Dec 15, 2021; Colloquium
„Testimonialität und ihre Pathologien“ Institutskolloquium im WS2021/22"Epistemisches Vertrauen und Autonomie: Konflikt oder Bündnis?" Federica Malfatti im Institutskolloquium
Beginn: 18:30 Uhr Ort: Zoom-Meeting ID: 815 3530 7434 Kenncode: kL5eZ%0c
Abstract:
Adäquates epistemisches Vertrauen gehört zum Fundament einer gut funktionierenden epistemischen Gemeinschaft, in der eine Verteilung der epistemischen Arbeit herrscht. Welche epistemischen Ziele werden aber auf subjektiver Ebene durch Vertrauen gefördert? Es ist in der Literatur unumstritten, dass adäquates epistemisches Vertrauen die Verbreitung und das subjektive Erlangen von Wissen und wahrer Überzeugung fördert oder zumindest fördern kann. Prima facie scheint allerdings epistemisches Vertrauen für andere epistemische Ziele weniger effektiv zu sein, oder sogar das Erlangen von anderen epistemischen Zielen zu gefährden. Denken wir z.B. an Verstehen und Autonomie. Entweder vertraue ich einer Sprecherin relativ zu p, oder ich setze meine eigenen kognitiven Fähigkeiten ein und versuche, p zu verstehen. Es scheint so, als ob ich nicht Beides tun kann. Und andererseits scheinen Vertrauen und Autonomie umgekehrt proportional zu sein: Je mehr man vertraut, desto weniger autonom man ist; und das perfekt autonome Subjekt braucht niemandem Vertrauen zu schenken, weil er/sie aus eigener Kraft in jedem Bereich alles wissen und verstehen kann. Ziel meines Vortrags ist es zu zeigen, dass der Konflikt zwischen Vertrauen und Verstehen einerseits, und der Konflikt zwischen Vertrauen und Autonomie andererseits, eigentlich nur scheinbar sind bzw. sich auflösen lassen. Erstens werde ich dafür argumentieren, dass Verstehen eine soziale Dimension hat bzw. haben kann, die der sozialen Dimension von Wissen sehr ähnlich ist. Verstehen lässt auch, genauso wie Wissen, eine Verteilung der epistemischen Arbeit zu. Wenn das so ist, dann hat Vertrauen nicht nur im Wissens-, sondern auch im Verstehens-Erwerb eine wichtige Rolle zu spielen. Zweitens werde ich dafür argumentieren, dass Autonomie (i) nicht gleich intellektuelle Selbstständigkeit ist und (ii) eher mit der reflektierten Gestaltung und erfolgreichen Entfaltung des eigenen noetischen Profils zu tun hat. Autonome Subjekte sind nicht diejenigen, die in jedem Bereich selbstständig denken und zu korrekten Ergebnissen aus eigener Kraft kommen können; autonome Subjekte sind eher diejenigen, die mehr Akteure als bloße Beobachter des eigenen epistemischen Lebens sind, und die meistens in effektiver Art und Weise mit ihrem (auch sozial-epistemischen) Umfeld umgehen können, so dass ihre epistemischen Ziele realisiert bzw. nicht frustriert werden. Eine solche Auffassung von Autonomie eröffnet den Weg zu einer Versöhnung des Vertrauens mit der Autonomie: Wir können autonom sein, in dem wir vertrauen schenken – angenommen, dass unser Vertrauen überlegt ist, sich auf vertrauenswürdige Akteure richtet, und zur Entfaltung unseres noetischen Profils beiträgt.