Indische Aspiranten an der TH Dresden (I)
Ende der fünfziger Jahre kam eine größere Anzahl indischer Aspiranten aufgrund staatlicher Vereinbarungen an die TH Dresden, ein großer Teil davon wurde von der Fakultät Elektrotechnik aufgenommen.
Die Aspiranten verfügten über einen Hochschulabschluss und gehörten größtenteils der Kaste der Brahmanen (eine aus der alten Priesterkaste hervorgegangene, hoch angesehene, aber nicht mit großen materiellen Gütern ausgestattete Menschengruppe mit vorwiegend geistigen Berufen) an. Mit der Bildung des indischen Staates wurde das Kastenwesen offiziell abgeschafft, aber jahrhundertealte Traditionen sterben nicht kurzfristig ab. So zeigten sich auch hier noch bestimmte Eigenheiten.
Während die Aspiranten über ein hohes theoretisches Wissen verfügten, gab es eher Probleme bei praktischen Arbeiten, da ein Brahmane normalerweise keine handwerklichen Tätigkeiten ausübt. Aus diesem Grunde nahm ich auf Anraten meines Professors zusammen mit einem Aspiranten mittels Zange und Schraubenzieher die zu untersuchenden Geräte auseinander, die er danach mit vollem Erfolg wieder zusammenbaute.
Ein anderes Problem bestand für die Inder, die Fleisch verschmähten, besonders am Anfang ihres Hierseins mit der Verpflegung. In der DDR waren nur wenige der gewohnten Gemüsesorten zu bekommen. So kam es manchmal vor, dass eine inzwischen hier tätige Gattin eines Inders im Privathaushalt mit Reis, Auberginen und Kartoffeln als „Gemüse“ sowie vielen speziellen Gewürzen für einige in unserem Bereich (Institut für elektrische Energieanlagen, Direktor Prof. Dipl.-Ing. K. Kühn und Lehrstuhl für Elektrizitätsversorgung, Ordinarius Prof. Dr. H. Schulze) tätigen Aspiranten ein indisches Mahl zubereitete.
Die Aspiranten wurden weitgehend am auch (privaten) Institutsgeschehen (Feiern, Exkursionen) beteiligt und vom Professor auch zu Fachtagungen eingeladen. Einmal während der "Weimartage" der Elektrotechniker ergab es sich, dass während der Mittagspause in den Gaststätten kein freier Platz mehr gefunden wurde. Der Professor empfahl seinen Mitreisenden, am Rostbratwurststand einen Imbiss einzunehmen.
Dem Vorschlag des Professors folgend, aßen die indischen Aspiranten erstmals eine Fleischspeise, der Not und der Autorität gehorchend. Einer gestand daraufhin, dass es ihm gut geschmeckt habe, und es blieb bei ihm nicht bei dieser einen „Sünde“.
Zwischen uns Assistenten und den Aspiranten bestanden immer gute Kontakte. Als ein Aspirant für seine Untersuchung eine Modelleitung benötigte, halfen wir, diese auf der Basis einer Konstruktion des Professors entworfene Leitung mittels isolierten Aluminiumleitungen und Brettern im Garten des Instituts zu realisieren. Nun konnte Herr Date, in einem Gewirr von Hilfsleitungen stehend, seine realen Kurzschlüsse einlegen und die Reaktion der Schutzeinrichtung testen. Zum Dank für unsere praktische Hilfe wurden wir manchmal zum Nachmittagstee (den die Inder im Studierzimmer auf englische Art mit Milch und zusätzlich mit Nüssen einnahmen) eingeladen.
Alle in unserem Bereich tätigen indischen Aspiranten konnten ihre Dissertation mit guten oder sehr guten Ergebnissen abschließen. Im Anschloss an die Verteidigung der Arbeit organisierten wir jeweils eine lustige „Nachprüfung“. Abschließend wurden alle Institutsangehörigen zu einer Feier in ein Restaurant eingeladen.
Nach der Rückkehr in ihre Heimat arbeiteten die jungen Doktoren gemäß der abgegebenen Verpflichtung mehrere Jahre am Aufbau der indischen Energieversorgung. Ein „Dr.-Ing.“ war in Indien zu dieser Zeit eine Seltenheit und durch den guten Ruf der Dresdner Hochschule ein hoch angesehener Fachmann.
Alle mir bekannten indischen Absolventen wurde nach wenigen Jahren in Indien zu Professoren berufen.