Meine Jahre vor dem Studium – Das Jahr 1956
Ich hatte einen Antrag auf Auszug aus dem Wohnheim gestellt. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend: Erstens gefiel mir die Kasernierung nicht und zweitens führte die Elblage des Heimes in Laubegast zu ständigen Mandelentzündungen bei mir, da stets feuchte Luft herrschte und die Ausdünstungen der Elbe noch verstärkend wirkten.
Da ich sehr zerklüftete Mandeln hatte, war ich weit mehr anfällig als andere. Der Antrag wurde mehrfach abgelehnt, mit ärztlicher Unterstützung konnte ich mich aber schließlich durchsetzen und wohnte ab 1. März wieder zu Hause in Großröhrsdorf. Zu Fasching wohnte ich aber noch in Dresden. Irgendwie haben wir „das Kalb ausgetrieben“, denn ich kam erst früh nach Hause und schwänzte die Schule. Das war natürlich aufgefallen. Die Sitten waren streng.
Am 25. Februar wurde der Kältenotstand verkündet, denn seit Ende Januar/Anfang Februar hatten wir teilweise bis zu -30°C, Eisgang auf der Elbe und ständig erhebliche Zugverspätungen. Wahrscheinlich waren inzwischen u.a. die Kohlevorräte so geschrumpft, dass man sich heizungsmäßig einschränken musste. Eine Woche später nahm man den Notstand bereits zurück, da plötzlich starkes Tauwetter eingetreten war. So etwas ereignete sich in der DDR immer wieder. Selbst das Mähdrescherwerk, ein volkswirtschaftlicher Schwerpunktbetrieb und mein späterer Arbeitgeber, litt noch Ende der 80er Jahre unter winterlichen Einschränkungen.
Am 22. März wurde „10 Jahre ABF“ begangen, jedoch nicht mit einer Feier, sondern mit einem Enttrümmerungseinsatz. Dies war jedoch nicht der einzige übers Jahr verstreut, sie dauerten in der Regel einen halben Tag.
Über Pfingsten unternahm ich mit meinem Freund eine Radtour nach West-Berlin, damals noch problemlos möglich, aber für ABF-Studenten nicht erwünscht, und man tat gut daran, das nicht publik werden zu lassen. Hierbei möchte ich zeigen, dass wir – trotz aller Querelen an der ABF loyal zum Staat DDR standen: Mein Freund hatte eine Freundin dort, ihre Eltern waren mit ihr vorher „abgehauen“. Bei einem Gespräch sagte der Vater sinngemäß: „Wenn Sie mit Studieren fertig sind, kommen Sie doch sicher zu uns herüber?“ Worauf wir sinngemäß antworteten: „Wenn wir in der DDR studiert haben, so wollen wir das Studium dort auch abarbeiten.“ Damit waren unser Aufenthalt dort und das Verhältnis meines Freundes zur Freundin umgehend beendet.
An der ABF blieb ich aber nach wie vor das Schwarze Schaf. Dazu trugen folgende Situationen bei: Irgendwie hatte ich mich wegen meiner Jahresabschlussbeurteilung beschwert. Es gab einen großen Streit, in dessen Ergebnis wegen meiner Frechheit aus Sicht des Klassendozenten Herrn Polhard (Chemie) ein Disziplinarverfahren gegen mich beantragt wurde. Da das aber erst im Oktober stattfand, erst einmal mehr zum studentischen Leben. Die letzten Unterrichtswochen im Juli hatten wir teilweise Unterricht im Freien, d. h. im Hof der ABF, da es sehr heiß war. Am 18. Juli war Zeugnisempfang, verbunden mit einer Buchprämie und einem Blumenstrauß. Trotz Antrag auf ein Disziplinarverfahren!
Eine Woche später ging’s für zwei Wochen ins GST-Ferienzeltlager nach Breege-Juliusruh/Rügen. Nach 15 Stunden Bahnfahrt, insgesamt ca. 18 Stunden unterwegs, waren wir endlich angekommen. Die Ankunft war gekennzeichnet von viel Dreck und keinerlei Organisation. Vormittags fand die vormilitärische Ausbildung statt und nachmittags hatte man freie Zeit fürs Badevergnügen.
Bereits im April hatte ich mir das lang ersehnte Motorrad gekauft. Eine RT 125/2, damals eine begehrte Maschine; man musste Beziehungen haben, um eine zu bekommen, aber fürs Fahren brauchte ich schließlich auch Geld. Daher arbeitete ich sofort nach der Rückkehr bis zum Studienbeginn am 10. September als Betriebsschlosser in der Tischfabrik Großröhrsdorf.
Dass am 14. September ganz plötzlich mein Vater starb, ist zwar eine persönliche Angelegenheit, spielt aber bei dem Disziplinarverfahren bzw. dessen Folgen eine Rolle. Dieses Verfahren fand am 8. Oktober statt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich dort nicht viel zu sagen hatte. Das Urteil stand wohl schon fest. Es lautete: „…enthält…einen schriftlichen Verweis. Gründe: Der Disziplinarausschuss sah aufgrund der Feststellungen in der Verhandlung, der aktenmäßigen Unterlagen und der eigenen Angaben des Beschuldigten als bewiesen an, dass die Studiendisziplin wiederholt verletzt wurde.“ Damit hätte ich leben können, aber der damit verbundene Entzug des Leistungsstipendiums von 80 DM traf mich doch schwer, denn es war ja ein Verlust von 12 x 80 = 960 DM im Jahr. Die FDJ-Gruppe hat zwar im folgenden Jahr mehrfach den Antrag gestellt, diesen Entzug aufzuheben bzw. wenigstens die Stufe 40 DM zu zahlen, doch die Anträge wurden abgelehnt. Aufgrund des Ablebens meines Vaters wurden mir jedoch einmalig 200 DM gewährt, so dass der Verlust noch 760 DM betrug. Bei einem Grundstipendium von 180 DM immer noch schmerzlich genug.
Aber manchmal scheint es so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit zu geben. Erstens hatte ich in den vorangegangenen zwei Jahren ca. 1500 DM „illegal“ dazuverdient. „Illegal“ deshalb, weil Ferienarbeit zu melden war und mit dem Stipendium verrechnet wurde. Ich hatte das aber – manchmal mit etwas Herzklopfen – nicht getan und den vollen Betrag kassiert. Und dann hatte ich fast mit dem Tage meiner „Verurteilung“ eine Gönnerin kennen gelernt und danach eine Zeit, die ich nicht mehr in meinem Leben missen möchte und die mir mehr wert war als der monetäre Verlust. Ich wollte mir aber trotzdem meine Verurteilung nicht gefallen lassen, wandte mich an alle möglichen Instanzen, einschließlich eines Briefes an Walter Ulbricht, so dass am 28. November eine nochmalige Verhandlung stattfand.
Am 15. Dezember fand unsere Gruppenweihnachtsfeier statt. Dort habe ich zum zweiten und letzten Male in meinem Leben gespürt, wie es ist, wenn man kurz vor einer Alkoholvergiftung steht. Auf dieser Feier ergab sich übrigens noch eine weitere Genugtuung für mich: Unser Klassendozent Herr Polhard erschien in Begleitung seiner Frau. Man hielt mir später vor, ich hätte mich mehr als erlaubt an die Frau „rangemacht“, es sei mehr als ein Flirt gewesen. Nun ja, wenn’s schon stimmt, aber da gehören immer zwei dazu und trotz meines Rausches kann ich mich erinnern, dass Frau Polhard wohl nicht so abgeneigt war.
Am 21. Dez. war die Abschlussveranstaltung in der Stadthalle und nach Weihnachten ging’s wieder ins Betriebsferienheim „Schäfermühle“ in Waldbärenburg zum Skifahren. Charakteristisch für die Versorgungssituation war die Tatsache, dass ich neun Geschäfte „abgeklappert“ habe, um eine Fahrradkette zu kaufen – erfolglos. Eine der ersten Fahrten mit dem neuen Motorrad führte nach Häslich/Kreis Kamenz zu Helmuth Kunath. Er hatte mit uns 1954 mit dem Studium begonnen, war aber schon abgegangen, da es ihm sehr schwer fiel. Er war etwa 10 Jahre älter und Soldat gewesen.
Noch eine Kuriosität mit dem neuen Motorrad. Bei der Prüfungsfahrt für die Fahrerlaubnis hatte ich schon den ersten Unfall mit Krankenhausfolge für den anderen. Ein Radfahrer hatte ein Stoppschild missachtet und mir die Vorfahrt genommen. Die Prüfung habe ich trotz Schocks bestanden, da es Fahrlehrer Höhne aus Pulsnitz verstand, mich zu beruhigen. Allerdings musste ich auf einem fremden Motorrad weiterfahren, denn die neue RT war auch etwas verbeult.