06.01.2016
Zwischen Geschichte und Gegenwart
„Ein Blick auf die lange Geschichte von Migration in Europa kann helfen, die aufgeheizte Diskussion um Flüchtlinge zu relativieren.“ – so Prof. Roswitha Böhm, Professorin für französische Literatur- und Kulturstudien an der TU Dresden, in der zweiten Veranstaltung der Reihe „Zwischen Drinnen und Draußen. Flucht und Migration als europäische Herausforderung“. Unter dem Titel „Zwischen Geschichte und Gegenwart“ stellten am Montag, den 14. Dezember 2015, vier Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen polnische, französische, italienische und deutsche Perspektiven auf die Migration in und aus Europa dar. Dies förderte Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten zutage.
Neben Prof. Böhm waren Dr. Dorota Kołodziejczyk von der Universität Wrocław, Dr. Cécile Kovacshazy von der Universität Limoges sowie Prof. Elisabeth Tiller, Professorin für italienische Literatur- und Kulturstudien an der TU Dresden, geladen. Moderiert wurde die vom Büro für Internationales des Bereichs Geistes- und Sozialwissenschaften organisierte Diskussion von Prof. Christian Prunitsch, Professor für polnische Literatur- und Kulturstudien an der TU Dresden.
Alle Referentinnen betonten die lange Geschichte von Migrationsbewegungen in den jeweiligen Ländern. „Frankreich existiert seit 1000 Jahren und immer hat es Migration gegeben“, so Cécile Kovacshazy. „Charles Aznavour, Serge Gainsbourg, Marie Curie, Zinédine Zidane – diese ‚typischen‘ Franzosen sind alle Migranten!“ Für Italien und Deutschland, die erst in den letzten 50 Jahren von klassischen Auswanderungs- zu Einwanderungsländern geworden sind, worauf Elisabeth Tiller und Roswitha Böhm hinwiesen, hätte man ähnliche Beispiele nennen können. Polen sticht aus dieser Reihe heraus, überwiegt dort doch trotz steigender Einwanderungszahlen, vor allem aus der Ukraine, bis heute die Emigration. Sei es in Form des polnischen Klempners, mediales Schreckgespenst vor allem in französischen Medien nach dem polnischen EU-Beitritt 2004, oder als qualifizierten IT-Wanderarbeiter, den polnische Regierungen als Gegenbild zu etablieren versuchten. Aber vor allem über das Bild des politischen Emigranten ist Migration fester Bestandteil der polnischen Kultur.
Und auch wenn die genannten Länder unterschiedlich davon betroffen sind, ähneln sich die aktuellen Debatten um steigende Flüchtlingszahlen. Die ablehnende Haltung der neuen polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, die Dorota Kołodziejczyk anhand von Zitaten drastisch vor Augen führte, unterscheidet sich in Inhalt und Rhetorik nur wenig von Positionen des französischen Front National, der im Laufe der letzten 25 Jahre zu einer „LePenisierung“ der französischen politischen Landschaft geführt habe, wie Cécile Kovacshazy ausführte. Auch in Italien, das sich, so Elisabeth Tiller, bereits seit 2011 mit steigenden Flüchtlingszahlen konfrontiert sieht, macht mit der Lega Nord eine Partei Stimmung gegen Migrantinnen und Migranten. Und in Deutschland stehen den zahlreichen Willkommensinitiativen massiv steigende Übergriffe auf Flüchtlinge bzw. deren Unterkünfte gegenüber, worauf Roswitha Böhm hinwies.
Angesichts der Brisanz dieser Debatten blieb für einen Blick auf die literarische Verarbeitung von Migration und Flucht am Ende wenig Zeit. Interessierte erhalten dazu allerdings im November 2016 ausführlicher Gelegenheit: Unter der Federführung der Professuren für italienische und französische Literatur- und Kulturstudien ist eine Tagung zu Migration und Medialisierung in Planung, wiederum in Kooperation mit den strategischen Partnerhochschulen des Bereichs Geistes- und Sozialwissenschaften, Wrocław und Trento.