFENA), wo Superheterodyn-Empfänger gefertigt wurden (alles mit Elektronenröhren, keine Halbleiterbauelemente, keine Leiterplatten, die Bauelemente wurden von den Bandarbeiterinnen einzeln eingelötet, am Schluss wurden die Bandfilter auf die Zwischenfrequenz- und die Hochfrequenzstufe und der Oszillator aufeinander abgestimmt.)
Heute werden solche Geräte aus vorgefertigten, voreingestellten Baugruppen schneller und fehlerärmer montiert. Auch eine Besichtigung der Laborräume der Fachrichtung Hochfrequenztechnik an der TH Dresden habe ich damals mitgemacht. Man bekam einen Einblick in die Praktika, die die Studenten zu absolvieren hatten; und man bekam Ehrfurcht (davon war ein großer Teil Furcht) vor Diplomarbeiten, bei deren Abschluss neben dem Bericht ein selbst gebautes, funktionierendes Gerät auf dem Tisch stehen musste. Auch eine Vorlesung von Prof. Dr. Reichert (Elektroakustik) habe ich mir angehört. Prof. Reichert erklärte die Lösung eines regelungstechnischen Problems an einem elektronischen Gerät. So vom Prinzip hatte ich es sogar verstanden und das machte mir nach der Laborbesichtigung wieder Mut. Ich bewarb mich deshalb für ein Studium der Elektrotechnik, Fachrichtung Schwachstromtechnik. Die Spezialisierung erfolgte nach dem 6. Semester (Vordiplom), wobei Hochfrequenztechnik, Elektroakustik, Regelungstechnik und Feingeräte-Konstruktion möglich waren. Ich wählte damals Regelungstechnik und bin heute immer noch der Meinung, dass es für mich richtig war.
Der Andrang auf die Studienplätze war groß und nicht jeder wurde sofort genommen. Davon zeugt der folgende Bericht.
1957 waren die Verluste, Zerstörungen und Entbehrungen des Krieges noch im Bewusstsein der Menschen und überall in Dresden zu sehen. Anstelle der Ruinen gab es viele freie Flächen, einzelne Objekte wie der Altmarkt, der Zwinger, waren schon wieder aufgebaut. Die Produktionszahlen der Betriebe stiegen an und die Versorgungslage verbesserte sich langsam. Der neue Staat DDR hatte noch nicht seine Schwachstellen offenbart und es hatte sich eine allgemeine Aufbruchsstimmung eingestellt.
Auch auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik ging es sichtbar vorwärts. Audion-Empfänger verschwanden aus den Haushalten. Superheterodyn-Empfänger setzten sich durch. Mit dem neuen UKW-Bereich hatten sie eine sehr gute Tonqualität, waren aber noch teuer. Elektronik-Basteln war daher unter uns Jugendlichen große Mode. Die einschlägigen Fachzeitschriften waren voller Bauanleitungen. Die ersten Fernsehapparate gab es zu kaufen.
Alle diese Geräte wurden noch mit Elektronenröhren betrieben. Halbleiterdioden gab es schon in den Bastelgeschäften und der Transistor war erfunden. Die gesamte Nachrichtentechnik stand an der Schwelle zur Halbleitertechnik und lies eine gewaltige Entwicklung erwarten, die später auch eingetreten ist. Wir hatten das Abitur, einige von uns auch den Ingenieurabschluss mit guten Zensuren bestanden, und es erschien uns verlockend an dieser Entwicklung aktiv teilzunehmen.
Die Zahlen der Bewerber in der Fachrichtung Schwachstromtechnik an der TH Dresden waren 1957 entsprechend hoch, was man damals auch in der Zeitung lesen konnte. Deshalb war die Freude groß, wenn man zum Studium zugelassen worden war. Das war nur mit einem Zensuren-Durchschnitt im Abitur gelungen, der besser als „gut“ war.
Wer das gerade so geschafft hatte, kam nur in die engere Wahl und musste ein Jahr auf dem Bau arbeiten. Dafür gab es in Dresden viele Möglichkeiten, denn die Ruinen und Freiflächen begannen schon nach wenigen Schritten vom Gebiet der TH Dresden in Richtung Stadtzentrum. Auch in unserer Fachrichtung waren einige Kommilitonen, die sich im Vorjahr beworben, das Jahr auf dem Bau hinter sich hatten und 1957 zugelassen worden waren.
Die Chancen, sofort angenommen zu werden, waren größer, wenn man als „Arbeiterkind“ anerkannt oder bereits Mitglied der SED war, der Staatspartei der DDR. Ähnliche Vorteile hatten Bewerber, die nach dem Abitur zwei Jahre bei der NVA (Nationale Volksarmee) gedient hatten. Auch Eltern mit einem sogenannten „Einzelvertrag“ waren ein Vorteil bei der Bewerbung. Einige von uns hatten neben dem Abitur noch einen Abschluss als Facharbeiter – möglichst im passenden Fachgebiet – oder einen Abschluss als Ingenieur (dann durfte man sich auch ohne Abitur bewerben). und Einige hatten oft auch eine Zeitlang im Beruf gearbeitet, kannten die Bauelemente, Baugruppen und Geräte, mit denen wir uns während unserer Ausbildung theoretisch auseinanderzusetzen hatten, schon durch den eigenen Umgang damit. Das war ein großer Vorteil, der auch bei der Bewerbung Berücksichtigung fand. Und sie brauchten im ersten Semester kein Vorpraktikum zu absolvieren, bekamen Stipendium und hatten eine gute Zeit.
Der Versuch, vor dem Studium noch einen Lehrberuf zu absolvieren, beinhaltete aber auch eine Gefahr. In der DDR war der „Dienst an der Waffe“ im Jahre 1957 noch freiwillig. Die Freiwilligen waren nicht sehr zahlreich und mussten geworben werden. Das machten Offiziere der Armee, Schuldirektoren, Lehrer in den Schulen und Kaderleiter in den Betrieben. Und die hatten Auflagen zu erfüllen. Außerdem gab es die Festlegung, dass Arbeiter, die zu studieren beabsichtigten, sich von ihrem Betrieb an die Lehreinrichtung delegieren lassen mussten. Die Delegierung bekamen sie oft erst, wenn sie sich bereit erklärt hatten, zwei Jahre bei der Armee zu dienen. Und zwei Jahre zusätzlich sind für einen Zwanzigjährigen, der seine Ausbildung möglichst bald abschließen und Geld verdienen möchte, eine lange Zeit.
Seltener gab es auch ungewöhnliche Wege zum Studium. Einer unserer Kommilitonen hatte noch im Zweiten Weltkrieg gekämpft, die Zeit bis 1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Kussnetzbecken in Sibirien im Kohlebergbau zugebracht, danach bei der Wismut im Uranbergbau im Erzgebirge gearbeitet, dort Silikose bekommen und im Alter von 31 Jahren das Studium begonnen und planmäßig abgeschlossen. – Eine beeindruckende Leistung.
Ich denke, wir alle, die das Studium abgeschlossen haben, haben uns damit eine gute Grundlage für ein interessantes Leben geschaffen, waren im Wesentlichen materiell gesichert, aufgrund der vielseitigen Ausbildung an der TH, später TU Dresden, auch in der Lage, uns auf anderen ausbildungsferneren Gebieten zu bewähren und damit schwierige Zeiten wie z.B. den Umbruch 1989 gut zu überstehen. Und wir haben die oft entbehrungsreiche Zeit zu Beginn unserer beruflichen Entwicklung als schöne Zeit in Erinnerung behalten und nicht bereut.
2020 hatte unser Semester vor, unser Jubiläum „60 Jahre Vordiplom“ zu feiern. Das ist durch die Corona-Krise verhindert worden. Aber wir wollen es nachholen, was aber mit einem Alter von 82 Jahren oder mehr immer schwieriger wird.