08.05.2020
Wechsel im Direktorium des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV)
Das ISGV hat einen neuen Direktor: Prof. Dr. Andreas Rutz, seit September 2019 Professor für Sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden, folgte am 1. Mai 2020 auf Prof. Dr. Winfried Müller, der nach 20jähriger Amtszeit aus dem Direktorium des ISGV ausgeschieden ist. Müller hat die Entwicklung des 1997 gegründeten Instituts zu einer zentralen Institution für die Erforschung der sächsischen Geschichte und Volkskunde / Kulturanthropologie maßgeblich mitgeprägt. Aktuell leitet er am ISGV noch bis Ende 2020 das Projekt „1918 als Achsenjahr der Massenkultur. Kino, Filmindustrie und Filmkunstdiskurse in Dresden vor und nach 1918“. Rutz übernimmt nun gemeinsam mit dem seit 2002 als Direktor tätigen Prof. Dr. Enno Bünz (Universität Leipzig) die Leitung des ISGV.
Prof. Dr. Andreas Rutz hat in Bonn, Paris und New York Geschichte, Philosophie und Klassische Archäologie studiert und wurde 2005 mit einer Arbeit zum Thema „Bildung – Konfession – Geschlecht. Religiöse Frauengemeinschaften und die katholische Mädchenbildung im Rheinland (16.–18. Jahrhundert)“ promoviert. Nach einem Post-Doc am Institut für Europäische Geschichte Mainz war er als Assistent von Prof. Dr. Manfred Groten an der Abt. für Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft in Bonn tätig und wurde 2014 mit einer Arbeit zum Thema „Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich“ habilitiert. Es folgten Lehrstuhlvertretungen in Münster (Westfälische und Vergleichende Landesgeschichte), Bonn (Rheinische Landesgeschichte) und Düsseldorf (Geschichte der Frühen Neuzeit) sowie eine Kurzzeitdozentur am Zentrum für Deutschland- und Europastudien in Tokio (Japan).
Zum Beginn seiner Tätigkeit als Direktor sprach das dem Team der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des ISGV mit Prof. Andrea Rutz:
Was sind Ihre Forschungsinteressen und aktuellen Projekte?
Meine Forschungsschwerpunkte liegen epochal in der Geschichte der Vormoderne und methodisch in der (vergleichenden) Landesgeschichte. In jüngerer Zeit habe ich mich, nicht zuletzt im Rahmen meiner Habilitationsschrift, insbesondere mit dem Verhältnis von Herrschaft und Raum beschäftigt. Konkret geht es dabei um die Frage, welche Bedeutung Grenzziehungen im Prozess vormoderner Herrschaftsbildung auf regionaler Ebene spielen. Eine wichtige Quelle bilden Karten, deren weiterer Erforschung ich mich auch in Sachsen widmen will. Die hiesigen Bestände, etwa im Hauptstaatsarchiv oder in der SLUB, sind nämlich unendlich reichhaltig und vielfach noch völlig unbekannt. Ein zweiter, in den letzten Jahren entwickelter Schwerpunkt ist das Thema weiblicher Herrschaftspartizipation in der Frühen Neuzeit. Ich habe ein diesbezügliches DFG-Projekt nach Dresden mitgebracht, dass sich mit den vormundschaftlichen Regentschaften in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches in westeuropäischer Perspektive beschäftigt.
Perspektivisch möchte ich mich mit den europäischen und globalen Verflechtungen Sachsens vom 16. bis 19. Jahrhundert beschäftigen. Landesgeschichte erforscht die Geschichte eines Raums mittlerer Größe. Dieser ist allerdings nicht isoliert zu betrachten, sondern immer auch im überregionalen Zusammenhang. Gleichwohl sind die europäischen und insbesondere die globalen Dimensionen der sächsischen Landesgeschichte kaum erforscht. Hier bieten sich vielfältige Forschungsmöglichkeiten, die die Landesgeschichte an aktuelle Tendenzen der allgemeinen, kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft anschlussfähig machen. Eine weitere Perspektive meiner Arbeit in Dresden stellt die Fortführung der von meinem Vorgänger am ISGV etablierten Kino- und Filmforschung dar. Auch dieses Forschungsfeld bietet viel Potenzial und ist nicht zuletzt geeignet, die Arbeit des Instituts in der breiteren Öffentlichkeit sichtbar zu machen.
Was reizt Sie an der Aufgabe des Direktors des ISGV?
Das ISGV ist ein überaus interessantes und dynamisches Forschungslabor. Das liegt zum einen an den spannenden Projekten, die hier realisiert werden, zum anderen aber natürlich auch an den Menschen, die diese Projekte mit ihrer fachlichen Expertise und ihrem Esprit vorantreiben. Die Produktivität ist enorm: wichtige Langzeitvorhaben, wie die Sächsische Biografie, das Lebensgeschichtliche Archiv, das Digitale Bildarchiv oder der Codex Diplomaticus Saxoniae werden kontinuierlich bearbeitet und ausgebaut, das Institut gibt mehrere Zeitschriften und Schriftenreihen heraus, es veranstaltet jedes Jahr mehrere Tagungen und Workshops sowie weitere Veranstaltungen, die – wie die aktuelle Kinoreihe in der SLUB – auch eine breitere Öffentlichkeit erreichen, und nicht zuletzt arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Einzelprojekten, die in Aufsätzen und Monographien publiziert werden. Diese Vielfalt möchte ich als Direktor unterstützen und fördern.
Neben der thematischen Vielfalt der Forschungen am ISGV stellt die in der Institutsstruktur verankerte Interdisziplinarität einen besonderen Reiz dar. Die Verbindung von Landesgeschichte und Volkskunde / Kulturanthropologie bietet viele Möglichkeiten, denn die beiden Disziplinen ergänzen sich hervorragend: Die Volkskunde, die sich auf die Gegenwartskultur konzentriert, erhält durch den Austausch mit der Landesgeschichte eine historische Perspektivierung und die Landesgeschichte, die auf die vergangenen Epochen blickt, wird durch die Volkskunde an die unmittelbare Gegenwart und die brennenden Fragen der Zeit herangeführt. Zudem ergeben sich inhaltliche Schnittmengen, gerade wenn es um Alltagskultur, Fragen des gesellschaftlichen Lebens und die Rolle des Individuums geht. Als Direktor möchte ich diesen interdisziplinären Austausch weiter vorantreiben und einen Reflexionsprozess in Gang setzen, wie auf der konkreten Projektebene, aber auch im großen Ganzen die Zusammenarbeit und das Zusammendenken von Landesgeschichte und Volkskunde weiter intensiviert werden kann.
Eine besondere Stärke des ISGV stellen zudem die digitalen Komponenten der Forschungsarbeit dar. Zahlreiche Projekte finden ihren Niederschlag in online frei zugänglichen Datenbanken und auf speziellen Webseiten und erreichen so eine Vielzahl von Menschen – nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch Geschichtsinteressierte in der Region und anderswo. Mit der neuen Schriftenreihe „ISGV digital. Studien zur Landesgeschichte und Kulturanthropologie“ wurde kürzlich auch eine ausschließlich online erscheinende, barrierefreie Publikationsplattform etabliert. Das ISGV ist damit im Digitalen hervorragend aufgestellt und kann vielfach eine Vorreiterrolle beanspruchen. Dass diese Position weiter ausgebaut wird, ist eines meiner Ziele als Direktor. Dazu gehört auch der Bereich der sozialen Medien und der (digitalen) Öffentlichkeitsarbeit, um dem Institut eine breite Sichtbarkeit zu verschaffen.
Gibt es einen Aspekt der sächsischen Geschichte, der für Sie besonders interessant ist?
Neben den bereits genannten europäischen und globalen Dimensionen der sächsischen Landesgeschichte scheint mir das augusteische Zeitalter eine besonders spannende Epoche zu sein, die in vielerlei Hinsicht Forschungspotenzial bietet und mit der ich mich in den nächsten Jahren intensiver befassen werde. Trotz ihrer Popularität und Bedeutung für die sächsische Erinnerungskultur ist die Zeit Augusts des Starken und seines Sohnes August III. erstaunlich wenig erforscht. So fehlen etwa zu fast allen wichtigen Persönlichkeiten dieser Zeit neuere biografische Arbeiten, nicht zuletzt zu den beiden Kurfürsten selbst, deren Bild sehr stark von langlebigen Mythen und Anekdoten geprägt ist. Auch die sächsisch-polnische Union (1697–1763) hat bislang nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die ihr aufgrund der Bedeutung für die sächsische, die polnische und die europäische Geschichte zukommt. Die augusteische Epoche bietet die Möglichkeit, die sächsische Erinnerungskultur kritisch zu reflektieren, populäre Geschichtsbilder zu revidieren und die sächsische Geschichte exemplarisch als europäische Geschichte zu erforschen. Mit dem Thema lassen sich also Brücken schlagen – in die heutige Gesellschaft vor Ort in Sachsen und zu den europäischen Nachbarn!