Dresdner Stahlbaufachtagung 2023
Unter der Überschrift „Stahl- und Verbundbau – Neues aus Forschung, Normung und Praxis“ fand am 14. März die 15. Dresdener Stahlbaufachtagung im Heinz-Schönfeld-Hörsaal der TU Dresden statt. Den Teilnehmenden wurden Einblicke in verschiedene Themen des Stahlbaus durch ausgewiesene Experten aus Deutschland und Österreich gegeben.
Die kurzweiligen Fachvorträge thematisierten die Entwicklung einer Orthoverbundfahrbahnplatte für Straßenbrücken, den praktischen Umgang mit Nichtkonformitäten, das Schweißen unter Betriebsbeanspruchung und die Bemessung druckbeanspruchter Winkelprofile. Zudem wurden Einblicke in den Normentwurf prEN 1993-1-9 sowie die zweite Generation des Eurocodes 4 vorgestellt. Abgerundet wurde das Programm durch Vorträge zur ganzheitlichen Bewertung verschiedener Bauweisen im Sinne der Nachhaltigkeit und dem Spannungsfeld zwischen der Planung und Ausführung am Beispiel von Großbrücken in Deutschland und Österreich. Organisiert wurde die Veranstaltung durch das Institut für Stahl- und Holzbau der Technischen Universität Dresden und die Bauakademie Sachsen. Die Tagung wurde unterstützt von bauforumstahl, der FOSTA, der Ingenieur- und der Architektenkammer Sachsen, dem Verband Beratender Ingenieure (VBI), dem Verlag Ernst & Sohn und der Baukammer Berlin. Herr Dr. Gregor Nüsse von der FOSTA - Forschungsvereinigung Stahlanwendung e. V. - moderierte sachkundig die Fachtagung.
Die Veranstaltung wurde von Herrn Univ.-Prof. Dr.-Ing. Richard Stroetmann mit einer Begrüßung aller Teilnehmer und Dankesworten an die Referenten, die allesamt nach Dresden angereist waren, eröffnet.
Anschließend sprach Herr Dipl.-Ing. Reiner Temme, Vizepräsident des Deutschen Stahlbauverbandes (DSTV) sowie Geschäftsführer der Temme Stahl- und Industriebau GmbH über die aktuellen Herausforderungen für die Stahlbauindustrie aufgrund der geopolitischen Lage, der vergangenen Jahre mit Corona und des Klimawandels. Dabei betonte er die Folgen der Materialverteuerung infolge der Corona-Krise sowie des Krieges in der Ukraine. Ein weiteres Kernthema war die Nachhaltigkeit im Bauwesen und die damit verbundenen verpflichtenden Nachweise der Betriebe. Der Stahlbau erlaubt ressourcenschonendes Bauen durch die Möglichkeit des Recyclings und einer Mehrfachnutzung. Durch für die Zukunft geplante CO2-freie Stahlerzeugung können zudem klimafreundliche Konstruktionen realisiert werden. Der Stahlbau ermöglicht nachhaltiges Bauen und ist bereits heute zukunftsweisend in den technischen Möglichkeiten, der ressourcenschonenden Verwendung und der Wiederverwendung im Bauwerk, als Bauelement oder Baustoff.
Der anschließende Eröffnungsvortrag der Tagung wurde von Herrn Univ.-Prof. Dr. Richard Stroetmann gehalten. Das Thema seines Vortrages war die Entwicklung von Orthoverbundfahrbahnplatten für Straßenbrücken. Den Einstieg des Vortrags bildete ein Vergleich der Vor- und Nachteile von Überbauten aus Stahl, Beton und konventioneller Stahlverbundbauweise. Er ging auf vermehrt auftretende Ermüdungsschäden an orthotropen Fahrbahnplatten ein und beschrieb die Orthoverbundfahrbahnplatte, die Vorteile der verschiedenen Bauweisen vereint. Anschließend stellte Prof. Stroetmann das FOSTA-Forschungsvorhaben P 1265 „Wirtschaftliche und dauerhafte Orthoverbundfahrbahnplatten mit Dübelleisten für Straßenbrücken“, die durchgeführten Versuche und Ergebnisse zusammengefasst vor. Abschließend ging er auf das Pilotprojekt BW399c im Zuge der BAB A3 ein, bei dem die neu entwickelte Bauweise eingesetzt wird. Die Planung dieses Überführungsbauwerks erfolgte durch die Ingenieurgesellschaft Leonhardt, Andrä und Partner. Neben dem Einsatz von Dübelleisten zur Herstellung des Orthoverbundes gehören die Verwendung von Carbonfaserbewehrung und höherfester Normalbeton ohne eine darüber liegende Asphaltschicht zu den Besonderheiten des Bauvorhabens.
Den zweiten Fachvortrag hielt Herr Univ.-Prof. Dr.-Ing. Max Spannaus von der Universität der Bundeswehr München zum praktischen Umgang mit Nichtkonformitäten in Schweißnähten. Für Schweißnähte gibt es eine Vielzahl von normrechtlich geregelten Anforderungen an die betrieblichen Abläufe, die Ausgangsprodukte, an anzufertigende Dokumente und an das Personal. Die stichprobenartigen zerstörungsfreien Werkstoffprüfungen bewerten hingegen die Qualität der Schweißnaht nur anhand des Vorhandenseins von Unregelmäßigkeiten und Toleranzen. Der sichtbare Teil der Schweißnaht nimmt heutzutage einen zu hohen Stellenwert ein und die allgemeinen Anforderungen geraten hierbei in den Hintergrund. Prof. Spannaus betonte, dass weder die Ausführungsnormen noch die Bemessungsnormen von einem fehlerfreien Bauteil ausgehen, sodass die Qualität nicht geprüft, sondern erzeugt werden muss.
Der zweite Vortragsblock wurde von Herrn Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Harald Unterweger von der Technischen Universität Graz mit einem zusammenfassenden Überblick zu den seit 2017 laufenden Forschungsprojekten zur Drucktragfähigkeit von Winkelprofilen mit baupraktischen Anschlüssen eröffnet. Dem hieraus entwickelten Bemessungsmodell liegt ein eindimensionales Stabmodell des Winkelprofils mit Exzentrizitäten und federelastischen Einspannungen zur Wiedergabe der Anschlusssteifigkeit der weiterführenden Konstruktion an beiden Stabenden zugrunde. Die mit dem Bemessungsmodell bestimmten Tragfähigkeiten und der Vergleich mit den Ergebnissen umfangreicher Laborversuche und FE-Berechnungen zeigen die hohe Qualität. Mit den aktuellen Berechnungsansätzen nach DIN EN 1993-1-1, Anhang BB werden sowohl konservative Ergebnisse im Bereich großer Stabschlankheiten erzielt als auch die Tragfähigkeiten im Bereich kleiner Stabschlankheiten überschätzt. Abschließend erläuterte Prof. Unterweger die praktische Anwendung des neuen Bemessungsmodells.
Der Vortrag von Herrn Univ.-Prof. Dr.-Ing. Mathias Euler gab eine Übersicht zum Normentwurf prEN 1993-1-9 und den Hintergründen hierzu. Als Einstieg stellte er die Entwicklung der ersten Generation der Eurocodes, die Ansprüche an die neuen Eurocodes sowie den aktuelle Bearbeitungsstand von Teil 1-9 vor. Vor allem die Verbesserung der Anwenderfreundlichkeit durch klarere Definitionen und Begriffe sowie die Gliederung und zeichnerischen Darstellungen in den Kerbfalltabellen stehen im Vordergrund. Der Schwerpunkt der normativen Regeln im Hauptteil liegt beim „klassischen“ Ermüdungsnachweis auf Basis des Nennspannungskonzeptes mit schadensäquivalenten Spannungsschwingbreiten. Andere Bemessungskonzepte, wie das Struktur- und Kerbspannungskonzept, werden in den normativen Anhängen A, B und C behandelt. Zur Bestimmung der Ermüdungsfestigkeiten im Abschnitt 8 wurden die Wöhlerlinien teilweise in Bezug auf die Kerbfalleinstufungen und dem Verlauf (Neigungsmaße m) modifiziert. Zudem wird der neue Teil 1-9 erstmals eine eigene Wöhlerlinienschar für geschweißte Hohlprofilknoten sowie eine Kerbfalleinstufung für durchgeschweißte Längsnähte mit Schubspannungen enthalten. Eine ausführliche Darstellung und Kommentierung des Normenentwurfs enthält der Beitrag im Stahlbaukalender 2023.
Mit seinem Vortrag zum Thema „Verbundmittel nach der zweiten Generation des Eurocode 4“ eröffnete Herr Univ.-Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Kurz von der Technischen Universität Kaiserslautern den dritten Vortragsblock. Nach einer kurzen Erläuterung der aktuellen Inhalte des Teils 1-1 von Eurocode 4 folgte die Vorstellung der Ziele bei der Überarbeitung des Normenteils und die Auswirkungen bei den Verbundmitteln. Die Anforderungen an die Duktilität werden konkretisiert und durch die Einführung von Duktilitätskategorien von D0 bis D3 differenziert. Des Weiteren erfolgt eine genauere Berechnung des Mindestverdübelungsgrades und die Berücksichtigung neuartiger Verbundmittel. Unverändert werden im Hauptteil der prEN 1994-1-1 konkrete Bemessungsformeln für Kopfbolzendübel enthalten sein. Zur Regelung von Verbunddübelleisten wurde die CEN/TS 1994-1-102 entworfen. Dort sind wesentliche Anwendungsregeln und die zu führenden Nachweise enthalten. Wegen der unterschiedlichen Regelungstiefen und der Möglichkeit, zukünftig neue Dübelformen aufnehmen zu können, werden die spezifischen Dübelgeometrien in den Anhängen behandelt.
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Jonas Hensel von der Technischen Universität Chemnitz ging in seinem Vortrag auf Möglichkeiten zum Schweißen unter Betriebsbeanspruchungen ein. Dabei wählte er als Einstieg die aktuelle Situation von Infrastrukturbauwerken und Schäden durch den Betrieb. Prof. Hensel betonte, dass lediglich als Optionen die Sperrung und die Durchführung der Schweißarbeiten am ruhenden Bauwerk oder eine Teilsperrung und das Schweißen an sich relativ zueinander bewegenden Nahtflanken bestehen. Im Ergebnis der Untersuchungen sind Schweißarbeiten unter Betriebsbeanspruchungen als Reparaturmaßnahme bei kleineren Rissen möglich. Anhand durchgeführter Versuche bei bewegten Nahtflanken konnte gezeigt werden, dass unter Betrieb geschweißte Proben normgerechte Schwingfestigkeiten aufweisen und die FAT 80 anwendbar ist. Eine Herausforderung stellte bei den Versuchen die realitätsnahe Abbildung der Bauwerkseigenschaften mit Hilfe einer Wegregelung, Kraftregelung oder kombinierter Weg-Kraft-Regelung im Labor dar.
Den letzten Block der Veranstaltung eröffnete Herr Matthias Müller vom Karlsruher Institut für Technologie mit einem Vortrag zur ganzheitlichen Bewertung verschiedener Bauweisen im Hoch- und Infrastrukturbau. Im ersten Teil seines Vortrags erläutert er die Grundsätze der Nachhaltigkeitsbewertung, der Bewertungsmethoden, dem ökobilanziellen Vergleich und der Problematik bezüglich unterschiedlicher Systemgrenzen bei der Ökobilanzierung. Herr Müller betonte, dass der aktuelle Koalitionsvertrag eine Kreislaufwirtschaft im Bausektor fordert, es bisher jedoch lediglich Ansätze für einen Gebäuderessourcenpass gibt. Brückenbauvarianten frühzeitig und planungsbegleitend ganzheitlich zu bewerten, soll durch das vorgestellte und am Karlsruher Institut für Technologie entwickelte Programm IntegBridge möglich gemacht werden. Zur praktischen Anwendung der Software fehlt es zurzeit noch an einer ausreichenden Datenbasis, die den Analysen zugrunde gelegt werden kann.
Den Abschlussvortrag hielt Herr Dr.-Ing Dieter Reitz von der MCE Stahl- und Maschinenbau GmbH & Co. KG. Dabei bot er eindrucksvolle Einblicke in die Errichtung neuer Großbrücken in Deutschland und Österreich und beleuchtete das regelmäßig auftretende Spannungsfeld zwischen der Planung und Ausführung. Aus Gründen eines beschleunigten Baustarts und der Massen- und Mengensicherheit wird die Ausführungsplanung häufig an Ingenieurbüros vergeben. Aus Sicht des Stahlbaubetriebes ist dies jedoch kritisch zu sehen, da jeder Betrieb je nach Fertigungs- und Transportmöglichkeiten sowie Montagetechnologien eine spezifische Planung für das wirtschaftlichste Angebot benötigt. Dr. Reitz rät deshalb dringend dazu, den Stahlbauer bereits bei der Ausarbeitung der Ausführungsplanung einzubeziehen. Grundsätzlich gilt, dass je weniger Schnittstellen zwischen der Planung und Ausführung vorhanden sind, umso weniger Streitpotenzial gibt es bzgl. der Bauzeiten und -kosten.
Das vielfältige Programm der Dresdner Stahlbaufachtagung 2023 lud zu Fachdiskussionen mit den Referenten in den Pausen ein und bot eine ausgezeichnete Plattform für den fachlichen Austausch. Ergänzt wurde die Tagung von verschiedenen Fachausstellern, die an ihren Ständen über aktuelle Entwicklungen und neue Produkte informierten. Die kommende Stahlbaufachtagung für das Jahr 2024 befindet sich bereits in der Planung. Über Details wird zur gegebenen Zeit an gewohnter Stelle informiert.