09.12.2024
Bericht zum Fachgespräch Geschlechterforschung in Sachsen
Am 8.11.2024 fand das Fachgespräch zur „Geschlechterforschung in Sachsen – Vernetzungstreffen zu Perspektiven nach 2024“ im Rektoratssaal der TU Dresden statt. Die 50 Plätze waren voll besetzt mit Teilnehmer:innen aus der Geschlechterforschung, der universitären und landespolitischen Gleichstellung, der Hochschul- und Wissenschaftspolitik, die aus ganz Sachsen der Einladung des Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa, Gleichstellung und der GenderConceptGroup der TU Dresden als gastgebende Hochschule folgten. Der Impuls zu dieser Veranstaltung ging von den im Juli 2023 veröffentlichten Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung aus, die das Sächsische Gleichstellungsministerium zum Anlass nahm, die GenderConceptGroup als Partnerin für ein Fachgespräch zu gewinnen. Die diesen Empfehlungen zugrundeliegende Bestandaufnahme zeichnet ein düsteres Bild für die sächsische Geschlechterforschung. In Sachsen gibt es neben dem wesentlich kleineren Saarland keine Professuren mit Gender-Denomination, keine Zertifikate und Studiengänge, kein Zentrum für Geschlechterstudien, geschweige denn ein landesweites, hochschulübergreifendes Netzwerk für Geschlechterforschung, deren Bedeutung als Anlaufstellen für Akteur:innen aus Wissenschaft, Forschung, Gesellschaft und Politik belegt sind. Im Vergleich zu anderen Bundesländern mangelt es in Sachsen somit massiv an verlässlichen Strukturen, um Perspektiven der Geschlechterforschung in der Forschung und Entwicklung als auch im Lehrangebot nachhaltig zu verankern. Da nationale, europäische und internationale Förderungsinstitutionen und -programme als auch renommierte Wissenschaftsmagazine Geschlechter- und Vielfaltsaspekte zunehmend zu grundlegenden Standards für Forschungsvorhaben und Veröffentlichungen erklären, legen diese Versäumnisse eine Schwächung des Wissenschaftsstandorts Sachsen in ökonomischer, epistemisch-qualitativer und gesellschaftlicher Hinsicht nahe. Zusätzlich ist die mangelnde strukturelle Verankerung vor dem Hintergrund der zu erwartenden landespolitischen Veränderungen und eines zunehmend rechtskonservativen Klimas, das sich bereits im Verbot des Genderns in der Schriftsprache zeigt, als äußerst prekär und riskant einzustufen. Elf Hochschulen genießen darüber hinaus eine Strukturförderung der Geschlechterforschung, darunter zwei ostdeutsche Hochschulen, durch das vom BMBF ausgeschriebene Programm „Geschlechteraspekte im Blick“, die die Kluft Sachsens zu Entwicklungen in anderen Bundesländern weiter zu verschärfen droht.
Mit dem Fachgespräch wurde nun ein erster sachsenweiter Austausch zwischen Geschlechterforscher:innen aus allen Landesteilen mit hochschul-, gleichstellungs- und landespolitischen Akteur:innen ermöglicht, um Lücken, Perspektiven und Bedarfe zu identifizieren, Forderungen zu formulieren und Handlungsmöglichkeiten zu diskutieren, wie sie sich aus den unterschiedlichen Bedingungen, Standorten und Einflusspositionen der Teilnehmer:innen ergaben.
Die Veranstaltung wurde mit Grußworten der Prof.in Dr.in Roswitha Böhm, Prorektorin der TU Dresden, eröffnet. Sie hob die Innovationskraft dieses Forschungsfeldes hervor, verwies auf wichtige Beiträge der GenderConceptGroup, die bereits in die Lehre, Forschung und hochschulstrategische Entwicklung der TU Dresden eingeflossen sind und unterstrich die Bedeutung der Geschlechterforschung im Zusammenhang mit einer weltoffenen, demokratischen Hochschule, aus der auch eine Fürsorgepflicht gegenüber den von Anfeindungen betroffenen Forscher:innen in diesem Feld resultiert. Daran anschließend unterstrich Dr.in Gesine Märtens, Staatssekretärin des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz und für Demokratie, Europa, Gleichstellung die große Bedeutung solcher Veranstaltungen, nicht nur wegen des fachlichen Austausches, sondern vor allem wegen des solidarischen Zusammenschlusses in Zeiten, in denen sich patriarchale Antworten auf aktuelle Verunsicherungen durch Klimakrisen, Kriege und ökonomische Instabilitäten wieder durchsetzen und die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte von Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung zurückdrängen.
Romina Stawowy, Gründerin der femMIT-Initiative und Verlegerin des gleichnamigen Magazins, führte durch die Veranstaltung. Sie erzeugte mit ihren Impulsen zum Stellungbeziehen, Einmischen und Vernetzen eine Atmosphäre, die den bedrückenden Entwicklungen eine konstruktive Leichtigkeit des (Weiter-)Machens entgegensetzte.
Im ersten Teil der Veranstaltung ging es um eine Standortbestimmung der Geschlechterforschung im Freistaat Sachsen. Dazu gaben Prof.in Dr.in Maria Häusl, Professorin für Biblische Theologie und Mitbegründerin der GenderConceptGroup, und Dr.in phil. Sandra Buchmüller, Gastwissenschaftlerin für feministische Technikforschung an der Professur für Thermodynamik, TU Dresden, einen Überblick, der die Lage in Sachsen im Vergleich zu Entwicklungen in anderen Bundesländern aufzeigte und am Beispiel der eigenen Hochschule aktuelle Bedarfe und Defizite der Geschlechterforschung benannte, die als Bezugs- und Diskussionspunkte zum nächsten Programmpunkt überleiteten.
Im moderierten Gespräch berichteten Prof.in Dr.in Edeltraud Günther, Direktorin der UNU-FLORES Dresden, Dr.in Katja Kanzler, Professorin für Amerikanische Literaturwissenschaft, Universität Leipzig, Dr.in Heike Kahlert, Professorin für Soziologie/Soziale Ungleichheit und Geschlecht an der Ruhr-Universität Bochum und Dr.in Monique Ritter, Vertretung der Professur für Gender, Diversität und der Sozialen Arbeit der Hochschule Zittau/Görlitz über ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen aus ihren Disziplinen und Hochschulkontexten. Angeregt durch die Moderation wurde eine Diskussion um Haltung angestoßen, aus der hervorging, dass es einer klaren Positionierung von Seiten der Hochschule und der Landespolitik bedarf, die die Geschlechterforschung über Lippenbekenntnisse hinaus fördert und ausstattet. Frau Prof.in Dr.in Heike Kahlert machte am Beispiel der Entwicklung der Geschlechterforschung in Nordrhein-Westfalen - eines der in diesem Feld am stärksten aufgestellten Bundesländer – auf das Zusammenwirken einer starken Frauenbewegung an den Hochschulen und der Landesregierung aufmerksam, die seit den 1980er Jahren eine bis heute fortgeschriebene belastbare vertragliche und finanzielle Grundsicherung dieses Forschungsfeldes gewährleistet. Ein anderes Beispiel ist das von Frau Prof.in Dr.in Günther vertretene, aus Bundes- und Landesmitteln finanzierte internationale Forschungsinstitut der Vereinten Nationen, UNU-Flores, in Dresden. Entsprechend der gelebten Vielfalt in einem Team aus mehr als 19 Nationen gehören Geschlechter- und Vielfaltsaspekte zur „DNA der Forschungsstrategie“. Seit 2019 gibt es dort dazu Pflichtschulungen für Mitarbeiter:innen aller Statusgruppen, einschließlich der Leitungsebene, die alle drei Jahre wiederholt werden. Dem gegenüber berichtete Frau Prof.in Dr.in Katja Kanzler von dem frustrierenden Niedergang des interdisziplinären Gender Zentrum FRAGES an der Universität Leipzig, das trotz einer großen Mitgliedschaft unter den Studierenden als auch eines fertig vorliegenden Konzepts zur Einführung eines Gender-Zertifikats nicht institutionell fortgeschrieben wurde. Selbst im Bereich der sozialen Arbeit, so verdeutlichte Prof.in Dr.in Monique Ritter, sieht man sich als Geschlechterforscherin häufig mit Ideologievorwürfen konfrontiert, die neben prekären Arbeitsverhältnissen Kooperationen in der eigenen Disziplin als auch darüber hinaus erschweren. Am Beispiel der Ingenieurwissenschaften erklärte Dr.in Sandra Buchmüller die Ablehnung der Geschlechterforschung aus der fachkulturellen Prägung heraus, die aufgrund ihrer technisch-ökonomischen und angewandten Ausrichtung Selbst- und Gesellschaftsreflexionen als außerhalb ihres Fachgebiets liegend begreifen.
Im zweiten Teil der Veranstaltung wurden alle Teilnehmenden in Form von Arbeitsgruppen in die Diskussion mit einbezogen. Eine Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit den Voraussetzungen und Visionen der Geschlechterforschung an unterschiedlichen (sächsischen) Hochschulen, um daraus Bedarfe und Anforderungen an zukünftige Entwicklungen und Veränderungen abzuleiten. Eine andere griff die Kernidee der Veranstaltung auf und diskutierte Möglichkeiten und Potentiale eines sachsenweiten Netzwerkes der Geschlechterforschung. Eine dritte sondierte und formulierte Wünsche, Anforderungen und Unterstützungsbedarfe an die (Hochschul-, Wissenschafts-, Landes-)Politik und die vierte Arbeitsgruppe setze sich mit Geschlechterforschung im Spannungsfeld aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen auseinander, in der Forschende eigene Erfahrungen mit Anfeindungen thematisierten und Wünsche und Bedarfe an Schutzmaßnahmen formulierten. Die Ergebnisse werden derzeit für eine Veröffentlichung aufbereitet.
Insgesamt hat die Veranstaltung dazu beigetragen, die Geschlechterforschung an verschiedenen hochschulischen und außerhochschulischen Standorten in Sachsen näher an die landespolitischen Akteur:innen heranzutragen und damit wechselseitige Kommunikations-, Informations- und Verständnisdefizite aufzudecken und zu bearbeiten. Sie zeigte auch, wie dringlich der Bedarf an Vernetzung und Austausch zwischen wissenschaftlichen, gleichstellungs-, hochschul- und wissenschaftspolitischen Akteur:innen ist, der am Ende des Tages vor allem als rückenstärkend wahrgenommen wurde. Nun gilt es, die konstruktiven Impulse in landesweite Arbeitsstrukturen zu überführen, um die Erkenntnisse und Arbeitsergebnisse dieses Tages in ein tragfähiges Fundament für den Erhalt, die Stärkung und Fortentwicklung der Geschlechterforschung einfließen zu lassen.