Ungarn: Rückblick dreißig Jahre nach der Grenzöffnung
Brigitte Böttcher
Der Zug am 3. Oktober 1989 von Berlin nach Dresden war überfüllt. Es lag eine knisternde Stimmung über dem Land! Mein Glück – ein Platz am Vierertisch im Großraumwagen! Ich sortierte lesend meine fachlichen Eindrücke des Physio-Seminars in Berlin!
Ungarn hatte im September ganz unauffällig den Zaun geöffnet, diese Ungeheuerlichkeit sprach sich leise herum! Die jungen Männer am Tisch redeten geheimnisvoll, wurden bald unbedachter! Ich vernahm Wortfetzen wie Ungarn, Grenze, Chancen ... Bald war ich sicher, sie wollten über Ungarn „abhauen“! Sie bemerkten mich kaum als Zuhörerin!
Ein junger Mann begab sich in den Gang, ich folgte – einem Einzelnen konnte ich meinen Verdacht mitteilen! Großes Erschrecken – aber vertrauensvoll bestätigte er die Fluchtabsichten! Gute Wünsche nach Ungarn und Vertrauen auf die ungarischen Menschen, die sich schon seit 1956 mit Mut für das eigene Volk auskannten, konnte ich mitgeben – selbst gehen wollte ich nie! Es war der letzte Zug in Richtung Grenze. Er wurde gestoppt, es spielten sich turbulente Szenen ab! Später meinte ich, ein Gesicht im westlichen Fernsehen wiedererkannt zu haben!
Schon 1967 erlebte ich bei einer Urlaubsfahrt nach Ungarn den ersten Blick von oben auf den weiten Balaton unter einem smaragdgrünen Himmel wie den Blick in die „Freiheit an sich“! Und man konnte mit den „Westbrüdern und Schwestern“ so ganz einfach am Strand reden! 1975 dann unser beruflich-fachlicher Austausch zur betrieblichen Gesundheitsförderung zwischen der Universität Leipzig und der Viskosefabrik Nyergesujfalu! Mit meinem Partner als klinischem Psychologen konnte ich als Physiotherapeutin viele Anregungen miterleben.
Unser Dolmetscher war der 83-jährige Ingenieur, Dr. Gabor Boday. Durch seine frühere Tätigkeit an der Bergakademie Freiberg – und vorzüglich Deutsch sprechend – klang es charmant und witzig, als er über Ungarn sagte, es sei modern geworden, wach und aufmerksam, weil es nun auf dem Budapester Hauptbahnhof eine Rolltreppe gibt mit dem Blick in die Weite und der Notwendigkeit, sich flink und aufmerksam vorwärts zu bewegen!
Wir lernten wunderbare Menschen kennen, offen und herzlich in den Gesprächen, stolz auf ihr Land, welches sie uns in Miskolc, Visegrad und Tokaji liebevoll vorstellten! Ein großartiges Erlebnis mit Verständnis für unser damals noch geteiltes Deutschland. Und es passte zur ungarischen Mentalität, dass sie dann am 10. September 1989 so ganz ohne großes Aufheben den ersten Schritt für unsere Freiheit ermöglichten!
Danke noch heute für dieses einmalige Zeichen!