„In Krisen und an Feiertagen beschäftigen sich Leute mit Familiengeschichte“
(porträtiert im Jahr 2021)
Dagmar Möbius
Lars Thiele plante, beruflich im Museum zu arbeiten. Doch nach seinem Studium der Geschichte und Germanistik an der TUD und verschiedenen praktischen Erfahrungen entdeckte er seine wahre Berufung. Als Berufsgenealoge hilft er Menschen bei der Suche nach ihren Wurzeln. Als Archivbegleiter wird der 38-Jährige auch mit exotischen historischen Recherchen beauftragt.
„Die eine Initialzündung gab es nicht“, sagt Lars Thiele. Er interessierte sich schon immer für Geschichte, las viel und belegte im Gymnasium u. a. Geschichte als Leistungskurs. Im Museum zu arbeiten war sein Fernziel. Von 2002 bis 2008 studierte er Neuere und Neueste Geschichte, Sächsische Landesgeschichte, Technikgeschichte und Germanistik-Sprachwissenschaft als Magisterstudiengang an der TU Dresden. Zusätzlich absolvierte er an der juristischen Fakultät den Zertifikatskurs „Intellectual Property Rights II“ | Urheber-, Medien- & Internetrecht“.
„Ich wollte lernen, wie Informationen über unsere Vergangenheit gedeutet werden können und wie Geschichte geschrieben wird“, erklärt der gebürtige Dohnaer seine Studienwahl. Für Leipzig und Dresden kamen die Zusagen. Die TU Dresden punktete wegen der Gestaltung des Campus, dem angebotenen Studiengang, dem Studienort seiner damaligen Freundin und der Nähe zu Freunden und Familie. Nur Neueste Geschichte zu studieren, wäre ihm am liebsten gewesen. Dass dies aufgrund der Studienordnungen des Magisterstudienganges nicht möglich war, findet Lars Thiele im Nachhinein gut: Er entdeckte unter anderem die Sprachwissenschaft für sich.
Obwohl ihm die Grammatikkurse in Mediävistik einiges abverlangten. „Es gehörte dazu und erweiterte den Horizont. Drei Semester Latein haben mir auch nicht geschadet. Ich habe einen Zugang zu romanischen Sprachen bekommen.“
Zusammenhänge wichtiger als Fakten
Seine Erwartungen, Werkzeug zu bekommen, um sich Wissen zu erarbeiten, erfüllten sich. Dank guter Professoren, die lehrten und hinterfragten. Professor Gert Melville beispielsweise, dessen Vorlesungen immer viel zu schnell vorbei gingen. „Obwohl das Mittelalter gar nicht meins ist“, gibt Lars Thiele zu. Auch Professor Gerd Schwerhoff zog ihn mit der Literatur von Kriminalitätsakten in seinen Bann. „Oder Professor Thomas Hänseroth. Ein Ur-Meißner, sympathisch und bodenständig, eine besondere Persönlichkeit.“ Der Professor für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte begeisterte ihn für das Fach. Mehr als die Neuere Geschichte – „vom 18. Jahrhundert bis vor einer Minute“ – interessierte sich Lars Thiele für das 20. Jahrhundert, inklusive NS-System und DDR-Geschichte. „Das hatte ich zwar schon in der Schule, konnte dort aber manches nicht begreifen.“ Dass Zusammenhänge wichtiger sind als Zahlen und Fakten, erkannte er im Studium. Auch: „Es gibt nicht die Wahrheit, sondern unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen.“ Lars Thiele hat während des Studiums Hochwasserlisten aus dem 18. Jahrhundert transkribiert, Seminare in Rom besucht und Feldforschung mit Schüler:innen betrieben. „Man musste sich die interessanten Themen einfach nur selbst suchen.“ Im Magisterstudium war viel selbst zu organisieren.
Sprechen lernen vor Publikum
Dr. Norbert Haase, ehemaliger Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, weckte während einer praktischen Studienübung Lars Thieles Interesse für die Vermittlung historischen Wissens mit Führungen. Eine willkommene Abwechslung zur „trockenen universitären Ausbildung, die damals keine verpflichtenden Praktika beinhaltete“. Ab 2006 war er als Besucherreferent in der Gedenkstätte Bautzen und später in der Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden tätig und lernte, vor Menschen zu sprechen. „Meine Führungen sollten nie langweilig sein“, erzählt er nicht ohne Stolz. Routine sollte bei den Themen nicht aufkommen. Schon deshalb nicht, weil Lehrer und Schüler, ehemalige Häftlinge, Medienschaffende und Politiker:innen öfter kamen. „Man braucht ein dickes Fell“, sagt der Wahldresdner. Warum? „Wenn sich Ost und West während einer Führung in die Haare kriegen zum Beispiel. „Manche Menschen suchen Bestätigung und wollen nicht differenzieren“, berichtet der Historiker aus seiner insgesamt zwölfjährigen Erfahrung in dem Bereich.
Forscher, Verleger, Gründer
Nach dem Studium war Lars Thiele mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und als Online-Redakteur tätig. Hier beschäftigte er sich mit Schicksalen sowjetischer und deutscher Kriegsgefangener. Dieses Wissen sowie Sprachkenntnisse in Russisch und Tschechisch helfen ihm bei seiner heutigen Arbeit sehr. Auch einen Verlag hat er mehr als fünf Jahre als Gesellschafter mitgeführt. Drei Bücher erblickten in dieser Ägide das Licht der Welt: eine DDR-Fluchtgeschichte, ein Werk aus der Finanzgeschichte und ein Kurzgeschichtenband. Den Verlag gibt es heute nicht mehr. „Mein Mitstreiter eröffnete eine Buchhandlung und wir mussten sehen, wie wir Geld verdienen.“ Alle Forschungsstellen waren immer nur auf kurze Zeit befristet. Im Oktober 2015 gründete Lars Thiele einen Recherchedienst. Als „Archivbegleiter“ ist er seitdem im In- und Ausland gefragt.
Besitzklärung bis Zweitmeinung
„Ich begleite tatsächlich Leute ins Archiv“, lacht Lars Thiele. Zunächst fixierte er seine Arbeit auf Dresden, heute hat er sich auf sächsische Archive und Ämter spezialisiert. Personen, die keine Zeit oder keine Gelegenheit haben, nach Sachsen zu kommen, bitten ihn um Hilfe. So wie zwei Engländer, die an einem Buch über einen Klavierbauer schreiben. Ein großer Teil seiner Aufträge betrifft Familienforschungen. Meist geht es darum, Namen und Daten zu erfahren. Handwerkerfamilien ergründen ihre Ahnen; sie wollen wissen, wo frühere Betriebe standen. Über Prominente oder Kunstschaffende wollen Nachfahren alles Spannende ergründen. Auch Militärthemen sind relativ häufig. Oder Besitz. Dann sind Grundbücher, Erbverträge, Besitzwechsel von Interesse. Erfahrene Hobbyahnenforscher setzen auf den Rat des Historikers, wenn sie nicht weiterkommen oder um eine Zweitmeinung einzuholen. „Laienforscher können sich oft weniger gut organisieren, Quellen lesen und deuten, dokumentieren“, erklärt Lars Thiele, wie und warum er konkret helfen kann: „Seriöse Berufsgenealogen bieten eine gute Beratungsleistung, sie wissen, wo was zu finden ist.“
Familienforschung als Trend
Bei seiner freiberuflichen Tätigkeit hilft ihm auch das im Studium erworbene Verständnis für Sprache und Satzbau des 17. und 18. Jahrhunderts. Oder wenn es darum geht, einen Brief vom Urgroßvater aus dem 19. oder 20. Jahrhundert zu übersetzen. Lars Thiele liest Kurrent und Sütterlin fließend. „Längere Schriftstücke sind allerdings immer wieder eine Herausforderung“, sagt er. „Und alles vor dem 16. Jahrhundert gebe ich gerne an Kollegen ab.“
Der Historiker freut sich, dass die Familienforschenden jünger werden. „Viele sind keine Rentner. Sie haben ein tiefergehendes Interesse und suchen nach Anleitung. Es ist ein sehr ernsthaftes Hobby“, erzählt er. Seine Kenntnisse gibt er gut verständlich auf seinem Blog weiter. Davon profitieren Interessierte, die keine oder weniger Erfahrungen mit Archivarbeit haben. „Manche Geschichtswissenschaftler:innen haben exzellente Fachkenntnisse, können aber nicht erklären“, hat der Praktiker beobachtet. Die Nähe zu den Menschen liegt ihm mehr als Vorträge vor wissenschaftlichem Publikum. Verstärkte Anfragen erhält er in der Weihnachtszeit und zu Feiertagen. „Das ist die Zeit, in der Familienfragen aufkommen“. Auch in der Corona-Pandemie, wenn alle Archive geschlossen sind, ist Lars Thiele gut ausgelastet. Warum, wundert ihn nicht: „In Krisen beschäftigen wir uns häufiger mit der Familie.“ Er bereitet Anfragen vor und nach, stellt Anträge bundesweit oder hakt nach. Archive sind für ihn alles andere als langweilige Orte.
Auch aus diesem Grund engagiert sich der Berufsgenealoge in mehreren Vereinen, unter anderem im Dresdner Verein für Genealogie oder in der Association of Professional Genealogists. Seine Kenntnisse in der professionellen Recherchearbeit sowie seine Begeisterung für lebenslanges Lernen zukünftig auch an Studierende der TU Dresden und Interessierte weiterzugeben oder zu vermitteln, was man nach einem Studium der Geschichte tun kann, kann sich Lars Thiele sehr gut vorstellen.