08.04.2021
Invective Talks, Folge 1: Über Populismus gedacht als eine Form
Invective Talks
Die Reihe Invective Talks widmet sich invektiven Phänomenen aus Politik, Gesellschaft und Kultur. Mit diesem eigentlich sehr alten, aber neu verstandenen Begriff – Invektivität – sind Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung gemeint: hate speech, shamestorms, verletzende Sprache, das sogenannte Wutbürgertum, aber auch Momente des Aufbruchs und der produktiven Empörung gehören in diesen Zusammenhang. Ganz offensichtlich leben wir in „erregten“, „gereizten“ oder gar „zornigen“ Zeiten, um nur einige Stichworte aus der aktuellen gesellschaftswissenschaftlichen Debatte aufzugreifen. Gleichzeitig wissen wir noch viel zu wenig über diese neue Erregung. Während sich das Feuilleton oft aufrichtig ratlos zeigt, sind die theoretischen Diskussionsbeiträge der jüngeren Vergangenheit in atemberaubender Geschwindigkeit gealtert. Den Zorn zu besingen, wie Peter Sloterdijk es vorgeschlagen hatte, oder wie Stéphane Hessel ein Plädoyer für Empörung zu verfassen, scheint heute – nach Trump – nur eine Seite einer viel komplizierteren Entwicklung zu beschreiben, mit der nahezu alle westlichen Gesellschaften mindestens gemischte Erfahrungen sammeln mussten. Kurzum: Wir müssen reden, und sprechen dafür im Rahmen dieser Reihe mit Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Intellektuellen über die Prägekraft und Ambivalenzen von invektiven Tendenzen im gleichsam heiß gelaufenen Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung. Dies aus der Perspektive avancierter Grundlagenwissenschaft und zugleich zugänglich aufbereitet für ein wissenschaftlich interessiertes Publikum: Prodesse et delectare.
Folge 1: Über Populismus gedacht als eine Form. „Die List der Vernunft“ am wahrscheinlich unwahrscheinlichsten Ort?
Jan-Philipp Kruse im Gespräch mit Dr. Kolja Möller
In Folge 1 der Invective Talks diskutiert Jan-Philipp Kruse mit Dr. Kolja Möller über ein neues Verständnis des Populismus. Im ersten Moment scheint klar zu sein, dass es sich beim Populismus um etwas „Unappetitliches“ handelt. Die verzweigten Probleme, mit denen sich demokratische Gesellschaften heute herumschlagen müssen, sind ja viel komplizierter als schmissige Parolen. Offene Flanken zum Rechtsextremismus, ein oft mehr als schwieriges Verhältnis zur Faktizität („Post-Truth“) und auch der überschaubare politische Erfolg realexistierender Populisten bestärken zunächst diesen Eindruck.
Der Populismusforscher Kolja Möller sieht das natürlich genauso und weist dennoch darauf hin, dass diese Perspektive zu eng sein könnte: denn wie würden wir aus ihr auf die Befreiungsbewegungen des globalen Südens, agrarischen oder sozialdemokratischen Populismus oder noch auf jemanden wie Emmanuel Macron blicken, dessen Partei „La République en Marche“ von Möller ebenfalls als eine populistische Bewegung beschrieben wird?
Möller stellt daher eine Formanalyse des Populismus vor, die vom Philosophen Jan-Philipp Kruse kritisch begleitet und gewissermaßen am offenen Herzen untersucht wird: Wie gehen solche formalen Aspekte des Populismus – sich zu falten, zu wenden und umzudrehen – mit Möllers lerntheoretischem Ansatz zusammen? Wann und wie könnten populistische Bewegungen der Sache demokratischer Freiheit dienen, ohne zugleich die Bedingungen dieser Freiheit – etwa einen freien, rationalisierungsfähigen Diskurs unter Gleichen – aufzuweichen und anzugreifen?