Das letzte ET-Fine
Es war an einem Juniabend des Jahres 1966. Draußen begann es bereits zu dunkeln. Mit der Vorbereitung auf eine Vorlesung für den nächsten Tag beschäftigt, blickte ich kurz durch die geöffnete Balkontür in Richtung des alten Kraftwerkes Mitte. Plötzlich registrierten meine Ohren ein Trompetensignal, eine Melodie, die mir seit der Zeit meines Studienabschlusses noch gut bekannt war.
Die Melodie zum Lied „Ein Heller und ein Batzen“, von unseren Vorgängern in der zweiten Hälfte der 50er Jahre ausgewählt und mit neuem Text versehen für den Höhepunkt „ET-Fine“ bestimmt, ließ mich aufhorchen. Kurze Zeit später klingelten Studenten an meiner Tür und luden mich zu einer Straßenbahnfahrt ein. Ich folgte der Einladung und sah einen besonders ausgestatteten Straßenbahnwagen, abseits der Hauptlinienführung, in einem Abzweig abgestellt. Es war ein Triebwagen der alten Bauart mit Bänken an den Längsseiten, wie sie damals noch auf bestimmten Stadtlinien verkehrten. Als potentieller Teilnehmer an der Fahrt einer Verantwortung hinsichtlich der Insassen bewusst und wegen ähnlicher Ereignisse auch in politischer Hinsicht skeptisch geworden, umrundete ich zunächst den Wagen. Geschmückt mit Girlanden und Spruchbändern stellte dieses Fahrzeug schon eine Besonderheit dar.
Aber die Losungen: „Hoch lebe der Wein und die Liebe und das Ohmsche Gesetz“ und „Saufst ̶ sterbst, saufst net ̶ sterbst auch, also ̶ saufst!“ bzw. „4 x 5 = Dr.ex.mat“ und ähnliche gaben mir das Gefühl, dass auch scharfe Kritiker hier politisch keinen Angriffspunkt finden können.
Das von Studenten gern als Souvenir in Dauerausleihe genommene 36 Endhalteschild „Wilder Mann“ war in „Wilde Frau“ 37 umbenannt worden.
Vielleicht zu Ehren der einzigen Dame in der Seminargruppe oder in Anspielung auf eine höhere Instanz.
Nach der Umrundung des Wagens stieg ich zum Führerstand ein und begann, auch aus sicherheitstechnischen Gründen, eine kurze Unterhaltung mit dem Wagenführer ̶ im Inneren des Wagens ging es ja recht feuchtfröhlich zu. Der Wagenführer, ein mir als zuverlässig bekannter Student, zeigte sich im Vollbesitz geistiger und körperlicher Kräfte. Dem Wunsch zur Ausleihe des Wagens für die Studentenfeier wurde entsprochen. Kollegen aus dem Straßenbahndepot hatten sich mit Begeisterung an der Wagenausschmückung beteiligt. Die fröhliche Fahrt tagsüber durch die Stadt war schon fast zu Ende, als ich, nun beruhigt, meine Teilnahme erklärte.
In einer Pause zwischen den Linienfahrten ging es wieder auf die Strecke, zum Postplatz. Dort stieg die fröhliche Schar kurz aus, musizierte und sang zur Freude der Passanten an den Haltestellen. Es waren lustige Liedchen ohne politischen Inhalt. Bald kam der nächste Linienzug in Sicht. Nun wurde wieder eingestiegen. Einige Passanten gaben noch ihrer Freude Ausdruck darüber, dass mal wieder "etwas Nettes los war". Aber offensichtlich war irgendwo ein „Ohr an der Masse“ und konnte dienstbeflissen etwas weitermelden, wie wir später erfahren mussten. Die Fahrt ging dann weiter zum Fucikplatz. Dort verabschiedete ich mich dankend mit einem kleinen Zuschuss zum weiteren Verlauf der Veranstaltung.
Am nächsten Tag teilten mir die Studenten mit, dass eine Untersuchung zu diesem Fall erfolgen solle und die Gruppe Studenten mit Exmatrikulation zu rechnen hätte. Ich bat um schnelle Entwicklung der Fotos von der Bahn und erklärte mich bereit, mit den Studenten zur Verhandlung zu gehen. Daraufhin erfuhr ich, dass es dem Dekan, Professor Lunze, einem wegen seiner fachlichen und menschlichen Qualitäten hoch angesehenen Dozenten, gelungen sei, das Verfahren niederzuschlagen. So konnten alle diese Studenten ihr Studium erfolgreich zu Ende führen.
Leider war es das letzte ET-Fine für den Rest der Zeit in der DDR. Man hatte außer diesen und anderen harmlosen Späßen einen unglücklichen Vorgang zum Anlass genommen, solche studentischen Veranstaltungen künftig zu verbieten: zum üblichen Gedenken an die auf der Strecke gebliebenen Kommilitonen, denen zu meiner Zeit noch mit „ich hatt’ einen Kameraden“ gedacht wurde, hatte ein Trompeter die „Unsterblichen Opfer“ intoniert.