16.10.2019
DFG-Netzwerk "Versammeln: Mediale, räumliche und politische Konstellationen"
Das eine Demonstration eine öffentliche Versammlung ist, ist jedem klar. Aber was haben klatschen, twittern oder essen mit versammeln zu tun? Versammeln sich User unter einem gemeinsam genutzten Hashtag auf Twitter oder Facebook? Diese und weitere Fragen untersuchen die Wissenschaftler des neuen DFG-Netzwerks „Versammeln: Mediale, räumliche und politische Konstellationen“ an der TU Dresden. Geleitet wird es von Dr. Julia Prager. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Open Topic Postdoc Position) an der Professur für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur unter der Leitung von Prof. Lars Koch.
Die Forscher gehen davon aus, dass durch heutige Versammlungsaktionen die Grenzen zwischen Politik und Kunst, Öffentlichkeit und Privatheit, Aktivität und Passivität, Subjekt und Objekt, Nähe und Ferne sowie zwischen On- und Offlineräumen aufgelöst bzw. überschritten werden. Somit sind Versammlungen nicht mehr an einen bestimmten Ort und an eine konkrete Zeit gebunden. Ebenso löst sich ihre Funktion als eine abgegrenzte Formation im öffentlichen Raum zunehmend auf. „Bei der Occupy-Bewegung wurde das Schlafen zu einer Protestform“, erklärt Julia Prager. „Schlafen ist aber auch ein Grundbedürfnis des Menschen und so vermischt sich privat und öffentlich. Die mediale Übertragung dieser Szenen durch Video und Foto über verschiedene Kanäle wie Youtube und Twitter stellen dazu eine immer weitere Verkoppelung von privaten und öffentlichen Räumen her und dehnen das Protestgeschehen in Zeit und Raum aus.“
In den kommenden drei Jahren werden im Forschungsverbund Wirkmechanismen und kollektive Kommunikationsformen von Versammlungsphänomenen untersucht. Im Mittelpunkt stehen Analysen konkreter Aktionen, bei denen sich Menschen gruppieren. Dabei werden die unterschiedlichsten Ereignisse untersucht. So erkunden die Wissenschaftler z.B. die Zusammenhänge von Ansammlungen von Fliehenden in Lagern und auf ihren Fluchtwegen, die Konstellationen von geflüchteten Personen auf den Bühnen von Theatern, wo wiederum ein immer neues Publikum zusammenkommt. „Wir fragen u.a. danach, wie sich diese unterschiedlichen Formen des Versammelns auf Gemeinschaftsbildungen auswirken. Ob diese an sich flüchtigen Gruppierungen auch zu neuen Kollektiven führen können. Konkrete Aktionen des Versammelns wären dabei z.B. campieren, das theatrale Spielen, bezeugen als Publikum, vielleicht auch das gemeinsame Essen und Trinken nach den Aufführungen“, beschreibt Dr. Prager.
Um die Komplexität von Versammlungsereignissen erforschen zu können, verfolgt das Netzwerk zwei Ziele. Ein Ziel ist es, diese als Kulturtechnik beschreibbar zu machen. „Wir wollen nicht so sehr nach einzelnen Versammlungen wie etwa Protesten fragen, sondern nach spezifischen Aktionen, die gemeinsam bspw. als heterogene Versammlung einer Protestbewegung wahrnehmbar werden. Das kann das gemeinsame Singen, Schlafen, Skandieren, Blockieren sein. Konkret verschieben wir also den Fokus auf das Tun. Deshalb auch die Verbform ‘versammeln‘“, erklärt Dr. Prager. Dadurch wird es möglich, Protest als Phänomen anzusehen, dass nicht nur an einem Ort stattfindet. Teil des Protestierens kann auch das Twittern sein, das Liken und Teilen an ganz anderen Orten der Welt. Indem man teilhat, also konkret etwas macht, bringt man sich in das Protestgeschehen ein. Als zweites Ziel soll das Versammeln als eine neue zentrale Analysekategorie in der medien- und kulturwissenschaftlichen Forschung etabliert werden.
Durch Kooperationen mit dem SFB 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ und dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau öffnet sich das Netzwerk für neue, auch nicht-akademische, Zusammenhänge.