17.12.2015
Flucht und Vertreibung 1945/2015: Lesung mit der Schriftstellerin Joanna Bator
„Neunachumsiedlungs-Literatur“ – was im Deutschen ein sehr sperriger Begriff ist und Übersetzer vor manche Probleme stellt, ist im Polnischen nicht weniger schwer zu erklären. Die polnische Literatin und Wissenschaftlerin Inga Iwasiów schuf diesen Wortriesen, zu dem die Literatur der Schriftstellerin Joanna Bator zählen mag, die am 24. November 2015 im Literaturhaus Villa Augustin zu Gast war und dabei aus ihrem Roman „Sandberg“ las. Dieses Buch mit dem Originaltitel „Piaskowa Góra“ ist in Polen längst zum Bestseller geworden und verkaufte sich bereits über 200 000 Mal. Diesen Roman, der in der einfühlsame Übersetzung von Esther Kinsky bei Suhrkamp erschien, präsentierte sie zusammen mit Prof. Dr. Christian Prunitsch vom Institut für Slavistik, der zugleich Moderator und Übersetzer war. Er versprach gleich zu Beginn der etwa 90 minütigen Veranstaltung eine Menge Interessantes und die zahlreich erschienenen Besucher wurden nicht enttäuscht.
„Sandberg“ – das ist ein Ortsteil der Bergbaustadt Waldenburg, die als Wałbrzych nach 1945 zahlreichen vertriebenen Polen aus dem Osten neue Heimstatt wurde und die dort vielfach zunächst einen Zivilisationsschock erlebten. Sie graben in den Gärten der ihnen zugewiesenen Häuser nach Schätzen, die die Deutschen vielleicht dort vergraben haben, sehnen sich aber eigentlich nur danach, in ihre Dörfer im polnischen Grenzland, den kresy, zurückkehren zu dürfen, um sich dort die Füße in einem Kuhfladen oder die Hände an der Flanke der Tiere wärmen zu können. In Wałbrzych nämlich gibt ein keine Kühe am Haus, kein Grün, über das man spazieren kann. In Wałbrzych gibt es Mietskasernen, Fabrikschlote und Steinkohlebergwerke, die der Gegend einst ihren Wohlstand verdankten. Nun aber sind die Deutschen weg, vertrieben im Zuge der so genannten Westverschiebung Polens, in deren Zuge die von der polnischen Propaganda genannten „Wiedergewonnenen Gebiete“ mit Menschen aus denjenigen Gebieten im Osten besiedelt wurden, die nach der Konferenz von Jalta an die Sowjetunion fielen.
Von den Unsicherheiten der ersten Jahre unter der neuen Bevölkerung, ob man bleiben muss oder in die Heimat zurückkehren darf, berichtet die 1968 in eben diesem Wałbrzych geborene Bator genauso wie von einem Spinnrad, das ihre Großeltern besessen hatten und das noch von den Deutschen stammte. Niemand wusste so recht, wozu es diente und so blieb es in einer Ecke stehen, wurde aber nie verkauft und war eine Art Sakrosanktum, dem sich die Schriftstellerin als Kind immer mit der gebotenen Ehrfurcht näherte.
In einer ebensolchen mythischen Weise verarbeitet Joanna Bator in ihrem als Geschichte dreier Generationen angelegten Roman die oberschlesische Landschaft, gibt eine große Portion Realität sowie eine Prise Erfahrungen aus den Geschichten ihrer Großeltern hinzu. „Hätte ich vorher Bücher über dieses Thema gelesen, wäre so eine Erzählung nie zustande gekommen“, sagt sie dann auch augenzwinkernd.
Eingebettet in die Reihe „Flucht und Vertreibung“, die mithin auch das Thema von Fremdsein aufgreift, schlägt Bator dann auch den Bogen in die Gegenwart. So versucht sie zu verstehen, warum unlängst ihre Landsleute eine rechtskonservative Regierung gewählt haben, die Polen in eine ähnliche Ecke wie Ungarn drängt. „Darüber habe ich mir schon viele Gedanken gemacht“, sagt sie sichtlich nachdenklich, „wahrscheinlich liegt es an der unterschiedlichen Wahrnehmung von Vergangenheit: meine Großeltern waren es gewöhnt, mit Menschen aus anderen Kulturen oder mit einer anderen Religion Tür an Tür zu wohnen, doch schon meinen Eltern war so etwas in einem ethnisch und religiös homogenen Volkspolen fremd. Vielleicht ist daher dieser Wahlausgang ein Ausdruck von Unsicherheit?“
Eine Klärung dieser Frage konnte es freilich an diesem Abend nicht geben, wohl aber die Erkenntnis, dass wir alle „europäische Mischlinge“ sind, deren Herkunft sich nicht allein aus einer Quelle speist und deren Vorfahren schon immer von hier nach da gezogen sind.
Zufrieden zogen dann auch die Zuhörer von dannen, die durch den Roman einen kleinen Einblick in die europäische Umsiedlungspolitik nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhielten, der sich aber dank der zugleich lockeren, dabei aber wissenschaftlich und thematisch sehr fundierten Moderation von Christian Prunitsch fernab von einer trockenen Unterrichtsstunde bewegte. Die Lesereihe „Flucht und Vertreibung“ findet ihr Finale bereits am Dienstag, den 08. Dezember, wenn Elisabeth Fendl von ihren Forschungen zum Thema Erinnerungskultur der Heimatvertriebenen sowie vom Projekt des Sudetendeutschen Museums in München berichtet. Es moderiert der Historiker Dr. Justus H. Ulbricht.