Der Mensch will immer noch blättern
In diesem Jahr besteht das Universitätsarchiv sechs Jahrzehnte. Mit Wirkung vom 1. Mai 1952 wurde hier die erste hauptamtliche Mitarbeiterin eingestellt und damit das Hochschularchiv der TH Dresden ins Leben gerufen. Von Anfang an sollte das Archiv, dessen Gründungakt sich auf eine zentrale Anordnung aus dem Jahre 1951 stützte, sowohl der Verwaltung als auch der Wissenschaft dienen. In einer losen Artikelfolge wird das Universitätsjournal in kommenden Ausgaben aus dem Universitätsarchiv berichten. Am 29. November 2012 richtet das Archiv eine Arbeitstagung zu Potenzialen, Kooperationen und Grenzen der Universitätsarchive aus.
Wenn diese Zeilen erscheinen, ist es bereits passiert: Leise hat das Langzeitgedächtnis der Universität seinen Geburtstag gefeiert: Am 1. Mai 2012 wurde das Universitätsarchiv runde 60 Jahre alt. Ob das ein Grund ist, mit der Archivierung der eigenen Geschichte zu beginnen? Dr. Matthias Lienert, seit 1986 Direktor des Universitätsarchivs, schmunzelt. „Die Akten zu unserer Geschichte umfassen schon mehr als drei laufende Meter.“
Erste Ansätze für ein Archiv finden sich bereits im Jahr 1855. Damals begann ein sogenannter „Expedient“, der dem Direktor der Polytechnischen Schule unterstellt war, unter anderem Studentenakten für die Verwaltung zu sammeln. Eine wissenschaftliche Auswertung oder gar öffentliche Benutzung der Unterlagen war jedoch nicht vorgesehen. Auch in der Folgezeit wurden wichtige Akten zwar gesammelt und aufbewahrt, aber nicht erschlossen. Zu den Papierbergen der Technischen Hochschule gesellten sich 1929 die der Forstlichen Hochschule Tharandt. Bei den Luftangriffen auf Dresden 1945 verbrannten im Hauptgebäude am Bismarckplatz unter anderem zahlreiche Studentenakten – Verluste, die bis heute nachwirken. Unmittelbarer Anlass zur Archivgründung war das jedoch nicht. Erst sechs Jahre später kam Bewegung in die Archivfrage: Am 26. Februar 1951 erließ das Ministerium des Innern die „Anordnung zur Errichtung von Verwaltungsarchiven.“ In den Archiven sollten die Akten gesammelt werden, die im laufenden Betrieb einer staatlichen Verwaltungsstelle nicht mehr benötigt wurden. Ziel war es, die Akten zu sichern und schließlich nutzbar zu machen. Am 1. Mai 1952 nahm Elisabeth Handmann ihre Arbeit als Archivarin der TH Dresden auf. Die gelernte Stenotypistin hatte sich zuvor unter anderem mit der Dokumentation der Technikgeschichte am Institut für Geschichte der Technik und soziale Arbeitswissenschaften beschäftigt. Nun baute sie akribisch das Hochschularchiv auf, sichtete und registrierte erhaltene TH-Akten vor 1945 und begann parallel mit der Archivierung aktueller Studenten-, Graduierten und Verwaltungsakten.
Zunächst war das Archiv im Beyer-Bau und im heutigen Gebäude der Studienberatung auf der Mommsenstraße untergebracht. Schon Ende 1953 bezog es die Räume des neuerrichteten Rektorats auf der Mommsenstraße, dem jetzigen Günther-Landgraf-Bau. Bis heute ist der Standort gleichgeblieben, die Leitung wechselte. Im Jahr 1961 wurde Karl-Heinz Adolph neuer Archivdirektor und blieb es die nächsten 25 Jahre. Dr. Matthias Lienert folgte 1986 und bekleidet das Amt nun im 26. Jahr. Ereignisreich waren die ersten Jahre seiner Direktorenzeit. Bereits 1986 ging die Ingenieurhochschule Dresden in der TU Dresden auf – mit sämtlichen Archivakten. Nach der Wende folgten 1992 die Hochschule für Verkehrswesen und die Pädagogische Hochschule samt Archivmaterial, im folgenden Jahr die Medizinische Akademie „Carl Gustav Carus“. Ab 1992 war das Universitätsarchiv zudem mit der Archivabwicklung der 1991 geschlossenen Hochschule für Landwirtschaftliches Genossenschaftswesen Meißen betraut worden. „Das gesamte Archivmaterial musste am Ende mit drei LKW abtransportiert werden“, erinnert sich Dr. Matthias Lienert; es lagert heute im Bundesarchiv.
Drei LKW müssten heute einige Male fahren, um die Archivalien des Universitätsarchivs zu fassen. Stapelt man sämtliche archivierte Akten der TUD übereinander, könnte man fast auf den Gipfel des Matterhorns springen: Mehr als 4000 laufende Meter Akten gehören zum Gesamtarchivbestand und werden in der Archivaußenstelle der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus und des Universitätsklinikums sowie im Gebäudekomplex Günther-Landgraf-Bau und in den Außenlagern Rektorat und Bürozentrum Falkenbrunnen gelagert. „Die langen Wege zu den Außenlagern sind keine befriedigende Situation“, räumt Dr. Matthias Lienert ein. Wo es an Platz mangelt, müssen jedoch Kompromisse hingenommen werden. „Ein Archivneubau steht derzeit nicht zur Diskussion.“
Doch was wird eigentlich archiviert? Einerseits alles, was rechtliche Relevanz hat: Verwaltungsakten, Personalakten, Studentenakten… das Gesetz regelt, was behalten werden muss. Einige Dokumente werden nach einer vorgeschriebenen Liegedauer vernichtet. SHK- und WHK-Antr.ge müssen zum Beispiel zehn Jahre aufgehoben werden, auch Dienstreiseanträge sind nichts für die Ewigkeit. Daneben werden wissenschaftlich und historisch bedeutsame Unterlagen archiviert. Hier ist das Bewertungsgeschick der Archivare und der Verantwortlichen in den Instituten gefragt: „Es ist immer eine Gratwanderung, was aufgehoben wird. Nur so, wie wir heute archivieren, kann morgen über uns berichtet werden“, stellt Dr. Matthias Lienert fest, und ergänzt: „Ginge es nach historisch interessierten Nutzern, müsste man alles aufheben. Realistisch sind etwa drei bis vier Prozent des anfallenden Schriftguts.“ Dazu kommen Nach- und Vorlässe unter anderem von Professoren der TUD, aber auch rund 300 000 Fotografien, Negative, Dias, Zeichnungen und Pläne zur Geschichte der Universität sowie Tonbänder und Filme. Selbst einige Amtsketten sind Teil des Universitätsarchivbestands, jedoch die Ausnahme: Gegenständliche Erinnerungsstücke werden in der Regel von der Kustodie der TU Dresden aufbewahrt. Die .ältesten Archivalien stammen aus dem späten 18. Jahrhundert und gehören dem übernommenen Bestand der Tharandter Schule an. Rund 15 Prozent des Archivbestandes umfassen Akten aus der Zeit vor 1945.
Die meisten Medien können nach Anmeldung eingesehen werden. Etwa 250 Besucher nutzen die Bestände des Universitätsarchivs im Jahr. Drei Arbeitsplätze stehen für die Auswertung von Schriftstücken vor Ort sowohl im Günther-Landgraf-Bau als auch im Archiv der Medizinischen Fakultät zur Verfügung. Neben Fachwissenschaftlern, Historikern, Studenten, Schülern und Professoren der Universität trifft man hier auch auf TUD-Absolventen und Familienforscher. Besonderen Zulauf erlebt das Archiv, wenn Jubiläen bevorstehen, sei es ein Universitätsgeburtstag, ein Institutsjubiläum oder der runde Geburtstag eines Wissenschaftlers oder verehrten Hochschullehrers. Zum Besucher- kommt ein reger Post- und E-Mail-Verkehr. Etwa 25 000 Anfragen hat das Universitätsarchiv in den letzten 15 Jahren beantwortet. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass Arbeitgeber im Archiv anfragen, ob ein potenzieller neuer Mitarbeiter tatsächlich das studiert habe, was in der Bewerbung steht. „Oftmals trauen sie dem Originalzeugnis des ehemaligen Studenten nicht. Die archivierten Studentenakten sind letztlich der einzige Rechtsnachweis, dass jemand studiert hat“, gibt Dr. Matthias Lienert zu bedenken. Auskunft erteilt das Archiv mit Einwilligung des Betroffenen. Die Auskunftspflicht hat jedoch ihre Grenzen: Personenbezogene Akten müssen bis zehn Jahre nach dem Ableben der Person bzw. bis 30 Jahre nach Ausfertigung des Schriftstücks im Archiv unter Verschluss gehalten werden – au.er DDR-Schriftgut. Anfragende, die in den Studentenakten des Universitätsarchivs Vaterschaftssuche betreiben wollen, brauchen dafür schon eine richterliche Anordnung.
Das Archiv stellt nicht nur Unterlagen nach Anfrage für Einzelnutzer zur Verfügung. Eine rege Publikationstätigkeit erschließt ganze Themenkomplexe für interessierte Leser. „Von Dresden in die Welt“ heißt eine Reihe, die die Karriere von Promovenden der Universität weiter verfolgt. Band 3 ist derzeit in Arbeit, eine Publikation zu Promovenden bis 1945 geplant. Ein großes Projekt war der von Dorit Petschel bearbeitete Band „Professoren der TU Dresden 1828 – 2003“, der sämtliche Professoren der TUD und ihrer Vorgängereinrichtungen biografisch erfasst hat. Zurzeit ist eine Erweiterung des Katalogs um die Neu-Professoren seit 2003 angedacht. Auch unbequeme Aspekte der TUD-Vergangenheit werden angegangen: .Zwischen Widerstand und Repression. widmete sich 2011 studentischem Widerstand an der THD/TUD zwischen 1946 und 1989 und den oftmals unverhältnismäßigen juristischen Folgen. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Dresdner Studentenprozess von 1959. Der Sammelband „Braune Karrieren: Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus“ erschien Anfang 2012 und setzte sich in zwei Archiv-Beitragen auch mit TH-Angehörigen auseinander.
Es wird jedoch nicht nur klassisch publiziert. Das Archiv ist in die Öffentlichkeitsarbeit der Universität eingebunden, erarbeitet Ausstellungen und bildet selbst aus. Archivreferendare, Verwaltungsazubis und Praktikanten können hier mehrere Wochen oder gar Monate die praktischen Seiten des Archivalltags kennenlernen. Dazu gehören auch Internet-Arbeiten, so werden unter anderem Online-Findbücher angelegt. Teile des Nachlasses von Gustav Adolf Zeuner sind digitalisiert, es liegen Professorenbildnisse online vor sowie Teile des Bildnachlasses von DDR-Fotograf Heinz Woost. Eine kontinuierliche und umfassende Digitalisierung von Archivmaterial ist jedoch kosten- und kapazitätsabhängig und nicht immer sinnvoll: Selbst digitalisierte Akten müssen derzeit weiterhin für die Dauer der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist in Papierform gelagert werden. So wächst das Papierarchiv trotz moderner Speichermedien weiter kontinuierlich an – auch im Sinne der Nutzer, wie Dr. Matthias Lienert feststellt, denn: „Der Mensch will immer noch blättern.“
Steffi Eckold