Mit der Seminargruppe zum Weihnachtsmarkt
Stefan Jahnke
Herbst 1989. Neben dem neuen Semester begann an der TU Dresden ein sogenannter „Vorkurs für junge Facharbeiter zum Erwerb der Hochschulreife für das Ingenieurstudium“. Nach langem Ringen um einen Studienplatz durfte ich genau diesen Kurs belegen, denn aufgrund politischer Entscheidungen bot sich mir bis dahin leider keine Möglichkeit, ein Abitur abzulegen.
Umbrüche und damit die sogenannte „Wende“ kündigten sich an, auch wenn zu Kursbeginn niemand wirklich daran glaubte. Dafür holten Realität und Volk den damaligen Staat zum Glück weitestgehend friedlich ein. Der Kurs begann, wie damals üblich, mit einem Kartoffel-Ernteeinsatz in der nahen Lausitz, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Hier lernten wir uns kennen, und einige der angehenden Studenten begleiteten mich übers gesamte Studium und darüber hinaus, sind gute Freunde.
Nach der Ernte war eine Woche mit politischen Inhalten geplant, die jedoch aufgrund der aktuellen Lage nicht mehr stattfand. Stattdessen traten interessante Veränderungen der Vorlesungen und Seminare ein. Ehemals politisch geprägte Inhalte verschwanden, jahrelang zum damaligen System stehende Dozenten bemühten sich um Erklärungen und Diskussion mit uns sowie um Gastdozenten aus religiösem Umfeld, westlichen Firmen und Politik. Spannende Tage folgten den ersten eigenen Besuchen im Westteil Deutschlands vor Weihnachten des Wendejahres. Dazu gehörten ein Spaziergang über den West-Berliner Weihnachtsmarkt und Diskussionen über Für und Wider der aktuellen Entwicklung hin zu einem geeinten Deutschland.
Nach und nach veränderte sich die Bildungsstruktur. Der Vorkurs endete im Sommer 1990 mit einer Fünf-Tage-Woche, 1989 mit sechs Vorlesungs- und Seminartagen je Woche begonnen. Kurz vor der Wiedervereinigung begann ich mein Diplom-Studium im Maschinenbau, Spezialisierung Schienenfahrzeugtechnik, an der Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List“ (HfV), damals u.a. noch mit Sport als Pflichtfach. Die zwei folgenden Jahre bis zur Ablegung der Zwischenprüfungen als Kand.-Ing. verliefen streng in Seminargruppen.
Während ab 1992 kein Stipendium mehr für die Finanzierung der Studenten nötig war, sondern mit einigen Ecken und Kanten das heute bekannte BAföG Einzug hielt, kam es an der HfV zu unschönen Szenen im schönen Studienverlauf. Ohne die Urheber zu kennen, tauchten öfters Aushänge im Hauptgebäude am Friedrich-List-Platz auf, in denen alle Beschäftigten und Studenten aufgefordert wurden, jeden zu denunzieren, der eventuell, wenn auch nicht ganz gesichert aber angenommen, einst Mitglied der DDR-Einheitspartei und/oder des Ministeriums für Staatssicherheit war. Ob es dadurch zu Repressalien kam, weiß ich nicht. Nur standen meine Mitstudenten und ich, nunmehr gerade beim Übergang aller Diplomstudiengänge der HfV zur TUD, staunend und kopfschüttelnd vor den oft gut gefüllten Denunziationslisten, ehe diese Phase endlich zu Ende ging, wir unser Studium an der TUD fortsetzten und am Friedrich-List-Platz die Hochschule für Technik und Wirtschaft entstand.
Aktuelle wirtschaftliche Veränderungen in Ostdeutschland und damit ein Mangel an zu erwartenden freien Arbeitsstellen in der ausgewählten Spezialisierung ließen mich diese nach den ersten zwei Studienjahren beim Übergang an die TUD in Produktionstechnik ändern. Unter unserem Fachrichtungsleiter Dr. Brehmer lernten wir hier vieles über den Flugzeugbau und er führte mich erstmals in die Bereiche der Qualitätsplanung und -sicherung ein, die mich bis heute, hoffentlich in seinem Sinne, in meinem eigenen Ingenieurbüro aktiv begleiten.
Das studentische Leben bekam in jenen Jahren einen neuen Touch. Ging es vorher meist um studienleistungssteigernde Aktivitäten, stand nun alles im Sinne des Mammons, wurden erst einmal horrende Preise für Studentenveranstaltungen und dabei auch für dortige Getränke usw. aufgerufen, sodass manches Konzert in den Studentenclubs im und um das TUD-Gelände einfach wegen zu geringer Zahlbeteiligung abgesagt werden musste. Also organisierten wir uns eigene Veranstaltungen in den Studentenwohnheimen oder einfach im Grünen, soweit es das Wetter zuließ. Oft waren unsere Dozenten und Professoren dabei und wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis in unserem kleinen, von der Hochschule übernommenen Studienbereich an der TUD. Ein Grill, leckeres Fleisch (Vegetarianer outeten sich erst später), Gitarre, etwas Alkohol und viel gute Laune bestimmten die gemeinsamen Abende genauso, wie aktives Lernen und politische Diskussionen.
Etwas verwirrend war in jenen Tagen die Existenz zweier Sektionen Maschinenbau an der TUD: einmal die gut eingesessene der Alt-TU und einmal jene von der HfV übernommene. Für uns normal, für die ursprünglichen Maschinenbaustudenten der TUD absonderlich, was sie uns auch spüren lassen wollten. Erfolgreich ignorierten wir dies jedoch und fanden bald Anschluss statt Häme.
Während wir an unseren freien Tagen versuchten, die uns plötzlich weit offenstehende Welt genauer kennenzulernen oder auch nur die gewaltigen Veränderungen in unserer Studienstadt aktiv zu verfolgen, verflog die Zeit bis 1995 dermaßen schnell, dass wir fast nebenbei die Technisierung, also die Einrichtung der Computerkabinette an der TUD, als selbstverständlich hinnahmen, erste Erfahrungen mit dem damals jungen und von vielen noch belächelten Internet sammelten und uns damit in jenen Jahren als in der so neuen Welt angekommen fühlten. Gern nahmen wir unser ehrlich und unter viel Schweiß errungenes Diplom entgegen und sind sicher bis heute stolz darauf, denn wir gehörten und gehören für immer zu einem der ersten Absolventenjahrgänge mit einem westlich orientierten vollwertigen Universitätsdiplom aus Dresden.
Wie sich ein Vater wie ich heute freut, wenn seine Tochter später zwar nicht in seine Fußstapfen, aber an die selbe Universität trat und dort ebenso ein mehrjähriges Studium, wenn auch in einem anderen Bereich, absolviert, vorher die vielen Angebote wie Kinderuniversität oder Kinderlabor, Praktikum und Gymnasialbeleg nutzte, ist sicher gut vorstellbar.
Viele meiner damaligen Erlebnisse begleiten mich heute noch in allgegenwärtigen Erinnerungen. Natürlich flossen diese ebenso in mein aktuelles Tun wie auch in meine Romane und Erzählungen ein. Meine Zeit an der TUD prägte mich und vielleicht prägten wir Studenten und Dozenten der damaligen Tage auch ein klein wenig die Entwicklung der TUD hin zu dem, was sie heute für Dresden, Sachsen, Deutschland, Europa und die Welt ist. Nicht umsonst sprach mich ein guter Freund aus Rajasthan vor zwei Jahren auf „meine Uni“ an und hoffte, seinen Sohn hier studieren lassen zu dürfen. Der Ruf unserer Universität erreichte also auch ihn im fernen Indien. Es ist schön, Absolvent solch eines Hauses zu sein. Vielen Dank, TUD.
Stefan Jahnke ist heute Inhaber eines Ingenieurbüros für Qualitäts- und Projektmanagement und Reisemanager. Als Schriftsteller hat er mehr als 50 Romane, Erzählungen und Berichte veröffentlicht. 2014 erschien sein Buch „Weihnachtsgeschichten aus Dresden“.