12.11.2015
Auftakt der Diskussionsreihe „Zwischen Drinnen und Draußen. Flucht und Migration als europäische Herausforderung“
„Aufgabe von Wissenschaft ist es aus unserer Sicht nicht, im Elfenbeinturm zu verharren, sondern sich aktuellen Debatten zu stellen.“ – Mit diesen Worten machte Bereichssprecher Prof. Matthias Klinghardt in seinem Grußwort das Anliegen der Diskussionsreihe deutlich. An vier Abenden in diesem Wintersemester werden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften mit internationalen Gästen u.a. aus den Partneruniversitäten Wrocław und Trento über ein Thema diskutieren, das Europa derzeit wie kein anderes beschäftigt: Flucht und Migration.
Den Auftakt am 9. November 2015 bestritten Prof. Karlheinz Ruhstorfer, Professor für systematische Theologie an der TU Dresden, sowie Piotr Buras, ehemaliger Berlinkorrespondent der „Gazeta Wyborcza“ und derzeitiger Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations. Moderiert wurde die Diskussion von Prof. Dagmar Ellerbrock, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden. Zwei grundlegende Fragen standen im Zentrum der Diskussion: Welche moralische Verpflichtung hat Europa zur Aufnahme von Geflüchteten, resultierend aus den Werten der Aufklärung und den allgemeinen Menschenrechten? Und inwiefern stoßen die EU-Staaten an Grenzen des Machbaren?
Piotr Buras machte gleich zu Beginn deutlich, dass es keinen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma gibt: „Eine Abschottung Europas ist, selbst wenn man dies wollte, schlicht nicht durchführbar. Zudem wird sie einen hohen Preis haben: Wenn wir uns nach außen abschotten, werden wir häufiger mit sinkenden Flüchtlingsbooten zu tun haben.“ Das liberale Antlitz europäischer Gesellschaften ist in Gefahr, denn entsprechende Sicherheitsmaßen nach außen sind ohne Verlust von Freiheiten im Inneren nicht zu machen. Gleichzeitig könnten Werte wie die Menschenrechte politisches Handeln nicht ersetzen. Politik sei dazu gezwungen, zwischen konkurrierenden Werten, wie Freiheit einerseits und Schutz und Sicherheit andererseits, abzuwägen und dabei auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen.
Karlheinz Ruhstorfer verwies bei allem Kompromisszwang in der Politik darauf, dass Menschen, neben wirtschaftlichen Erwägungen, auch deshalb nach Deutschland kommen, weil es hier ein funktionierendes Gemeinwesen und eine politische Elite gibt, die mit einem bestimmten Ethos Politik macht. „Wenn dies verloren geht und die Pragmatik zunimmt, kollabiert das Gemeinwesen. Die Leuchtpunkte der Freiheit und der Verheißung müssen als Grundlagen der europäischen Gesellschaften erhalten bleiben. Und diese Verheißungen müssen sich auch für die Neuankömmlinge einlösen. Auch im Islam gibt es viele Vertreter, die sich für die gleichen Werte einsetzen.“
„Die Aufnahme von Flüchtlingen,“ so Piotr Buras, „ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.“ Polen als sehr individualistische Gesellschaft, so seine Befürchtung, könne sich damit schwer tun, zumal es bisher kaum Flüchtlinge und wenig Erfahrung mit Fremden gebe. Das Selbstverständnis als katholische Nation werde zudem durch die Ankunft von muslimischen Flüchtlingen in Frage gestellt. „Jedoch habe die Diskussion darüber „die polnische Gesellschaft schon verändert, bevor der erste Flüchtling angekommen ist“.
Als eine mögliche Lösung der Krise plädierte Buras für eine planvolle Umsiedlungspolitik von Flüchtlingen aus den Lagern im Nahen Osten nach Europa: „Die illegale Migration ist das Problem. Sie führt zu einem Abrutschen in die Kriminalität.“ Auch Karlheinz Ruhstorfer betonte die Notwendigkeit, Staaten wie den Libanon und die Türkei zu unterstützen, die die Mehrheit der Flüchtlinge aufgenommen hätten. Außerdem müssten die Fluchtursachen bekämpft und die „Unschuld“ von Waffengeschäften hinterfragt werden: „Wer bisher tatenlos zugesehen hat und jetzt überrascht tut, verwechselt Symptom und Ursache.“
Die weiteren Veranstaltungen der Diskussionsreihe greifen den Umgang mit Migration aus unterschiedlichen Kulturkreisen und die Sichtweise der Zugewanderten (14.12.2015), die gesellschaftlichen Reaktionen in Form von Willkommens- und Protestbewegungen (13.01.2016) sowie die Flüchtlings- und Migrationsdebatte in den Medien und sozialen Netzwerken (27.01.2016) auf. Weitere Informationen gibt es unter www.tu-dresden.de/gsw
Die Diskussionsreihe findet in Zusammenarbeit mit der SLUB Dresden und dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden statt.
Weitere Termine:
14. Dezember 2015 | 18:30 – 20:00 Uhr
Zwischen Geschichte und Gegenwart
SLUB, Vortragssaal
13. Januar 2016 | 19:00 – 20:30 Uhr
Zwischen Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit
Deutschen Hygiene-Museum Dresden
27. Januar 2016 | 19:00 – 20:30 Uhr
Zwischen Meinungsfreiheit und Hate speech
Deutschen Hygiene-Museum Dresden