Madonnen-Lilie: Makellosigkeit
Das Verbreitungsgebiet der Madonnen-Lilie (Lilium candidum L.) reicht von Griechenland bis nach Syrien. In Israel wächst sie nur an wenigen Stellen im Norden des Landes. Im Sommer treibt die Zwiebelpflanze an einem bis 1,5 m hohen Spross große, duftende, rein weiße Blüten. Viele Kulturen im östlichen Mittelmeerraum sahen in ihr die schönste aller Blumen.
Im Christentum erlangte die Lilie wohl erst durch die Begegnung mit der antiken griechischen Kultur Bedeutung. Wo hebräische Bibeltexte von schoschan (= Lotus) sprechen, findet man in griechischen Übersetzungen oft das Wort krinon (= Lilie). Die Übersetzer haben den Text den regionalen Gegebenheiten angepasst: In Griechenland war der Lotus fremd, die Lilienblüte besaß dagegen hohen Symbolwert als Inbegriff für Ebenmaß und Harmonie.
Die „Lilien des Feldes“ im Neuen Testament strahlen die umfassende Fürsorge Gottes aus: „Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. Wenn aber Gott schon das Gras so prächtig kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen ins Feuer geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen!“ (Mt 6,28-30).
Im Vergleich von menschlicher Pracht und überreicher Schönheit der wild wachsenden Natur geht es nicht darum, von den Blumen das Nichtstun zu lernen, sondern darum, die Grundlage ihres Nichtstuns zu erkennen: die verlässliche Fürsorge Gottes. Im übertragenen Sinne verkörpern die Lilien so auch die Vollkommenheit der Schöpfung, der es an nichts fehlt.
Spätere christliche Traditionen deuten die weiße Blüte der Madonnen-Lilie als Symbol für Unschuld und Reinheit.Man sah in ihr ein Sinnbild Christi und der Märtyrer, „denn wo Märtyrerblut fließt, da ist die erhabene, makellose, schuldlose Blume.“ (Ambrosius, Lukaskommentar). Sie ist als Paradiesblume Lohn für die guten Werke (Cyprian von Karthago).
Im Spätmittelalter gewinnt die weiße Lilie als Attribut der Keuschheit Marias an Bedeutung. Auslegungen der Mystiker setzen Maria mit der Braut des alttestamentlichen Hoheliedes gleich: Sie ist die „Lilie der Täler“, „eine Lilie unter Disteln“ (Hld 2,1f). Noch heute besingt ein Kirchenlied Maria als „Lilie ohne gleichen“.
Auf Darstellungen des Jüngsten Gerichts steht die Madonnen-Lilie als Zeichen der Gnade Gottes neben dem Schwert als Zeichen des Zorns. Beide gehen vom Mund des Weltrichters aus.
Text der Informationstafel im Botanischen Garten, © Professur für Biblische Theologie (katholisch) und Dr. Barbara Ditsch