Das Resümee
Das Studium (ohne vorangegangene ABF) umfasste elf Semester, wovon das 1. Semester das so genannte Vorpraktikum war (in dem ich zum Doppelverdiener wurde – Stipendium und Entlohnung nach Leistungslohn im VEB RAFENA, das durfte damals nicht publik werden) und im 11. Semester nur noch die Diplomarbeit angefertigt wurde.
In den neun eigentlichen Lehrsemestern hatten wir 61 unterschiedliche Lehrfächer, wovon bis auf Russisch, Englisch und Sport alle als Vorlesungen zu werten sind. Elf Fächer waren fakultativ, die wir teils alle (z.B. Theorie der Raketenbewegung), teils nur ich (z.B. Werkzeugmaschinenkonstruktion) besuchten. Die Zeit für die Vorlesungen, Seminare und Übungen belief sich auf 23 (10. Semester) bis 41 (4. Semester) Wochenstunden. Der Durchschnitt liegt bei 34. Einschließlich des großen Beleges hatten wir 17 Belege anzufertigen, elf Klausuren, 21 Prüfungen und die Diplomprüfung mussten bestanden werden, bevor wir sagen konnten: ES IST GESCHAFFT!
Was ist an der Ausbildung zu kurz gekommen?
Zuerst alles, was mit der Führung von Menschen zu tun hat – wahrscheinlich heute in der Soziologie angesiedelt, aber damit hatten wir in der DDR nicht viel am Hut. Hier musste ich viel Lehrgeld bezahlen. Dann hatten wir zwar noch die Vorlesungen Organisation und Planung, Ökonomie des Maschinenbaus, Industrielle Fertigung und Arbeitsnormung, aber es stellte sich schnell heraus, dass das dort vermittelte Wissen viel zu gering war, um die komplizierten Prozesse in der Praxis zu begreifen. Ich hatte Nachhilfestunden bei einigen eingefuchsten Kollegen nötig, um nicht immer dumm dazustehen. Dafür bin ich ihnen noch heute dankbar. Wahrscheinlich wird das heute in der Betriebswirtschaftslehre geboten. Über Transport- und Lagerprozesse hatten wir kaum etwas gelernt, obwohl diese in einem Maschinenbaubetrieb große Bedeutung haben. Da war entsprechendes Selbststudium angesagt. Und, so lächerlich es klingen mag, auch die Verfahren der Oberflächenvorbehandlung und Farbgebung waren zu kurz gekommen. Auch hier halfen Selbststudium und hilfreiche Kollegen, die Wissenslücken zu beseitigen. Ich schätze, dass es wohl ein halbes Jahr, wenn nicht gar ein ganzes Jahr gedauert hat, bevor ich sagen konnte: Ich beherrsche den technologischen Prozess des Betriebes, für den ich als Haupttechnologe verantwortlich bin.
Unsere lieben Professoren und andere Hochschullehrer
An die meisten der 53 Professoren und anderen Hochschullehrer, die sich mehr oder weniger mit uns abmühten, kann ich mich noch erinnern. Wenn nachfolgend einige wenige davon herausgestellt werden, so soll das keine Wertung sein. Es ist die Häufigkeit, dass man mit ihnen zu tun hatte, besondere Vorkommnisse oder bestimmte, meist liebenswerte Eigenheiten, wodurch sie in meiner Erinnerung herausragten.
Da ist Dr. Vandersee, als Leiter des Bereiches Flugzeugfertigung zugleich unser „Chef“. Wie schon einmal erwähnt, ein liebenswerter älterer Herr, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Aufgrund seiner leisen und oftmals undeutlichen Stimme hatte er natürlich einen entsprechenden Spitznamen ̶ „Nuschlich“. Gleich daneben residierte Prof. Bredendick (Fertigung der Strahltriebwerke) mit seinem Hobby, der Nachformtechnik. Von den weiteren Flugzeugbauern – ehemals Junkers-Leute, die ab 1945 etwas ein Jahrzehnt in der SU gearbeitet hatten – sind mir insbesondere Chefkonstrukteur Freytag als Gastdozent aus dem VEB FWD und Prof. Wolf (Theorie der Raketenbewegung) in Erinnerung. Bei letzterem gelang es uns oft, ihn von der spröden Theorie abzubringen und ihn zum Erzählen über seine Arbeit in der SU zu bewegen, wobei diese Erzählungen mit den Worten „aber nicht weitersagen“ beendet wurden.
Bei den Grundlagenfächern beginne ich mit Prof. Recknagel (Experimentalphysik), der in seinen Vorlesungen und Prüfungen manchmal etwas zynisch war. Von ihm soll der Satz stammen: „Es gibt zwei große Physiker in Deutschland – der andere wohnt in München“. Wahr oder unwahr? Ich weiß es nicht genau.
Mit Prof. Landsberg (Mathematik) hatten wir einen Hochschullehrer, der den trockenen Stoff noch recht interessant darstellen konnte.
„Papa Lichtenheld“ (Getriebelehre) war vielleicht der leutseligste Professor in unserer Zeit. In den Übungen ging er selbst von Zeichentisch zu Zeichentisch, griff helfend ein und erklärte geduldig. Wenn bei seinen Vorlesungen im Zeuner-Bau sich alles auf den oberen Plätzen drängelte, unten aber noch Plätze frei waren, rief er mit lauter Stimme: „Kommen Sie doch herunter, meine Herren ...“. Von ihm wurde auch erzählt, dass er, als er von einem Studenten in einer Übung mit „Herr Lichtenheld“ angesprochen wurde, geantwortet haben soll: „Da können Sie gleich Willibald zu mir sagen.“
Mit Prof. Göldner (Mechanik, damals erst „Herr Göldner“) hatten wir das große Los gezogen. Er gestaltete seine Vorlesungen weitgehend seminaristisch, forderte zum Dazwischenfragen auf und erklärte sehr anschaulich. Das ging allerdings nur, weil wir in der Sektion Luftfahrtwesen ein kleines Auditorium waren (etwa 30 Mann). Diese Lehrmethode zahlte sich aber aus. Bei der Abschlussklausur waren wir, verglichen mit dem gleichen Jahrgang Maschinenbau, etwa einen Grad besser.
Zu Prof. Simon (Exp. Chemie, fakultativ) gingen wir nur, wenn die Vorlesungen über Sprengstoffe und flüssige Luft dran waren. Bei letzterer erfolgte ein Experiment mit einer Bockwurst, die er möglichst unbemerkt in einem Behälter mit flüssiger Luft verschwinden ließ. Aber wir waren vorbereitet; denn das jeweils vorangegangene Semester hatte das nachfolgende schon in dem Spaß eingeweiht.
Prof. Alfred Richter (Umformtechnik, spanende Formung), genannt „Späne-Richter“, kannte in den Prüfungen nicht gerade Erbarmen, wenn ein Student auf der falschen Fährte war. In seinen Vorlesungen fiel öfters der Satz „Ich und die WMW, wir haben ...“ (WMW = Vereinigung volkseigener Betriebe des Werkzeugmaschinen- und Werkzeugbaues).
Prof. Horst Berthold (Werkzeugmaschinen) war berüchtigt für das Tempo in seinen Vorlesungen. In den Prüfungen war er jedoch humaner. In seinen Vorlesungen fiel öfters das lt. Duden nicht existierende Wort „unschön“ (z.B. „ ... ist eine unschöne Lösung.“)
Hat sich das Studium auch persönlich gelohnt?
Zuerst einmal: Mag die DDR gewesen sein, wie sie will – dafür, dass sie mir eine umfassende Allgemeinbildung (ABF) und ein gediegenes Fachwissen ermöglichte, werde ich immer dankbar sein. Bei meinem Elternhaus (Vater frühzeitig verstorben, Mutter bereits Rentnerin, keine finanzielle Unterstützung möglich) würde mir jetzt ein Studium sicher sehr schwerfallen bzw. unmöglich sein. Von der Bildung allein kann man aber nicht leben.
Wie sieht's finanziell aus?
Mein Studium schwankte in all den acht Jahren und fünf Monaten (ABF eingerechnet) zwischen 180 (Grundstipendium) und 260 Mark/Monat (zwei Leistungsstufen). Im Durchschnitt waren es 212 Mark/Monat. Tatsächlich hatte ich aber 315 Mark/Monat zur Verfügung. Wie ist das zu erklären? Es ist das Ergebnis der vielen Arbeitsverhältnisse während des Studiums, davon die meisten illegal. Diese reichen von stundenweisem Einsatz (z.B. Kohlen auf dem Bahnhof entladen, von Hand – ein Knochenjob) bis zu einem halben Jahr hochbezahlter Werkzeugmachertätigkeit bei RAFENA (während des Vorpraktikums; einschließlich einiger Wochen zuvor und danach). Insgesamt habe ich 1 ¾ Jahr, d.h. 20 Prozent der nominellen Studienzeit, zum Geldverdienen genutzt. Das durfte aber damals auf keinen Fall publik werden. Stipendienabzug oder -entzug und ggf. sogar ein Disziplinarverfahren wären die Folge gewesen. Unter Berücksichtigung der damaligen Abzüge entspricht das einem Brutto von etwa 375 Mark und damit dem Lohn, den ich im August 1954 – bevor ich zur ABF ging – als Werkzeugmacher in der Lohngruppe 5 im Leistungslohn bei einer 48-Stunden-Woche verdient hatte. Da die Verdienste jedoch stiegen, musste natürlich über die Jahre ein erheblicher Rückstand eintreten. Da ich Gelegenheit hatte, die Verdienste im Betrieb zu verfolgen – das war damals noch nicht so eine Geheimniskrämerei wie jetzt – ergibt sich nach 8 ½ Jahren Studium folgendes Bild: Als Werkzeugmacher hätte ich in dieser Zeit 47.200 Mark verdient, als Student hatte ich 31.800 Mark in der Tasche, d.h. 67 Prozent. Es dauerte dann etwa sechs Jahre, bis der Rückstand aufgeholt war und die Gewinnphase begann. Dieser, für DDR-Verhältnisse vergleichsweise kurze Zeitraum ist meinem schnellen Aufstieg bei FORTSCHRITT zu verdanken. Der „Gewinn“ verringerte sich jedoch von Jahr zu Jahr, da die Lohn- und Gehaltspolitik sich so entwickelte, dass die Zuwächse in der Werkstatt (Arbeiter) deutlich höher waren als in den Büros (Angestellte). Dadurch – und aufgrund niedrigerer Besteuerung, von Schichtzuschlägen und ständigen sog. Zielprämien – verdiente gegen Ende der DDR ein Montageschlosser – wo nicht immer Facharbeiterqualifikation erforderlich war – netto etwa das gleiche wie ich. Am Ende eines Arbeitslebens (1991 mit 56 Jahren Vorruhestand) waren es – unter Berücksichtigung aller Nebenverdienste, die man als Ingenieur dann und wann hatte – zwischen 20 und 30 Prozent Gesamtmehrverdienst, die das Studium gebracht hat. Nicht viel, DDR-Verhältnissen angemessen, aber wenigstens kein Verlust. Die Wende brachte noch eine (späte) Aufbesserung. 1990 wurde mit der Übernahme des Tarifsystems aus der Alt-BRD (in Sachsen entsprechend des Flächentarifvertrages der IG Metall Bayern) und der Neueingruppierung die ingenieurtechnische Arbeit deutlich besser bewertet als in der DDR. Das galt übrigens auch für anderen Bereiche geistiger Arbeit. Leider konnte meine Generation aus Altersgründen nur noch kurze Zeit in den Genuss dieser deutlichen Aufbesserung kommen. Diese Zeit reichte im Allgemeinen jedoch aus, um ein gutes Altersübergangsgeld zu erhalten. Da auch nachträglich für die technische Intelligenz, die in der DDR gegenüber den anderen Bereichen der Intelligenz benachteiligt war, eine günstige Rentenregelung vorgenommen wurde, kann ich feststellen: Im letzten Lebensabschnitt hat sich das Studium für meine Generation noch einmal als vorteilhaft erwiesen. Der Zeitfaktor Da ist noch ein Punkt, der sich bei der Frage „Hat sich das Studium gelohnt?“ berücksichtigt werden muss – der Zeitfaktor. Ich habe entsprechend der Aufzeichnungen in meinem Tagebuch alle Arbeitstage (Montag bis Freitag voll, Sonnabend als halben Tag, insgesamt 2526 Tage) danach geordnet, was deren hauptsächlichster Inhalt war. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Studium 61,8 Prozent, bezahlte Arbeit 20, 75 Prozent, Urlaub und sonstige private Nutzung 15,75 Prozent, Krankheit 1,7 Prozent. (In meinem gesamten Arbeitsleben ergibt sich sogar nur ein Prozent, damit sind die fünf bis sechs Prozent, die wir zu DDR-Zeiten hatten und auch die vier Prozent, die jetzt aktuell sind, weit unterschritten.) Der Prozentsatz „Urlaub ...“ entspricht dabei 66 Wochen. Als Arbeiter hätte ich 16 Wochen gehabt (zwei Wochen Tarifurlaub /Jahr). Wird diese zusätzliche Freizeit mit dem Verdienst bewertet, den ich damals gehabt hätte – ich hätte ja arbeiten gehen können – so würden meine Brutto-Einnahmen von 375 aus 425 Mark/Monat steigen, der „Verlust“ am Ende des Studiums von 33 auf 24 Prozent sinken und die Aufholjagd nicht nach sechs, sondern nach knapp fünf Jahren beendet sein. Aber ich arbeitete nicht, sondern nutzte diese zusätzliche Freizeit auf andere Weise: (Auslands-) Reisen, Wandern, Bergsteigen, Radtouren, Zelten (das Wort „Camping“ war noch nicht üblich) u.ä. Dadurch habe ich in meiner Studienzeit deutlich mehr von der (Ost-) Welt gesehen als meine Altersgenossen, die im Betrieb geblieben waren. Gab die Ausbildung an der TUD ein gutes Fundament? Diese Frage hätte eigentlich an den Anfang meines Resümees gehört; denn bei aller Notwendigkeit des Pekunären – das Gefühl, etwas geleistet zu haben, ist eigentlich das Wichtigste im Leben. Wenngleich das Kombinat FORTSCHRITT nicht mehr besteht und seine Erzeugnisse langsam aussterben – ich glaube, in den drei Jahrzehnten meines Wirkens wesentlich zur Entwicklung mit beigetragen zu haben und damit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt gedient zu haben. Ich freue mich, wenn ich dann und wann etwas sehe, wo ich sagen kann: „Hier hatte ich auch meinen Anteil dran.“ Mit 23 Veröffentlichungen in der Fachpresse, eine Vielzahl derselben zu technischen Problemen in der Tagespresse, vielen Vorträgen und Lehrgängen im Rahmen der KdT, der Betriebsakademie und der URANIA glaube ich, auch meinen Teil zur Weiterbildung des ingenieurtechnischen Personals geleistet zu haben. Die Ausbildung an der TUD gab mir dazu solide Grundlagen. Auch mein gegenwärtiges Engagement beim Senior Experten Service (SES), wo ich schon mehrere Auslandseinsätze durchführen konnte, ist ohne die Ausbildung an der TUD, verbunden mit einem postgradualen Studium zum Fachübersetzer, nicht denkbar. Dadurch kann ich am Ende meines Lebens noch dazu beitragen, den Entwicklungsländern ehrenamtliche Hilfe zur Selbsthilfe (Motto des SES) zu geben und damit einen kleinen Beitrag zur Verringerung der Ungerechtigkeit auf dieser Welt leisten. Ein bisschen leid tut es mir um die Dissertation, die – wendebedingt – nur bis zum fertigen Manuskript gekommen ist. Darin wird der Mähdrescherbau in der DDR von Beginn an analysiert und es werden einige Gesetzmäßigkeiten herausgearbeitet, die zeitlos gültig sind, also auch in der Marktwirtschaft von Nutzen sein können.
Damit bin ich am Ende mit meinem Leben an der TUD bzw. was mir die TUD für mein weiteres Leben gegeben hat.