Professoren der Weltklasse und das Kreuz mit dem Marxismus
Prof. Dr. mult. Gerhard Kreysa
Als ich 1964 mein Chemiestudium an der TU Dresden begann, war nur eine Minderheit unserer Professoren Mitglied der SED. Am Ende meiner Promotionszeit waren parteilose Professoren bereits die Ausnahme. Über eine Praxis beim Besuch der GeWi-Vorlesungen und Erlebnisse mit zwei Professoren möchte ich berichten.
Vorlesungen über Marxismus-Leninismus (kurz ML oder GeWi für Gesellschafts-wissenschaften) waren bis zum Ende des Studiums Pflichtveranstaltungen. Grundsätzlich konkurrierte bei uns Chemikern jede Vorlesung mit dem Zeitaufwand für die Praktika im Labor. Da war effiziente Planung gefragt. Wir bildeten 3er-Teams, von denen rotierend jeweils nur ein Mitglied in die GeWi-Vorlesung ging und mit blauem Durchschlagpapier zwei Kopien seiner Mitschrift für die beiden anderen anfertigte. Kopiergeräte gab es damals leider noch nicht. Nicht einmal die wenigen Genossen in unserem Studienjahr nahmen Anstoß an dieser Praxis. Schließlich hatten auch sie keine kostbare Laborzeit für den Marxismus zu verschenken.

Kurt Schwabe
Selbst am Ende des Promotionsstudiums mussten wir noch eine ML-Arbeit verfassen, die leider sogar Bestandteil des Verfahrens war. Als ich mein Thema bekam, traf mich fast der Schlag: „Wie vermittelt man die Grundlagen des Marxismus-Leninismus in der Anfängervorlesung über Allgemeine Chemie?“ Ich hielt mich zwar für dialektisch einigermaßen gut geschult, aber dazu fiel mir beim besten Willen nichts wirklich Überzeugendes ein. Die Prüfer sahen das wohl auch so und gaben mir deshalb – wahrscheinlich sogar wohlwollend – nur eine Zwei. Ärgerlich war daran nur, dass mir damit das „summa cum laude“ verwehrt wurde, das mir mein hochverehrter Doktorvater Kurt Schwabe gern gegeben hätte. Über ihn später mehr.
Ein didaktisch und rhetorisch begnadeter Hochschullehrer war unser Organiker Roland Mayer. In der Vorlesung für Fortgeschrittene erklärte er uns einmal die gerade aktuellen Woodward-Hoffmann-Regeln (für Insider: das kon- und disrotatorische Öffnen und Schließen konjugierter π-Orbitale) und schloss mit dem Satz: „Meine Damen und Herren, Sie müssen doch zugeben, die Sache ist so einfach, dass man sich schämt, nicht selber draufgekommen zu sein.“ Jeder, der diesen Satz gehört hat, wird sich auch nach mehr als fünfzig Jahren noch daran erinnern. Wenn wir ihm dabei sogar innerlich zustimmten, lag das daran, dass er uns diese Regeln besonders plausibel erklärt hatte.
Legendär war auch Roland Mayers Reise 1968 in die USA. Man hatte ihn zu Vorträgen und auf eine Gastprofessur eingeladen. Die Genehmigung durch das zuständige Ministerium hat ihn als Parteilosen wohl selbst überrascht [1]. Nach seiner Rückkehr erging an uns alle eine Einladung zu seinem Reisebericht im Hörsaal seines Institutes. Gefüllt bis zum letzten Platz lauschten mehr als 300 Studenten dem lebhaften Vortrag und waren fasziniert von den gefühlt 100 projizierten Farbfotos. Ohne dass er es explizit aussprach, spürte jeder seine Begeisterung für dieses Land, mit der er uns fast alle ansteckte. Sieben Jahre nach dem Mauerbau musste es wohl als sicher gelten, dass keiner von uns eine solche Reise jemals erleben würde. Natürlich musste er davon ausgehen, dass sich unter den Hörern auch einige IMs befanden, doch auch diese gefährliche Klippe umschiffte er mit Bravour ohne jedes Nachspiel.
Im zitierten Buch vom Schwefel-Mayer berichtet er über diese Reise alles, was er uns damals natürlich nicht erzählen durfte. Man erwartet geradezu, dass ihn die Stasi nicht unbeschattet in die USA reisen ließ. Auf ihn eigene Spione anzusetzen, schien ihr dann doch zu riskant. Schon weil die DDR Reparationszahlungen für den Holocaust strikt verweigerte, war ihr Verhältnis zu Israel offiziell denkbar schlecht. Niemand durfte private oder berufliche Kontakte zu Israel pflegen. Für Markus Wolf, den Chef der Stasi-West-Aufklärung, der selbst Jude war, galt das offenbar nicht. Er ließ Roland Mayer durch zwei Damen beschatten, die für den israelischen Mossad arbeiteten. Herausgekommen ist das nur, weil eine dieser Agentinnen in New York in Mayers Hotel ermordet – von wem auch immer – aufgefunden wurde und die CIA ihm dies mitgeteilt hatte.

Abholung von Kurt Schwabe zum 65. Geburtstag am 29. Mai 1970 mit Motorradeskorte
Ein durch seine Forschungsergebnisse und Lehrbücher weltweit bekannter und angesehener Wissenschaftler war mein schon erwähnter Doktorvater Kurt Schwabe. Über das fehlende Faszinosum seiner Vorlesungen schweigen seine dankbaren Schüler aus Höflichkeit.
Zu seinem 65. Geburtstag am 29. Mai 1970 bereiteten ihm seine Mitarbeiter eine grandiose Geburtstagsfeier. In aller Früh holten wir Doktoranden ihn mit einer Motorradeskorte an seinem Haus ab. Im Institut präsentierten wir ihm die vielleicht erste Multimedia-Schau der Welt. Unter dem Motto „Ein Tag im Leben des Kurt Schwabe“ kombinierten wir Fotos, 16mm-Filmsequenzen, Musik und Kommentare zu einer Gesamtschau.

Ankunft zur Geburtstagsfeier
Sein Arbeitstag begann um 5 Uhr und endete gegen 21 Uhr. Gab es in anderen Instituten einen Schlussdienst, absolvierte er diese Schlussrunde persönlich. Auch wenn er etwas grummelte: „Nu machen se aber Schluss“, war es für die Karriere durchaus förderlich, zu dieser Zeit noch möglichst oft im Labor zu sein. Zu seiner Arbeitszeit passten seine Sprüche wie „Urlaub ist gut, wenn er die Arbeitsfreude fördert; ich brauchte schon 30 Jahre lang keinen mehr.“ Oder wenn man doch mal aus dem Urlaub zurückkam: „Sie kommen mir so bekannt vor, kann es sein, dass Sie hier einmal gearbeitet haben.“
Ich habe ihn später gern als den bestbezahltesten Staatsgegner bezeichnet, den sich die DDR je geleistet hat. Traf er am Abend nur zwei oder drei Leute, denen er vertrauen konnte, dann hörte man auch Sätze, die durchaus gefährlich werden konnten, wie: „Heute waren sie wieder auf Diplomatenjagd, die Arbeiter- und Bauernbarone.“ Wahrscheinlich, weil er auch vor dem Mauerbau von seinen Westreisen stets zurückkehrte, durfte er auch danach noch ins westliche Ausland reisen. Wir fragten uns manchmal, warum er nie im Westen geblieben ist. Ich habe nur eine Erklärung dafür. Mit zeitweise vier großen Instituten in Dresden an der TU, der ZKS und zeitweise der Radiochemie in Rossendorf und dem Forschungsinstitut Meinsberg, das er trotz Schenkungsvertrag an die TU bis zu seinem Lebensende als Privatinstitut führte, verfügte er über ein Wissenschaftsimperium einer Größe, die es in der Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik schlicht nicht gab. [2,3]
Einmal erzählte er uns, dass ein Kommilitone, der wegen staatsfeindlicher Hetze zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war, ihm jetzt, erst zwei Jahre nach seiner Verhaftung eine Karte aus Hamburg geschrieben habe. Im Klartext hieß das. „Leute, auch wenn es Opfer fordert, es gibt noch immer einen legalen Weg in den Westen.“ Eine stärkere Ermutigung für meine damals schon intensiv gepflegten Fluchtpläne nach der Promotion konnte ich mir nicht vorstellen. Noch kurz vor der Promotion schlug er mich für die Teilnahme an einer Tagung in Dubrovnik vor, sagte mir aber gleich: „Sie werden Ihnen das nie genehmigen; ich mache das nur, um die da oben zu ärgern.“

Kurt Schwabe in Meinsberg, um 1980
Als ich später nach anderthalb Jahren Gefängnis wegen versuchter Republikflucht wieder in Dresden war, ließ er mich über seine Sekretärin wissen, ich möchte ihn doch in Meinsberg besuchen. Um ihn möglichst nicht zu kompromittieren, fuhr ich an einem Wochenende zu ihm. Er empfing mich mit den Worten: „Es mag schlimm sein, was Sie erlebt haben, aber Sie haben richtig gehandelt, Sie wären hier vor die Hunde gegangen. Ihre Frau ist schon im Westen und deshalb werden auch Sie bald ausreisen dürfen.“ So geschah es auch.
Nach diesem Gespräch nutzte er eine Reise nach Wien, um von dort aus meinem späteren Vorgänger als Geschäftsführer der DECHEMA e.V. in Frankfurt am Main einen Empfehlungsbrief für mich zu schreiben.
Der war wohl so überzeugend, dass mir Dieter Behrens gleich nach meiner Ankunft, noch bevor er mich gesehen hatte, einen von ihm bereits unterschriebenen Arbeitsvertag schickte. So viel Vertrauen genoss Kurt Schwabe auch im Westen.
Literatur:
[1] R.A.O. MAYO: Schwefel-Mayer und das Prinzip vom Optimum und Pessimum; Books on Demand GmbH, Norderstedt 2004
[2] H. Kaden: Kurt Schwabe Chemiker, Hochschullehrer, Rektor, Akademiepräsident, Unternehmer; Sächs. Akad. der Wissenschaften, Leipzig 2011
[3] G. Kreysa: Kurt Schwabe – Hochschullehrer, Wissenschaftler und Unternehmer; Wissenschaftl. Z. Universität Dresden 46 (1997)5, 18-22