Kritische Studenten in kargen Zeiten
Mein Studienjahrgang bestand zum überwiegenden Teil aus Heimkehrern von Krieg und Gefangenschaft sowie aus Flüchtlingen und Vertriebenen. Die verlorenen Jahre wollten alle aufholen, davon hielten sie auch der Nahrungsmangel, teilweise zerstörte Institute und fehlende Fachliteratur nicht ab.
Hunger und dürftige Kleidung waren Normalität. Eine Versorgungsoase war für uns die Mensa in der Mommsenstraße, auch wenn rote Rüben und Pellkartoffeln die Hauptnahrung darstellten. Dieses karge Mittagessen gab es auch für die Professoren. Physik-Professor Alfred Recknagel saß zufällig mehrmals am gleichen Tisch wie ich und schälte mit einem Feldbesteck wie wir Studenten die Pellkartoffeln und aß sie mit gleichem Appetit. Deshalb war es keine Besonderheit, wenn auch ein Professor in der Natur „Mundraub“ beging und sich Früchte vom Baum des Nachbarn pflückte. Hinter der Hochspannungshalle befanden sich kleine Gartenparzellen und ein paar Obstbäume, die unter den Institutsangestellten aufgeteilt waren. Der Hunger verleitete einen der E-Technik-Professoren, sich ein paar Birnen vom Baum der „Allgemeinheit“ zu pflücken. Das kostete ihn das Dekanatsamt. Zeit heilt alle Wunden! Heute trägt ein Gebäude seinen Namen und unter uns Studenten galt er immer als väterlicher Freund, der uns nicht nur Lehrstoff vermittelte, sondern auch viele Lebensweisheiten aus seinem beruflichen Leben.
Trotz dieser Lebensumstände war es Pflicht jedes Studenten, Arbeitseinsätze zur Trümmerbeseitigung im Hochschulgelände zu leisten. Die aus dem Krieg und Gefangenschaft heimgekehrten Studenten waren nicht nur lernhungrig, sondern auch aus der schlechten Erfahrung heraus zu kritischen Menschen geworden. Sie hatten deshalb auch keine Scheu, im Hörsaal Kritik zu äußern. Das musste ein Dozent der politischen Ökonomie ebenso erfahren wie ein Professor für Elektrotechnik, als er in einer Vorlesung ein Lob auf Napoleon zum Ausdruck brachte. Kritik mussten sich auch Vertreter von staatlichen Organen gefallen lassen, als sie 1950 bis 1952 so genannte Säuberungen unter unbequemen SED-Mitgliedern praktizierten. 1952 wurden sogar Exmatrikulationen gegen missliebige Studenten ausgesprochen. Spontan beriefen die Studenten der Starkstromtechnik eine Protestversammlung ein und beauftragten einen studentischen Funktionär aus ihren Reihen, beim Prorektor für studentische Angelegenheiten, Turski, Protest einzulegen. Dem Widerspruch wurde Gehör geschenkt. Kurt Beholtz durfte nach einem Jahr Bewährung in der Praxis sein Studium fortsetzen und mit Erfolg abschließen!
Die Ironie der Geschichte „wollte“ es, dass einige Jahre später Prorektor Turski vom gleichen „Schicksal“ getroffen wurde. Wegen „Titoismus-Ansichten“ wurde er als Hochschullehrer relegiert und in das Braunkohle-Revier Senftenberg abgeschoben.
Aus meinem Studienjahrgang 1949 bis 1952 sind 88 Diplom-Ingenieure, darunter 22 Doktoren und zwölf Professoren hervorgegangen, 20 Prozent der Diplom-Ingenieure haben die DDR verlassen.