19.04.2023
Die TU Dresden erforscht ihre Geschichte
Ein Essay von Dr. Christine Ludl und Dr. Hagen Schönrich. Seit Januar 2023 leiten sie als wissenschaftliche Koordinator:innen das Forschungsprojekt und Graduiertenkolleg „Die Technische Hochschule Dresden im 20. Jahrhundert“.
Im Mai 1828 wurde die Königlich-Technische Bildungsanstalt zu Dresden gegründet. Von der Brühlschen Terrasse aus – hier waren der erste Hörsaal und zwei Seminarräume in einem kleinen Gartenpavillon untergebracht – entfaltete sich die fast 200-jährige Geschichte der Technischen Universität Dresden. Im privaten wie im öffentlichen Raum bieten Geburtstage und Jubiläen traditionell die Gelegenheit einer Rückschau auf das „große Ganze“, auf das bisher Erreichte, aber auch auf die schweren Zeiten und kritischen Momente. Zahlreiche Hochschulen und Universitäten nutzten in den letzten Jahrzehnten ihre Jahrestage zur intensiven Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit abseits von „klassischen“, vorwiegend auf das Positive konzentrierten, Jubiläumsschriften. Die TU Dresden zeigte zu ihrem 175-jährigen Bestehen im Jahr 2003 mit einer umfassenden dreibändigen Geschichte selbst den Weg hin zu einer kritischen Hochschulgeschichte auf. Seitdem verschob sich der Fokus weiter auf die konzentrierte Aufarbeitung vor allem der nationalsozialistischen Vergangenheit. Und so steht die TU Dresden zu ihrem 200. Geburtstag erneut vor der Aufgabe, sich intensiv und ohne Einschränkungen mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.
Unter der Schirmherrschaft des Prorektorats Universitätskultur beschäftigen sich dafür seit über zwei Jahren mehrere Arbeitsgruppen, bestehend aus Professor:innen des Instituts für Geschichte und Vertreter:innen des Universitätsarchives, der Kustodie sowie der SLUB Dresden mit dem Thema. Die Arbeitsgruppen haben ein ausführliches Konzeptpapier verfasst und werden dieses mit einem international besetzten, wissenschaftlichen Beirat diskutieren. Darauf aufbauend wird im Laufe des Jahres ein Graduiertenkolleg seine Arbeit aufnehmen: Bis zu zehn Doktorand:innen forschen dann in Fallstudien zu der Rolle von Personen, Disziplinen und Einrichtungen der TH Dresden und leisten einen Beitrag zum besseren Verständnis der vielschichtigen Verschränkungen von Hochschule, Politik und Gesellschaft zwischen Weimarer Republik, NS-Diktatur und DDR.
Das Projekt untersucht dafür die Produktion, Anwendung und Verbreitung ebenso wie die Ausgrenzung und das Vergessen von Wissen. Es fragt hier insbesondere nach den Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlicher Praxis und den Strukturen von Macht und Herrschaft in Politik, Wirtschaft und Kultur. Das Projekt stellt die zentrale Frage, inwieweit sich Forschende, Lehrende, Studierende und Verwaltungspersonal der TH Dresden den politischen und wirtschaftlichen Zielen des Nationalsozialismus unterordneten und anpassten, inwieweit sie diese für ihre eigenen Interessen nutzten oder versuchten, sich dem Regime zu widersetzen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem nationalsozialistischen Deutschland, bezieht jedoch Entwicklungen seit den frühen 1920er-Jahren und Nachwirkungen bis in die späten 1960er-Jahre ausdrücklich mit ein. Welche Kontinuitäten, Brüche und Veränderungen lassen sich über diesen Zeitraum feststellen?
Drei Bereiche gliedern das Projekt: Der Arbeitsbereich „Wissensnetzwerke“ analysiert personelle Verbindungen zwischen Hochschule, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die die Produktion, Verwendung und Verbreitung von Wissen ermöglicht, beeinflusst oder verhindert haben. Das Projekt nutzt hier Methoden der Digital Humanities, um anhand der Lebens- und Karrierewege von Hochschulangehörigen sowie der Verbreitung und Rezeption von Forschungsthemen die Rolle der TH Dresden in nationalen und internationalen wissenschaftlichen Netzwerken und Debatten zu bestimmen. Die Projekte der Arbeitsgruppe „Wissensanwendungen“ untersuchen, wie an der TH Dresden produziertes Wissen im Nationalsozialismus verwendet wurde. Die Gründung und Entwicklung von Technischen Hochschulen in Deutschland hängt eng mit der Nachfrage von Staat, Wirtschaft und Militär nach direkt für sie verwertbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammen. Fallstudien, z. B. zur Chemie oder zum Kraftfahrwesen werden die Entwicklung und Anwendung von rüstungs- und kriegsrelevantem Wissen erforschen und der Frage nachgehen, inwieweit sie während des Nationalsozialismus zu Ausgrenzung, Krieg und Vernichtung beigetragen haben. Gleichzeitig nimmt das Projekt Fächer in den Blick, die auf den ersten Blick nur indirekt verwertbares Wissen produzierten und die die Forschung deshalb lange vernachlässigt hat. In Dresden gilt dies zum Beispiel für die Lehrerbildung und ihren Beitrag zu einer nationalsozialistischen Bildungspolitik. Der Arbeitsbereich „Wissensorte“ erforscht die Funktion und Bedeutung konkreter Orte bei der Produktion und Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bibliotheken, Archive, Sammlungen und Museen strukturierten Wissen und regelten den Zugang – und dies nicht nur für die Forschenden, sondern insbesondere auch für die Dresdner Stadtgesellschaft. Gleichzeitig waren populärwissenschaftliche Vorträge und Veröffentlichungen auch Orte der Neuverhandlung von Wissen.
Die Dissertationen versprechen neue und erkenntnisreiche Schlaglichter auf die Geschichte der TH Dresden. Im Laufe der Projektphase werden mit den gewonnenen Erkenntnissen auch kontroverse Themen diskutiert, wie beispielsweise die Namensgebung von Gebäuden und Ehrungen. Das Projekt stellt die schwierige Frage nach der Verantwortung von Wissenschaft und Wissenschaftler:innen, nach den widerspruchsreichen und immer wieder neu zu hinterfragenden Positionierungen in einem Geflecht verschiedenster Interessen und unter wechselnden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wie gehen wir heute als Angehörige der TU Dresden, aber auch als Bürger:innen der Stadt Dresden, mit dieser Verantwortung um? Das Graduiertenkolleg wird seine Ergebnisse deshalb nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch – unterstützt durch die Kolleg:innen des Dezernats Universitätskultur – in verschiedenen erinnerungspolitischen Aktivitäten, in öffentlichen Vorträgen, Ausstellungen, einer Homepage und in den Social-Media-Kanälen präsentieren und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen.