Nov 10, 2025
Krieg und Gewalt in deutsch-französischer Perspektive: Exkursionsseminar SoSe 2025
„Erbfeindschaft“ und deutsch-französische Freundschaft: kaum zwei Narrative prägen den (Erinnerungs-)Diskurs um die Geschichte der beiden Nachbarstaaten deutlicher. Diesen Großerzählungen und deren kritischen Wendung widmeten Martin Reimer und Mathias Herrmann im Wintersemester 2025/26 eine Lehrveranstaltung mit dem Titel „‚Krieg & Gewalt in deutsch-französischer Perspektive‘ - Museen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg im Blick“. Den Höhepunkt dieser Veranstaltung stellte eine mehrtägige Exkursion an zentrale Orte deutsch-französischer Geschichte dar, deren Fokus die museale Aufbereitung als Form der Gedenk- und Erinnerungskultur in transnationaler und verflechtungsgeschichtlicher Perspektive darstellte.
In einer einführenden Blockveranstaltung ließ Mathias Herrmann die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen Revue passieren. Anschließend gaben die Studierenden, moderiert von Martin Reimer, einen Überblick über den Ersten und Zweiten Weltkrieg in der deutschen sowie französischen Erinnerungskultur und die Auseinandersetzung im Geschichtsunterricht im transnationalen Vergleich.
Vom 8.–12. September fand eine Exkursion statt, die über Verdun nach Paris und schließlich – in gleichsam gegenläufiger Chronologie – nach Gravelotte führte. Die Studierenden stellten die dabei besuchten Museen und Gedenkstätten in Impulsvorträgen vor. Anschließend wurden die Ausstellungsräume besichtigt und die Bildungs- und Vermittlungskonzepte mithilfe vorbereiteter Analysebögen reflektiert.
Am ersten Exkursionstag erreichte die Gruppe nach mehrstündiger Fahrt den ersten, nicht nur durch seine landschaftliche Einbettung beeindruckenden Ort deutsch-französischer Konfliktgeschichte. Das Musée du Mémorial de Verdun wurde 1951 am Schauplatz des gleichnamigen Stellungskrieges errichtet und nach einer zweijährigen Renovierungsphase zum 100. Jahrestag der Schlacht um Verdun am 22. Februar 2016 in umfassend überarbeiteter Konzeption wiedereröffnet. Diese zeigt auf drei Geschossen eine thematisch strukturierte Ausstellung, die sich durch eine Vielfalt an Quellengattungen, multimedialer sowie interaktiver Konzepte und einer durchgängig mehrsprachigen Kommentierung auszeichnet. Das Museum schafft hierdurch eine immersive Erfahrung, die in der Gestaltung des immer wieder transparenten und einem Schlachtfeld nachempfundenen Bodens besonders deutlich wird, welcher Museumsgebäude und historischen Ort ineinandergreifen lässt.
Die Fahrt am folgenden Tag führte ins Musée de l’Armistice nach Compiègne, dessen erinnerungskulturelle Wurzeln bis 1922 zurückreichen. Zunächst als Gedenkstätte für die am 11. November 1918 unterzeichnete Waffenstillstandsvereinbarung und dem damit zusammenhängenden Sieg über Deutschland entworfen und erbaut, unterlag der Ort durch den am 22. Juni 1940 zwischen Adolf Hitler und Phillipe Pétain vereinbarten Waffenstillstand einem Bedeutungswandel. Der damit in doppelter Hinsicht symbolisch konnotierte Eisenbahnwaggon, in welchem beide Waffenstillstandserklärungen unterzeichnet wurden, bildet nunmehr in rekonstruierter Form den Mittelpunkt einer chronologisch angeordneten Ausstellung.
Diese wurde 2018 umfassend überarbeitet, wobei auch dem Platz vor dem Museum im Rahmen einer Feierlichkeit ein weiteres Element hinzugefügt wurde: eine Tafel, auf der die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Ministerpräsident Emmanuel Macron die Verbundenheit beider Länder bekräftigten und damit dem Ort eine weitere Bedeutungsebene zukommen ließen. Sinnbild dieser, sich durch die Zeit wandelnden und parallel verlaufenden Narrative der Erinnerung sind Schienen, die über den Platz mit den verschiedensten Ausdrucksformen des Gedenkens laufend, scheinbar ununterbrochen fortgesetzt unter den Mauern des Gebäudes hindurch bis ins Museum und zum Eisenbahnwaggon führen.
Die nächste Station stellte das 2012 eröffnete Mémorial de la Shoa in Drancy dar. Dieses wurde gegenüber eines seit 1942 zur Internierung von französischen Jüd*innen genutzten Gebäudekomplexes errichtet, welcher heute als Wohnraum genutzt kaum als ehemaliges Lager wiederzuerkennen ist. Bemerkenswert ist, dass zwar ein am Eingang des Komplexes platzierter Eisenbahnwaggon sowie eine Statue auf die Verbrechen verweisen, jedoch keine materiellen Formen des Gedenkens und der Erinnerung an oder im Wohnkomplex zu finden sind. Das durch seine hohe Glasfassade imposant wirkende Gebäude der Gedenkstätte stellt durch die Blickachse von der Fensterfront hin zum ehemaligen Internierungslager jedoch eine umso deutlichere Verbindung zwischen den gezielt ausgewählten und vorgestellten Schicksalen und dem Ort des Geschehens her. Auf mehreren Ebenen finden sich thematisch strukturierte Ausstellungsräume, in denen die Texte rahmend hinter den häufig nur auf Französisch dargebotenen Zeitzeugnissen präsentiert werden. Auch Lernräume für Workshops und Weiterbildungen sowie wechselnde Sonderausstellungen finden hier ihren Platz.
Am dritten Tag der Exkursion erhielt die Seminargruppe einen eindrucksvollen Einblick in ein weiteres, zentral in Paris gelegenes Mémorial de la Shoa. Dieses wurde im Jahr 2007, im Unterschied zu den bisher besuchten Gedenkstätten nicht an einem historischen Schauplatz, sondern aus pragmatischen-baulichen Gründen im 4. Pariser Arrondissement errichtet. Stetig ergänzte Gedenkwände im Hof des Gebäudes bilden die Namen der Opfer der Shoa ab. Durch die Art und Weise der Darstellung wird den Besucher*innen eindrücklich die hohe Zahl der Leidtragenden vor Augen geführt. Auch in einer im unterirdischen Teil der Gedenkstätte gelegenen Krypta wird ihnen gedacht. In weiteren Teilen des Gebäudes befindet sich ein Museum, das die Geschichte der Judenverfolgung in Frankreich mithilfe zweier, die Ausstellung strukturierenden Zeitlinien einem globalen Kontext gegenüberstellt. Dabei dominieren eine Vielzahl von Quellen und Texten den Raum, die einen Einblick in die Ursprünge und Kontinuitäten von Antijudaismus und Antisemitismus geben. Die Namen der verfolgten und ermordeten Jüd*innen werden zudem im Rahmen eines sich ständig erweiternden Fotoprojektes durch Bilder der Opfer ergänzt. Diese Forschung, welche ständig neue Namen und Bilder hervorbringt, macht deutlich, dass der Prozess der Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen ist.
Zeitlich mehrere Schritte zurückgehend, besuchte die Exkursionsgruppe am Nachmittag das Musée de la Grande Guerre in Meaux. Es gilt als das größte Museum zum Ersten Weltkrieg in Europa und wurde im Jahr 2011 am Ort der Marneschlacht, dem weitesten Vordringen deutscher Truppen in französisches Gebiet, eröffnet. Auch das Musée de la Grande Guerre verknüpft Standort und Museum durch Blickachsen und thematische Bezüge.
Den Ausstellungsbeginn stellt eine Video-Surround-Installation dar, welche die Besucher*innen auf eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert schickt, um die Ursprünge des Konfliktes zu erforschen. Sie reproduziert durch ihre konträre Farbgebung der deutschen wie französischen Perspektive und stark komplexitätsreduzierte Darstellungstexte jedoch ein längst überholtes Erbfeindschaftsnarrativ, welches Deutschland und Frankreich als unversöhnlich gegenüberstellt und den Krieg als deterministisch vorgeprägtes Ende einer konfliktbeladenen Geschichte schreibt.
Die umfangreichen und interessanten Quellenbestände, die in dem großen, jedoch unübersichtlich strukturierten Gebäude ausgestellt sind, entfalten durch die teilweise absurden Übersetzungen der Kontexttexte ins Deutsche eher einen unterhaltenden als einen bildenden Effekt. Der Unterhaltung dienen auch thematisch passende Kinderkostüme und eine Spielecke im Grabenstil, bei der die Kleinsten – als Soldat verkleidet – auf umgedrehten Holzkisten und beim Licht der Grubenlampe Ausmalbilder stolzer Soldaten kolorieren können. Passende Gewehre im Museumsshop runden das Bild eines Museums ab, dass statt didaktisch reduzierter Vermittlung eher eine Eventisierung des Krieges vorantreibt.
Mit dem Musée de l’Armée begab sich die Seminargruppe am vierten Tag in das historisch älteste Museum der Exkursion. In den 1676 von Ludwig dem XIV. errichteten Gebäudekomplex des Hôtel des Invalides zogen zunächst das 1795 gegründete Artilleriemuseum und anschließend das 1897 gegründete Historische Armeemuseum ein, welche 1905 zum Armeemuseum fusionierten. Dieses zeigt heute in zahlreichen, weitläufigen Räumen Bestände aus über 500.000 Objekten vom Mittelalter bis in die Moderne, von denen im Rahmen der Exkursion nur der Bereich des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie das Historial Charles-de-Gaulles besichtigt werden konnten. Die Ausstellung folgt dabei einem klassisch-konservativen Stil, der sich streng an der Chronologie der Ereignisse orientiert. Sorgfältig ausgewählte Objekte gewähren vor allem einen militärisch-operativen Blick auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Aufgebrochen wurde dieser durch die Darstellung der Widerstandsbewegung, die mit persönlicheren Ausstellungsstücken einzelne Schicksale erzählt.
Das im Untergeschoss liegende Historial Charles-de-Gaulle widmet sich in einer audiovisuellen Ausstellung dem Leben des Nationalhelden. In einem von einem Rundgang umschlossenen Kinosaal wird ein Film präsentiert, der sich mit dem Leben Charles de Gaulles auseinandersetzt. Hierfür wurden historisches Film- und Videomaterial in einer bildgewaltigen Collage zusammengestellt, deren Dramatik durch einen über Audioguide übertragenen Sprechertext und Musik unterstrichen wird. Kritische Aspekte zu de Gaulles Leben und Wirken sucht man hier jedoch vergebens.
Eine differenzierte Auseinandersetzung mit de Gaulle wie auch anderen Widerstandskämpfer*innen konnte im Musée de la Libération in Paris beobachtet werden.
Dieses wurde anlässlich des 75. Befreiungstages von Paris am 25. August 2019 eröffnet und befindet sich über der ehemaligen Kommandozentrale von Colonel Rol-Tanguy, Chef der französischen Streitkräfte des Innern. Auf drei Stockwerken erzählt es zunächst die Geschichte eines heterogenen Widerstandes und stellt dabei verschiedene Stimmen und Akteure gegenüber. Schicksale einzelner Widerstandskämpfer*innen werden aufgegriffen und durch Zeitzeugenberichte und ausgewählte Ausstellungsstücke unterstützt. Eine Installation aus Spiegeln und Videomaterial, das den Jubel bei der Befreiung von Paris auf der einen und die Selbstjustiz an wirklichen und vermeintlichen Kollaborateuren auf der anderen Seite zeigt, regt zur Reflexion des in der Ausstellung präsentierten Narrativs und der eigenen Positionierung an.
Am letzten Tag fand die Exkursion mit dem Musée de la Guerre de 1870 in Gravelotte einen gelungenen Abschluss. Es wurde 1958 als das einzige auf den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 spezialisierte europäische Museum nahe dem Ort der Schlacht bei Gravelotte errichtet und nach einer umfassenden Sanierung 2014 neu eröffnet. In einer thematisch strukturierten und farblich akzentuierten Ausstellung werden vielfältige Quellen kontextualisiert und präsentiert, die sich zahlreichen Aspekten des Krieges widmen. Bemerkenswert ist das, aus Ausschnitten von Egodokumenten zusammengesetzte Band, welches sich durch Teile der Ausstellungsräume zieht und so die Aufmerksamkeit auf die Menschen hinter den Zahlen und militärischen Operationen lenkt. Als einziges der besichtigten Museen macht dieses zudem die Forschungsdiskurse transparent, auf welche sich die Ausstellungsinhalte beziehen. Im letzten Bereich wurde das Erinnern selbst in den Fokus der Ausstellung gerückt. Die Ausstellung wurde hier als eine ausgewählte Erzählung von vielen Möglichen kontextualisiert.
Um auch ein museales Beispiel aus dem nationalen Raum zu thematisieren, findet im Nachgang zur Exkursion ein Besuch des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden statt. Dies ermöglicht es, französische und deutsche Ausstellungskonzepte gegenüberzustellen und auf die unterschiedliche Akzentuierung einzugehen. Im Zusammenhang damit steht schließlich auch eine Abschlussdiskussion, in der die Eindrücke der Exkursion zusammengefasst und mit ausreichend Abstand reflektiert werden können.