Unser „Aquarium" – eine Reminiszenz
Das „Aquarium" war das Studentenwohnheim in Striesen, in der Schandauer Straße 76, für Generationen von Studenten der Lebensmittelpunkt während ihres Studiums. Es hatte seinen Namen wohl wegen seiner Fassade mit den vielen großen Fenstern bekommen. Für uns begann die Studienzeit in der Mommsenstraße, wo uns am 1. September 1956 Frau Wehle, für uns eine Institution, empfing und ins Wohnheim einwies.
Das Aquarium war damals ein Produktions-Geschossbau von Zeiss-lkon, ein 5-Geschosser, in dem die 1., 2. und 5. Etage für die Studenten freigeräumt worden waren. An der Nordfassade war der Eingang, hier befand sich die Pförtnerloge, wo Alfred Müller thronte, der seine Rente etwas aufbessern wollte und einen Apfelgeruch verbreitete, wie er bei Alkoholgenuss entsteht. Im Wohnheimbüro wies uns Frau Hofmann ein Zimmer zu, sie war eine strenge Matrone. Wie überall im Leben mussten wir uns auch hier im Heim erst hochdienen: Unser erstes Quartier war Zimmer 28 im Erdgeschoss, zwar auf der Südseite, mit Blick auf die Kriegsruinen in der Glashütter Straße, aber mit 16 Betten, beiderseits als Doppelstockbetten angeordnet. Da war nur noch Platz für einen halben Spind und einen Stuhl pro Person, sowie einige wenige Tische. In dieser Phase waren ja ohnehin noch die Grundlagenfächer dran, bei denen die kleinen Belege im Beyer-Bau in den Seminarräumen gemeinsam erarbeitet wurden.
Unter diesen Umständen hielten es viele nicht lange aus und suchten sich bald ein möbliertes Zimmer in der Altbausubstanz der Dresdner Peripherie, die vom Krieg verschont oder bereits notdürftig bewohnbar gemacht waren. Zwar individuell, teils mit Familienanschluss, aber auch mit dem Nachteil der Kohleofenfeuerung, der bescheidenen Sanitärmöglichkeiten wie gemeinsames Waschbecken und WC im Treppenhaus und u.U. der Ein- und Ausgangskontrolle. Wir dagegen hatten im Heim Duschräume und eine Gemeinschaftsküche je Etage. Und unser Alfred war für kleine Aufmerksamkeiten dankbar und drückte nachts und oder bei Damenbesuchen die Augen zu. Das Heim hatte auch den Vorteil, dass man bei älteren Semestern leicht fachliche Erfahrung, sprich: Belegrückenwinde und Prüfungstipps bekommen konnte.
„Muckefuck" = Malzkaffee gab es auch kostenlos, er wurde uns in großen blauen Emaille-Kannen zur Verfügung gestellt. Bohnenkaffee konnten wir uns sowieso nicht leisten. Die Lebensmittelgeschäfte hatten wir vorn an der Schandauer Straße, auch eine HO-Gaststätte, wo es das Glas Bier noch für 40 Pfennige (Ost) gab. Dazu wurde immer „eine Altenberger Runde gedreht". Die Miete betrug monatlich 10,- DM. Wir blieben daher dem Wohnheim treu und bemühten uns, sobald die Semesterbeginn-Welle abgeebbt war, in ein kleineres Zimmer umziehen zu können. Nach einem Jahr hatten wir es bis in die 39, in ein 8-Mann-Zimmer, geschafft, aber immer noch im Erdgeschoss, und nun nach der Nordseite, wo nie die Sonne hinkam, mit Blick auf das Produktionsgebäude von Rohtabak Dresden.
Hier erlebten wir den Geldumtausch am 13. Oktober 1957: Ein schlichter uralte Omnibus brachte das neue Geld, ohne großen Geleitschutz. Es waren eben noch sichere Zeiten. Nun hatten wir wenigstens so viel Platz, dass wir mit Tisch-Reißbrettern die Belege machen konnten. Im nächsten Jahr gelang uns dann der Sprung in die „vornehme 1. Etage", auf die Südseite in die 128, ein 6-Mann-Zimmer mit Ruinenblick, in dem wir Platz zum Arbeiten hatten und das wir mit „Kunst am Bau" verschönerten. Aber das hatte den Nachteil, dass nun die Fräsbänke von Zeiß direkt über uns waren, es wurde im 2-Schicht-System gearbeitet, das heißt werktags von 6 bis 22 Uhr. Abends war das noch eher hinzunehmen, aber morgens wurden wir dadurch viel zu früh geweckt. Wir waren es doch allmählich gewöhnt, möglichst lange zu schlafen, um uns nicht zum Berufsverkehr in den C-Bus am Pohlandplatz quetschen zu müssen, damals noch mit Hänger und Hänger-Schaffner („Bei fertig"). Die Vorlesungsräume waren uns am liebsten, bei denen die Eingänge hinten oben waren (Barkhausen-Bau, Mathe- und Physik-Hörsäle am Zelleschen Weg, nicht aber Raum 118 im Beyer-Bau, wo die Zuspätkommer am Professor vorbei mussten). Man musste nur wenigstens so rechtzeitig kommen, bevor die Tafel das erste Mal abgewischt wurde, um noch schnell alles abschreiben zu können. Denn damals wurde noch mit Kreide an die Tafel geschrieben und gezeichnet!
Inzwischen hatte ich mir auch vom Leistungsstip einen Mittelsuper „Undine II" zugelegt. Aber was nützte im „Tal der Ahnungslosen" der UKW-Teil schon, wenn RIAS Berlin vom Störsender Wilsdruff gestört wurde, wo er doch ohnehin nur in Streustrahlung über den Weißen Hirsch hinweg hereinkam. So blieb nur UKW Nord als mögliche Variante, aber da reichte für den Empfang selbst eine Richtantenne mit Direktor und Reflektor allein nicht aus. Im „Tal der Ahnungslosen" musste noch ein UKW-Verstärker dazwischen geschaltet werden. Außerdem konnte ich einen Antennen-Drehmotor in Halle erwerben, der über das UKW-Antennenband gesteuert werden konnten, so dass man die Antenne vom Apparat aus genau auf den Sender ausrichten konnte. Aber wo installieren?
Zum Glück gab es unseren Heimleiter Max Reiche. Er war zwar Genosse, und noch heute erinnern wir uns an seine Aufforderung über den Heimfunk: „Aufstehen, zur Wahl gehen. Zur Wahl gehen, vorher aber aufstehen". Aber er war auch Kumpel und Technik-Fan. So konnte ich ihn dafür begeistern, dass wir auf dem Dach des Wohnheimes die Antenne mit Motor installierten, und dann dröhnte, besonders bei gutem Wetter mit Überreichweite, UKW Nord vom Brocken her durchs Heim und aus den weit geöffneten Fenstern. Im Februar 1961 endlich gelang uns der ganz große Durchbruch: Wir zogen in die 422, ein 4-Mann-Zimmer im obersten Geschoss, auf der Südseite, mit durchgängigem Balkon.
Hier konnten wir uns nun in aller Ruhe auf den Diplomabschluss vorbereiten. Und wenn uns mal wieder der Teufel ritt, füllten wir Kondome mit Wasser und warfen sie nach unten auf die Glashütter Straße, als Wasserbomben den weiblichen Passanten vor die Füße. Zwischendurch, im April 1962, jedoch wurde der graue Lernalltag durch ein freudiges Ereignis unterbrochen: Unsere Mitstudenten von gegenüber, ein Wettquartett, hatten im Lotto eine riesige 5-stellige Summe gewonnen und gaben eine große Fete für die ganze Etage. Im Spätsommer 1962, nach einer ausgedehnten Tramper-Tour durch Ungarn als Abschluss der Studentenzeit, hieß es dann Abschied nehmen vom Aquarium, der Ernst des Berufslebens begann. Rückblickend kann ich sagen, dass wir „Aquarianer" eine gute Truppe waren und uns noch heute gern an die Zeit erinnern.
Im November 1962 haben wir uns alle noch einmal anlässlich eines Absolvententreffens im Aquarium getroffen, traditionsgemäß auf dem Tabak-Sportplatz Fußball gespielt und dann auch unserem Max Reiche Lebewohl gesagt. Mit Max habe ich auch noch später freundschaftlich brieflichen Kontakt gehalten, und so hat er mich Anfang der 80-er Jahre aus Bad Brückenau in Oberfranken gegrüßt, wohin er als Rentner gezogen war, nachdem er sein Parteibuch abgegeben und die Ausreise beantragt hatte. Dort durfte ich ihn allerdings nie besuchen ...