05.04.2017
„Götzenkammern“ – Ein Lager voller alter, wertvoller und vergessener Bilder?
Wer kennt das nicht: In jeder Wohnung, in jedem Haus gibt es einen Dachboden oder eine Abstellkammer oder der Keller wird dafür genutzt. Hier landen alte Sachen, Dinge, die nicht so oft gebraucht werden und Gegenstände, die zu wertvoll erscheinen um sie wegzuwerfen. Solche Räume gab es häufig auch in Kirchen. Sie hießen Götzenkammern und dienten als Depot für kirchliche Bilder und Objekte, welche seit der Reformation problematisch geworden waren.
Wie das Phänomen der „Götzenkammern“ entstanden ist, untersucht Dr. Stefan Dornheim, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte der TU Dresden. „Im Forschungsprojekt „Götzenkammern“ – Entsorgung, Umdeutung und prämuseale Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum sollen kulturgeschichtliche und religionsethnologische Perspektiven mit Ansätzen der historischen Bildkunde und der Materiellen Kultur interdisziplinär verknüpfen,“ erklärt Dr. Stefan Dornheim. „Dabei stellt sich die Frage, wie sich im lutherischen Protestantismus der Umgang mit altgläubigen Bild-, Symbol- und Sakralitätskonzepten gestaltete.“ Diese erstmalige Untersuchung verspricht wichtige Aufschlüsse über den spezifisch lutherischen Umgang mit altkirchlicher Bild- und Symbolkultur zu geben. Dornheim erklärt: „Sie lässt Strategien der Umdeutung und Neukodierung von einst zentralen Objekten kommunaler bzw. kollektiver Glaubens-, Erinnerungs- und Repräsentationspraxis sichtbar werden. Der bildwissenschaftliche Blick und der Ansatz der Materiellen Kultur eröffnen eine neue Perspektive auf die Entstehung von Konfessionskulturen.“ Die geplante Studie befasst sich räumlich hauptsächlich mit den mitteldeutschen Territorien, im Bereich des heutigen Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt als Mutterregion der Reformation. Zeitlich bewegt sich das Projekt zwischen den Jahren 1517 und 1817. Der Fokus des Projekts richtet sich dabei nicht wie so häufig allein auf Wittenberg und den Bildersturm Karlstadts. Vielmehr soll nun auch die Situation in den kleineren Stadt- und Dorfkirchen des lutherischen Mitteldeutschlands untersucht werden, wo sich eher breitenreligiöse Beharrungskräfte, Kontinuitäten, Kompromisswille und nur langsamer Wandel beobachten lassen.
Die Entwicklungsgeschichte des Phänomens der „Götzenkammern“ untersucht Dornheim anhand von unterschiedlichen Dokumenten. Die Palette von infrage kommenden Quellen ist dabei sehr breit. Sie umfasst neben den Kirchenausstattungen selbst gedruckte Quellen wie theologische Schriften (Streitschriften, Predigten) zu Bildverständnis und Brauch. Aber auch frühneuzeitliche Stadt- und Kirchenchroniken, edierte evangelische Kirchenordnungen oder frühe Reise- , Stadt- und Kirchenbeschreibungen des 17.-19. Jahrhunderts werden untersucht. Hinzu kommen noch Visitationsberichte, Kirchenbücher, kirchliche Bauakten und Rechnungen ausgewählter Pfarrarchive.
„In einem ersten Arbeitsschritt wird zunächst der Forschungsstand sowohl kunstgeschichtlich als auch kirchen-, allgemein- und religionshistorisch erschlossen und mit Perspektiven der Liturgiewissenschaft, der historischen Ethnologie und der neueren Fest- und Ritualforschung in Bezug gesetzt.“, erklärt Dr. Stefan Dornheim. Eine datenbankbasierte statistische Auswertung der einschlägigen mitteldeutschen Bau- und Kunstinventarwerke erfolgt im zweiten Arbeitsschritt. Diese soll die Ausstattungsgeschichte sämtlicher Stadt- und Dorfkirchen für ausgewählte überschaubare Regionen bis zur Zeit um 1900 präzise dokumentieren. Dornheim hofft, dass „die gewonnenen Daten eine Art Gesamtperspektive eröffnen können und die Fragen beantworten ob, zu welcher Zeit, in welcher Form und in welchem Umfang Bildkonzepte entfernt, verändert und ausgetauscht wurden oder eben auch nicht.“ Als dritter Schritt soll der exemplarische Blick auf die Mikroebene und die genaue historische Analyse einer überschaubaren Reihe einzelner Fallbeispiele gerichtet werden. So hat sich etwa im Turm des Freiberger Domes bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Götzenkammer befunden, deren Wiederentdeckung zur Gründung eines der ersten bürgerlich-städtischen Museen führte. Mit der Hilfe von Kirchenakten, Bauunterlagen, Inventaren, Chroniken und alten Stadtbeschreibungen soll versucht werden, die Geschichte der Entstehung, Entwicklung, aber auch die zeitgenössische Wahrnehmung und Wiederentdeckung dieser Götzenkammer möglichst genau zu untersuchen.
Im letzten Schritt wird nach der Beharrungskraft überlieferter Vorstellungen, Symbole und Deutungsmuster jenseits der theologisch gebildeten amtskirchlichen Eliten gefragt. „Volkskulturelle Vorstellungen und Praktiken füllten zwischen Bildersturm einerseits und heimlicher Verehrung auf der anderen Seite ein breites Spektrum. Die Zusammenschau der so gewonnenen Perspektiven verspricht – so haben erste punktuelle Untersuchungen bereits gezeigt – überraschende neue Befunde,“ berichtet Dr. Stefan Dornheim.
„Die Idee zu diesem Forschungsprojekt entstand während der Recherchen zu meiner Dissertation zur lutherischen Erinnerungskultur der Frühen Neuzeit. Dafür untersuchte ich unter anderem Kirchenräume mit ihren Ausstattungen an Grabmalen, Epitaphien, Inschriften usw. in ihrer Funktion als Erinnerungsräume,“ beschreibt Dornheim. Dabei stellte er fest, dass in vielen Gotteshäusern verhältnismäßig zahlreiche Elemente der vorreformatorischen Ausstattungen erhalten geblieben sind. In vielen evangelischen Dorfkirchen befanden sich gotische Altarretabel mit Marien- oder Heiligendarstellungen. Diese waren beispielsweise entweder noch im Gebrauch oder sie wurden in späteren protestantischen Kanzelaltären des 17. und 18. Jahrhunderts wieder verbaut. Selbst in Turmkammern oder auf Dachböden gab es bis ins 19. Jahrhundert hinein Depots an religiösen Bildnissen. In diesen Depots lagerten Objekte und Bilder, die aus theologischen Gründen als nicht mehr öffentlich zeigbar galten und deren Entsorgung oder Weggabe aber aus verschiedenen Gründen nicht infrage kam. „An größeren Kirchen, wie etwa in Freiberg, Zwickau oder Dresden stieß ich auf sogenannte Götzenkammern, in denen die theologisch problematisch gewordenen sakralen Bilder quasi ‚in Schutzhaft‘ genommen wurden – vor bilderstürmerischem Eifer einerseits und vor falschverstandener Verehrung andererseits,“ erklärt Dornheim. „Das fand ich aus kulturhistorischer Perspektive sehr spannend: Die Rekonstruktion des Umganges mit den religiösen Bildnissen und Symbolen verspricht die Möglichkeit, der Entwicklung der lutherischen Frömmigkeitskultur sprichwörtlich ‚hinter die Kulissen‘ zu schauen. Und außerdem gab es zu diesem Phänomen bisher so gut wie keine Forschung.“
Das Forschungsprojekt „Götzenkammern“ – Entsorgung, Umdeutung und prämuseale Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum (1517-1817) wird von der DFG mit ca. 265.000 Euro für drei Jahre gefördert. Das Forschungsstipendium umfasst die Personalmittel für die Stelle des Projektleiters, Mittel für Materialkosten, Reisen und die Organisation eines Workshops sowie für die Publikation der Ergebnisse.