Im tiefen Tal der Ahnungslosen
Mit Dresden verbindet mich die Erinnerung an meine schönsten Jugendjahre, die Studienzeit. Die Zeit, da wir finanziell ohne Sorgen, mit 130 Mark Stipendium und zehn Mark Miete im Studentenwohnheim, die Lebensmittelkarten-Ration aufgebessert durch materielle Zuwendungen der Eltern, unsere Freiheit und Freizeit genossen haben.
Dresden, das war mein erster erschütternder Eindruck im Sommer 1952, als wir, eine Schulklasse aus dem mitteldeutschen Geiseltal, auf der Zugfahrt ins Ferienlager nach Schöna die Umsteigpause nutzen durften, um einen Spaziergang durch die Prager Straße zu machen. In der Kleinstadt im Wesentlichen vom Krieg verschont, sahen wir nun eine total zerstörte Stadt, eine Ruinen-Landschaft, in der das Leben pulsierte wie im Ameisenhaufen.
Dresden, das war ab 1956 dann meine zweite Heimat für sechs Jahre, das war das „Aquarium“ in der Schandauer Straße 76 in Striesen, ein mehrgeschossiges Produktionsgebäude der Zeiss-Ikon. Über uns liefen mehrschichtig die Maschinen, wir wohnten in Zwölf-Mann-Zimmern, und unser Glück wäre vollkommen gewesen, hätten nicht die Klausuren und Belege gestört.
Dresden, das waren die Raupen, die mit Stahlseilen die Ruinen der Villen im Stadtteil Plauen einrissen.
Dresden, das war unser Mensa-Essen für 70 Pfennige, das war unsere 100-Gramm-Fleischmarke, eingelöst am Sonntag in der „Sonne" in Tolkewitz.
Dresden, das war der donnerstägliche Witwenball im Volkshaus Laubegast und der Mitleid und Rührung erregende Einblick in die Wohnverhältnisse mit ihrer beklemmenden Enge, wenn man das Glück hatte, Auserwählter oder „Abstauber" zu sein.
Dresden, das war das „Tal der Ahnungslosen". So wurde das technische Interesse des Genossen Heimleiters, unseres unvergessenen Max Reiche, geweckt. Auf dem Dach des Studentenheimes durften wir tatsächlich einen UKW-Antennen-Drehmotor installieren, um mit Hilfe des Verstärkers wenigstens UKW-Nord empfangen zu können, im ständigen Kampf gegen das wetterabhängige Verstummen des Senders.
Dresden, das war der Vorteil des schlechten Fernsehempfanges und der mäßigen Nachfrage nach Fernsehgeräten, die uns die Chance gab, uns nachts an den zehn bis 15 Fernseher-Verkaufsstellen anzustellen, um früh in die Liste eingetragen zu werden und dann die Geräte (Fernsehtruhe „Carmen" für 2880 Mark) mit kleinen Aufpreis nach Mitteldeutschland umzuleiten, eine willkommene Aufbesserung unseres Stipendiums.
Dresden, das war die Autobahn-Auffahrt Nord Hellerau, von der aus wir per Anhalter nach Königs Wusterhausen bei Berlin fuhren, um für Ostgeld die Filme mit dem Prädikat „besonders wertvoll" am Bahnhof Zoo zu sehen oder im Olympiastadion Fußball-Länderspiele oder in der Waldbühne die internationalen Schlagersternchen.
Dresden, das war der Ausgangspunkt unserer (illegalen) Studenten-Trips, per Anhalter nach Berlin, von Tempelhof mit kostenlosen ARTU-Flügen über die Grenze nach Hannover und von dort als Tramper durch Deutschland, oder mit eingetauschtem BRD-Reisepass durch Europa, bis nach Indien; einer fuhr zur Verlobung nach Venedig. Im September saßen wir wieder anständig und staatsbewusst im Hörsaal ...
Dresden, das waren auch nachdenkliche und traurige Episoden, wie die schmerzliche Trennung mancher Studentenliebe durch die Mauer am 13. August 1961; die Hilferufe unserer Mitstudenten, denen die Mauer die Rückkehr nach dem Trip verwehrte und denen wir die Testate und Belegnoten aus den TH-Geschäftsstellen holen und nach „drüben" schicken mussten.
Dresden, das war auch diese Episode: Mein Friseur in der Schandauer/Ecke Lauensteiner (für eine Mark), dem der ältere Kunde auf dem Friseurstuhl mit Kreislaufkollaps zusammenbrach und der sich aufopferungsvoll um ihn bemühte, bis er ihn wieder auf den Beinen und auf der Straße hatte, und der dann erleichtert aufatmete: „Ein Glück, dass er mir nicht auf dem Stuhl gestorben ist, was hätte mir der das Geschäft geschädigt."