Kosmopolitismus im (post-)imperialen Raum. Deutschsprachige Netzwerke des östlichen Europa (ca.1850-1950)
Internationale Konferenz der BKM-Juniorprofessur Soziale und ökonomische Netzwerke der Deutschen im östlichen Europa im 19. und 20. Jahrhundert, 18.-20. Juli 2018.
Mehrsprachigkeit und Multiethnizität prägten das östliche Europa und die staatliche Ordnung der Region. Die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bestehenden Imperien hierarchisierten die auf ihrem Territorium präsenten Ethnien und Sprachen. Sie bemühten sich Macht zu zentralisieren und banden zugleich sozial und ethnisch heterogene Eliten in die Organisation ihrer Herrschaft ein.[1] Nach dem Zerfall der Kaiserreiche versuchten die selbst ernannten Nationalstaaten - und weit radikaler die Sowjetunion - Eliten- und Besitzstrukturen umzugestalten und das wirtschaftliche und öffentliche Leben nach den neuen Zentren auszurichten. Im Zweiten Weltkrieg zerschlugen die totalitären Regime in Berlin und Moskau die jungen Staaten. Entrechtung, Zwangsumsiedlung und Ermordung von Bevölkerungsgruppen nach ethnischen Kriterien prägten die Herrschaft der Achse über das östliche Europa, die bewusst lokale Bevölkerungsgruppen in Raub und Umverteilung einband. Nach dem Zusammenbruch von Hitlers Imperium und der Unterwerfung weiter Teile der Region unter Stalins Machtbereich begann ein neues Kapitel nationaler Staatlichkeit in imperialen Strukturen. In weiten Teilen des östlichen Europa schienen sprachliche und ethnische Vielfalt am Ende.
Deutsche und deutschsprachige Akteure und Gruppen waren in besonderer und sehr unterschiedlicher Weise von diesen Entwicklungen betroffen bzw. gestalteten sie aktiv mit. In den Statusverschiebungen und sich wandelnden Zuschreibungen der deutschen Sprache und sich verändernden Handlungsoptionen deutschsprachiger Akteure und Gruppen erschließt sich die Geschichte des östlichen Europas in ihrer Verflechtung mit deutschem Nationalismus und Imperialismus.
Kosmopolitische Netzwerke in ihrer sich wandelnden Zusammensetzung und Reichweite bieten einen sowohl einzelne Staaten als auch die Zäsuren übergreifenden Zugang zum Wandel der imperialen, postimperialen und von den Weltkriegen geprägten Lebenswelten im östlichen Europa.[2] Insbesondere der Blick auf deutschsprachigen Adel und deutschsprachiges Judentum verspricht neue Perspektiven.
Anders als statischere Modelle von Gruppe oder Nation betont die strukturelle und phänomenlogische Netzwerktheorie[3] die Dynamik und Offenheit von Vergemeinschaftung und deckt die mehrfache Einbindung von Individuen in unterschiedliche soziale, ökonomische und politische Kontexte auf. Zugleich kommunizieren Netzwerke immer auch Werte und Vorstellungen vom Eigenen und haben die Tendenz zur Abgrenzung nach außen. Aus den Veränderungen deutschsprachiger Netzwerke lassen sich so die Verschiebungen von Kriterien der Zugehörigkeit und damit verbundene Statusveränderungen sowie der Bedeutung von Nationalismus im Alltag nachverfolgen. Gerade kosmopolitische, geographisch weitreichende Netzwerke bilden kulturellen, ökonomischen und sozialen Wandel sowie soziale und räumliche Mobilität in Abhängigkeit von Sprache und ihrer Verknüpfung mit ethnischer Zuordnung und politischer Loyalität ab.
Folgende Fragen sollen unter anderem während der Konferenz diskutiert werden:
Wo und wann war die Nutzung der deutschen Sprache ein Instrument des Aufstiegs und der Einbindung in internationale Netzwerke? Wie verhielten sich die Ränder der Netzwerke zu den Grenzen der Imperien bzw. der späteren Nationalstaaten? Wann wurden grenzübergreifende Interaktionen problematisch oder besonders bedeutsam? In wie weit wirkten sich Zuschreibungen zur deutschen Nation und ein zunehmend ausgrenzender deutscher Nationalismus auf die Einbindung in deutschsprachige Netzwerke aus? Wie beobachteten (und unterliefen) kosmopolitische Netzwerke eine sich nationalisierende Welt? In wie fern schufen Netzwerke alternative Welten? Wie reagierten Netzwerke auf die Ideen einer „deutschen Mission“ im Osten und wie agierten sie während der Besatzungen in den Weltkriegen?
Willkommen sind Beiträge zu den unterschiedlichsten Netzwerkformen, die wesentlich (auch) auf deutsch kommunizierten und Aufschluss über den Einfluss imperialer und nationalstaatlicher Politik auf das multiethnische Zusammenleben liefern. Vor allem überregionale und internationale familiäre, ökonomische, ständische, professionelle, religiöse, akademische, politische, militärische und künstlerisch geprägte Austauschbeziehungen sind von Interesse.
1. Charles S. Maier, Among Empires: America’s Ascendancy and its Predecessors, Cambridge 2006, S. 31.
2. Siehe zum deutschsprachigen Judentum hierzu Cathy Gilber und Sander Gilman, Cosmopolitanisms and the Jews, Ann Arbor 2017.
3. Jan Fuhse, Gibt es eine Phänomenologische Netzwerktheorie? Geschichte, Netzwerk und Identität, in: Soziale Welt, 59/1 (2008), S. 31-52.