21.12.2016
Kann »das bisschen Grundschule« wirklich jeder?
Ende Oktober 2016 hat die Sächsische Landesregierung ein Maßnahmenpaket zur Lehrerversorgung verabschiedet. Damit soll der Lehrerbedarf an Sachsens Schulen besser abgesichert werden und der Lehrerberuf attraktiver werden. Unter anderem sollen höhere Einstiegsgehälter für Lehrer an Ober- und Förderschulen und für Lehrer in sogenannten Mangelregionen und -fächern eingeführt werden. Das Maßnahmenpaket sieht ebenfalls vor, Seiteneinsteiger zu qualifizieren und einzustellen – insgesamt sollen in den nächsten beiden Haushaltsjahren 722 neue Lehrerstellen geschaffen werden. UJ sprach mit Prof. Friedrich Funke, dem Dekan der Fakultät Erziehungswissenschaften, zur Sicht seiner Fakultät.
UJ: Das Maßnahmenpaket der Staatsregierung hat festgelegt, dass Seiteneinsteiger im möglichst unmittelbaren Anschluss an eine dreimonatige Einstiegsfortbildung in den Schulen berufsbegleitend an einer Universität weitergebildet werden. Wie ist die Fakultät Erziehungswissenschaften auf dieses über fünf Jahre angelegte Qualifizierungsprogramm vorbereitet?
Prof. Friedrich Funke: Mit einem Satz lässt sich das gar nicht sagen; die Frage zielt auf zwei Aspekte: Inhaltlich sind wir bestens darauf vorbereitet, schließlich gehört die Qualifikation von zukünftigen Lehrkräften zu unseren Kernaufgaben und auch zu unserer Kernkompetenz. Organisatorisch hingegen müssen wir uns auf völlig neue Herausforderungen einstellen. Hier geht es nicht um eine graduelle Steigerung der Anstrengungen in den bestehenden Strukturen. Gefragt ist eine Umstrukturierung, denn im Detail zeigt sich, dass ein Seiteneinsteigerprogramm mit dem herkömmlichen Lehrbetrieb nicht ohne Weiteres kompatibel ist, weder inhaltlich noch personell, zeitlich oder räumlich.
Die dreimonatige Einstiegsfortbildung soll in den Schulen durch die ohnehin ausgelasteten Lehrer erfolgen, die keine Lehrerbildner sind. Gleichzeitig übernehmen die in der Regel pädagogisch nicht ausgebildeten Seiteneinsteiger bereits Unterricht in den Klassen. Ist das aus erziehungswissenschaftlicher Sicht verantwortbar? Wäre eine vorherige Qualifizierung nicht der sinnvollere Weg – gerade im sensiblen Bereich der Grundschule?
Sie sprechen drei Fragen an, und es ist interessant und richtig, was Sie sagen: Es erlaubt den Blick auf ein fatales Missverständnis: Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge könne »das bisschen Grundschule ja jeder«, schließlich brauche man ja nicht viel mehr als das Alphabet und das Einmaleins. Sie ahnen, dass wir da entschieden widersprechen würden. Insofern geben Sie mir Gelegenheit, auf den wichtigen Aspekt der Qualitätssicherung Bezug zu nehmen. Dies haben wir sehr wohl kritisch im Blick, zumal die Evaluation nicht in unserer Hand liegt. Hier muss »im System «, das heißt in den Schulen genau – und im Übrigen langfristig – geprüft werden, ob die jeweiligen Seiteneinsteiger ihren Aufgaben gewachsen sind. Ich würde es sogar noch erweitern und die systemischen Auswirkungen auf das gesamte Beziehungsgeflecht thematisieren. Als Sozialpsychologe brauche ich keine besondere Phantasie, um Effekte auf die bestehenden Lehrerkollegien vorherzusagen.
Diese Rolle der ohnehin ausgelasteten Lehrerinnen und Lehrer sprechen Sie ja mit ihrer ersten Frage auch an. Aber auch hier zeigt sich wieder, dass diese Herausforderung Chancen birgt, sich bereits bestehende Strukturen aus neuen Perspektiven anzusehen und neu zu bewerten. Wenn das Licht aus einer neuen Richtung fällt, um ein Bild zu gebrauchen, dann entstehen auch neue Schatten, und man sieht auch in Ecken, die vorher vorm Blick verborgen waren. Auch heute schon sind viele Lehrerinnen und Lehrer in gewisser Weise Lehrerbildner, da sie sowohl bei den schulpraktischen Studien (im Lehramtsstudium) als auch bei der Betreuung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern (im Referendariat) mitwirken. Hier wird es darauf ankommen, ob die Schule selbst genügend qualifizierte Mentorinnen und Mentoren bereitstellen kann. Im günstigsten Falle setzt sich dadurch die Erkenntnis durch, wie komplex die Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern sind, und dass hier aktive Personal- und Organisationsentwicklung gefordert ist.
Die Frage der Verantwortbarkeit ist natürlich eine ethische. Ethik hat oft mit Dilemmata zu tun. Selbstredend und damit auch trivialerweise wäre die »richtige« Reihenfolge ein Universitätsstudium – im Übrigen mit der nötigen Ruhe, um auch mal über den Tellerrand zu schauen – ergänzt um eine universitär begleitete Praxisphase. Dies muss auch der Regelfall bleiben. Zugleich würde aber auch niemand verstehen, wenn »die Politik« nicht (endlich) reagieren würde. Der Lehrermangel muss dringend abgewendet werden. Auch dies ist ein ethisches Gebot gesamtgesellschaftlicher Reichweite. Die Kunst besteht nun darin, »Schnellschüsse« zu vermeiden und damit unsere professionelle Flexibilität unter Beweis zu stellen. Dies ist etwas qualitativ völlig anderes
als ein fauler Kompromiss.
Nach Meinung vieler sächsischer Grundschullehrer sind sie die Verlierer des Maßnahmenpakets. Sie bekommen nicht wie die Ober- und Förderschullehrer sowie Seiteneinsteiger ab 1. Januar 2017 mehr Geld (Grundschullehrer sind zwei Tarifgruppen tiefer eingruppiert), sondern lediglich eine Pflichtstunde weniger pro Woche, unterrichten aber mit 27 Stunden immer noch eine Stunde mehr als Lehrer anderer Lehrämter. Ist das Grundschullehramt an sich für Studenten noch attraktiv?
Zur Beantwortung Ihrer konkreten Frage kann man auch konkrete Zahlen sprechen lassen: In diesem Wintersemester hatten wir 2132 Bewerbungen allein im Lehramt Grundschule, aber nur für jede fünfzehnte Bewerbung einen Platz. Das Interesse der Studienanfänger ist also durchaus deutlich. Die von Ihnen angesprochene defizitäre Lohngerechtigkeit hingegen gehört zu den Aspekten die ich im Sinn hatte, als ich von systemischen Auswirkungen sprach. Es ist nicht damit getan, mehr Seiteneinsteiger »ins System zu pumpen«. Auf diese Effekte können wir aber nur hinweisen und sie – bei entsprechender zusätzlicher Ausstattung – wissenschaftlich begleiten. Unsere professionelle Kompetenz erstreckt sich durchaus so weit, unsere Macht hingegen und auch unser Verantwortungsbereich endet hier aber. Die Fakultät ist bei derartigen Verhandlungen nicht mit am Tisch, hier sind der Freistaat als Anstellungsträger sowie die gewerkschaftlichen Interessenvertreter in der Pflicht.
Die Lehramtsabsolventen sollen möglichst in Sachsen gehalten werden. Sachsens Wissenschaftsministerin Dr. Eva-Maria Stange sagte dazu kürzlich: »Wir fordern von den Hochschulen zudem seit Längerem Maßnahmen zur Erhöhung des Studienerfolges, damit möglichst keine Lehramtsstudierenden ihr Studium ohne Abschluss beenden.« Was kann man sich unter solchen Maßnahmen vorstellen? Ist mehr Quantität statt Qualität wünschenswert?
Sie werden nicht überrascht sein, wenn ich diese rhetorische Frage verneine und dabei die Kolleginnen und Kollegen in der Fakultät hinter mir weiß. Studienerfolg und Absolventenquote – übrigens zwei verschiedene Dinge – sind aber sehr komplex bedingt. Der Studienerfolg ist nur partiell durch die Universität, schon gar nicht durch eine Fakultät alleine, steuerbar. Wenn jemand nach zwei Semestern feststellt, keine Lehrerin oder kein Lehrer mehr werden zu wollen oder aus privaten Gründen den Studienort wechseln zu wollen, dann gehört dies zu den normalen und völlig legitimen biographischen Entscheidungen, die sich zu Recht unserem Einfluss entziehen. Wo allerdings Verbesserungen im Studienablauf, in der Studienberatung oder im organisatorischen Bereich möglich sind, werden wir diese Verbesserungen auch anstreben. Dabei legen wir insbesondere auch auf die Zusammenarbeit mit den Studierenden und den Fachschaften großen Wert. Auch die Studenten wissen schon sehr genau, dass ihre zukünftigen Arbeitsbedingungen von vielfältigen Rahmenbedingungen abhängen, unter denen die universitäre Ausbildung nur einer von vielen Faktoren ist. Ob die zukünftigen Absolventen in Sachsen bleiben, liegt nur sehr begrenzt – um nicht zu sagen, gar nicht – in unserer Macht. Es wäre auch ein Missverständnis, dies als Aufgabe der Universität anzusehen. Die Rahmenbedingungen für Referendare sind unterschiedlich zwischen den Bundesländern, die sich im Übrigen hier auch große Konkurrenz machen.
Mit Prof. Friedrich Funke sprach Karsten Eckold.
Autor: Karsten Eckold, Dresdner Universitätsjournal, 27. Jahrgang | Nr. 20 vom 13. Dezember 2016