Teilprojekt A2 des SFB 804 (2009-2014)
MAHL UND KANON. GEMEINSCHAFTSBILDUNG IM FRÜHEN CHRISTENTUM
Das Teilprojekt untersucht die Entstehung des frühen Christentums in den ersten zwei Jahrhunderten unter folgender Fragestellung: Welche Potentiale an Gemeinsinn konnte dieser Prozess der sozialen und religiösen Identitätsbildung mobilisieren und durch welche Transzendierungen wurden sie begründet? Die Untersuchung wird sich sowohl auf das Ordnungsgefüge einzelner Gemeinden als auch auf den Anspruch einer überregionalen christlichen Einheit erstrecken. So kommen die gemeinsinnsstiftenden Institutionen von den frühesten Anfängen bis zur Entstehung der katholischen Kirche in den Blick: Das gemeinsame Mahl und der neutestamentliche Kanon.
Die Entstehung des frühen Christentums in den ersten beiden Jahrhunderten war ein hochkomplexer Vorgang, bei dem sich soziale Ordnungsgefüge bildeten und konsolidierten. In diesem Prozess entstand ein distinkter christlicher Gemeinsinn, der seinen sichtbaren Ausdruck darin fand, dass die Gemeinden gemeinsame Rituale entwickelten und einen gemeinsamen religiösen Überlieferungsbestand etablierten. So bildete sich eine soziale und religiöse Gruppenidentität heraus, in dem Einzelne einen Sinn für das Gemeinsame entwickelten, der stärker war als ihre eigensinnigen Prägungen durch religiöse und soziale Herkunft. Das Teilprojekt untersucht die beiden entscheidenden Institutionen, die für die Abgrenzung und Binnendifferenzierung der Gemeinden bestimmend waren – und somit diesen einheitsstiftenden Gemeinsinn zum Ausdruck brachten. Dabei fragt das Projekt auch nach den wichtigsten Konzeptualisierungen der dabei wirksamen Transzendenzbezüge.
Zentral ist – zunächst mit Blick auf die konkrete Einzelgemeinde – das gemeinsame Mahl, das die soziale Definition der Gruppe und ihre gemeinsame religiöse Überzeugung in der liturgischen Ritualisierung zum Ausdruck bringt. Dabei untersucht das Teilprojekt die Verschränkungen von Gemeinsinns- und Transzendenzbehauptungen im Rahmen der frühchristlichen Mahltheologie. Diese kommen einerseits in der Vorstellung eines eschatologischen Mahls zum Ausdruck und werden andererseits in den zentralen neutestamentlichen Deutungen, vor allem in den sog. „Einsetzungsberichten“ zum letzten Mahl Jesu, veranschaulicht. Dabei ist die frühchristliche Eucharistie als Teil der hellenistisch-römischen Mahlkultur zu verstehen, in der das gemeinsame Gelage für alle Sekundärgruppen die einzige Möglichkeit bot, Gemeinschaft zu erfahren und die gemeinsame Gruppenidentität darzustellen. Diese sozialgeschichtliche Erkenntnis ist relativ neu. Es gilt, sie im Rahmen des SFB-Projekts mit Blick auf die christliche Mahlpraxis und -theologie weiter zu explizieren.
Mit Blick auf das weitere Ordnungsgefüge eines überregionalen gesamtchristlichen Gemeinsinns ist primär der Kanon des Neuen Testaments aufschlussreich. In besonderer Weise repräsentiert er die Einheit und Gemeinsamkeit der christlichen Überlieferung. Das kanonische Grundproblem der Verhältnisbestimmung von „Einheit und Vielfalt“ markiert dabei einerseits die Abgrenzung von „devianten“, also nicht durch das Neue Testament repräsentierten, Christentümern, andererseits aber die vereinheitlichende Binnendifferenzierung, die sich aus der Integration verschiedener Traditionslinien ergibt. Dabei dient als heuristische Grundannahme die von David Trobisch aufgestellte These der Endredaktion des Neuen Testaments: Die Zusammenstellung der 27 neutestamentlichen Schriften ist demnach nicht das Ergebnis eines anonymen Sammlungs- und Ausscheidungsprozesses, der sich bis ins 4. Jh. erstreckte. Vielmehr geht sie auf die Veröffentlichung durch einen Herausgeberkreis in der Mitte des 2. Jh. zurück. Untersucht werden die Identitätsstrategien dieser Ausgabe, durch die ein transzendenter Gemeinsinn konstituiert wird. Diese Strategien ergeben sich einerseits aus dem Gegenüber der Kanonischen zur marcionitischen Bibelausgabe, andererseits aus der kanonischen Konzeptualisierung von „Apostolizität“ als Ausgleich (regional) unterschiedlicher Geltungsansprüche.
In diesen beiden – auf vielfältige Weise miteinander verbundenen – Untersuchungsfeldern des Gemeinschaftsmahls und des neutestamentlichen Kanons soll jeweils die Verschränkung des behaupteten Gemeinsinns und der sie begründenden Transzendierungen analysiert und beschrieben werden.
TEILPROJEKTLEITER
Prof. Dr. Matthias Klinghardt
MITARBEITER|IN
Oliver John
Nathanael Lüke
Adriana Zimmermann, M.A.